Auf seinem Weg durch den Dschungel kommt der namenlose Asket so richtig ins Schwitzen. Als er langsam seine letzten Luftreserven erschöpft, überlegt er sich, eine Pause einzulegen. Nach einem Fußmarsch von einigen Minuten lichtet sich der Wald und löst sich von seiner Baumdecke. Der Asket richtet seinen Blick nach oben und wandert von der einen Seite auf die andere, bis er kurz anhält, um auszumachen weshalb da ein größeres Stück fast ohne Bäume ist. Die restliche Lichtung ist von Palmen sowie anderen hohen Bäumen mit riesigen Blättern umrandet. Die baumleere Stelle könnte ein Abhang sein, vermutet er.
Der Asket ist beeindruckt, gleichzeitig wächst bei ihm das Misstrauen. Der Ort ist zu schön, um wahr zu sein. Irgendwo plätschert ein Bach. Allerdings hört er keine Vögel mehr singen und der Wind, der bei seiner Wanderung durch die Vegetation ging, verstummt fast unbemerkt. Da ist noch etwas Anderes, das er nicht benennen kann. Das beunruhigt ihn. Doch davon darf er sich auf gar keinen Fall aus der Ruhe bringen lassen. Der Weg war weit zudem hat er seit eine Weile nichts mehr getrunken. Also beschließt er sich im Schatten auszuruhen. Das geht am besten, wenn er ein bisschen meditiert und dabei seine Gedanken sortieren kann.
Die Suche nach einem kühlen Platz verläuft problemlos. Aus dem kleinen Bach schöpft er Wasser in seinen Mund, danach setzt er sich unter eine Palme. Für ein paar Atemübungen schließt er seine Augen, sucht seine innere Mitte, bevor er damit beginnt, sämtliche Eindrücke des Tages noch einmal hervorzurufen. Die einzelnen Gedanken dazu geht er durch, weist sie den Bildern zu, verarbeitet die Informationen für sich und versucht, die gemischten Gefühle zu ordnen. Es dauert ein wenig, bevor er sich konzentrieren kann. Zum Glück bewirkt die Meditation wahre Wunder. Der Asket kommt zu dem Schluss, keinen Nutzen mehr davon zu haben, sich von frischen Empfindungen durcheinanderbringen zu lassen, daher will er die Sache neutraler angehen. Er macht weitere Atemübungen. Als er fertig ist, erhebt er sich aus seiner Position. Dabei streckt er alle Glieder aus und verharrt jeweils einen Moment in der Stellung, die er einnimmt. Durch die Meditation gewinnt er die Klarheit zurück und kann sich Gedanken zur weiteren Tagesplanung machen. Von dem vielen Laufen durch den Urwald hat er erst einmal genug, er möchte lieber die Lichtung erkunden, um sich damit vertraut machen.
Da er keinen Pfad findet, den er entlanggehen kann, folgt er einfach seiner Nasenspitze. Am meisten interessiert es ihn, was bei dem vermeintlichen Abhang zu sehen ist. Er kann nur schlecht einschätzen, was es wirklich ist. Irgendetwas, das wie ein Gemäuer aussieht, ragt zwischen den Bäumen hoch. Die Bäume sind dort tiefer gelegen, aber nicht gänzlich verschwunden. Wäre es also eine Klippe, wären gar keine Bäume da.
Die Stelle ist schneller erreicht, als er gedacht hat. Dabei stellt er fest, es geht wirklich sehr steil hinab. Was ihn hingegen bedeutend mehr erfreut, ist die Tatsache, dass es hier neben den gewöhnlichen Palmen, seltene Dattelpalmen gibt. Den besseren Schatten dieser Palmenart liebt er besonders.
Der spitzfindige Asket wundert sich darüber, keine weiteren Anzeichen von anderen menschlichen oder tierischen Lebewesen entdeckt zu haben. Das ist ungewöhnlich, da der Dschungel geradezu voll mit Insekten, Schlangen und irgendwelchen Vögeln war, die ihn lästigerweise aufgehalten haben. Eine unbewohnte Lichtung erscheint ihm daher unrealistisch. Das Gemäuer, dem er sich langsam nähert, konnte er bereits vom Bach ausmachen. Zugleich kann er es eindeutig als Schlossturm identifizieren. Genauer gesagt gibt es sogar eine ganze Schlossruine. Die Grundmauern sind erhalten. Der Turm der Ruine ist in einem relativ guten Zustand, soweit er das beurteilen kann, da die Mauer von Farnen sowie anderen Gewächsen überwuchert ist. Dennoch bleibt er skeptisch, denn das Bild der Ruine in der Lichtung lässt sich in seinem Kopf nicht vereinen. Gleichwohl er kann es sich nicht nehmen lassen, den Turm zu erkunden.
Die morschen Treppen machen es ihm schwer, nach oben zu gelangen, nichtsdestotrotz findet er einen Weg. Als er oben ankommt, wird er nicht enttäuscht. In einem der Zimmer findet der Asket ein Abbild seiner Göttin Nataraja – die tanzende Königin – die ihren typischen Tandava tanzt. Der Schlossturm wirft mehr Fragen auf, als diejenigen, die der Asket ohnehin schon hatte. Plötzlich dämmert es ihm, weshalb dieser Ort ein seltsames Gefühl in ihm auslöst. Mit dem Ort verbindet er etwas, das sogar fast heimisch ist. Das Bild seiner Göttin, die wahre Schönheit der Lichtung – die unbewohnt und friedlich ist – ziehen ihn an. Hier möchte er bleiben. Er glaubt sich verpflichtet zu fühlen, den Schlossturm wiederaufzubauen, zu Ehren seiner Göttin Nataraja.
Um sich seinem Vorhaben und seiner neuen Aufgabe bewusst zu werden, legt der Asket eine weitere Einheit Meditation ein. Dabei möchte er sich genaue Vorstellungen davon machen, was er zu tun hat. Während der Meditation kehrt er in sich und lernt, mit der neuen Situation umzugehen und die Herausforderungen anzunehmen. Nach Beendigung der Meditation, scheint es ihm so, als könne er die Zusammenhänge dieser neuen Umgebung besser erfassen.
Die Zweifel über seine mangelnden Fähigkeiten, aus der Schlossruine eine Gedenkstätte zu errichten, machen sich in ihm breit. Er hat Angst, seine Göttin zu enttäuschen. Seine Pflicht, ihr zu huldigen, darf dabei nicht in Vergessenheit geraten, deswegen will er Gehorsam zeigen. Der Namenlose hat kein Recht, über sein Tun selbst zu urteilen, das ist ganz allein seiner Göttin vorbehalten. Auf einen Versuch muss er es ankommen lassen, denn der Verantwortung darf der nicht davonlaufen, wie er es in seinem alten Leben als normaler Mensch getan hat. Damals war er wenig bestrebt gewesen, mehr über sich wie auch die Welt in der er lebt zu erfahren. Deshalb wurde er zu einem Asketen, um sich mehr damit auseinander zu setzen. Er muss. Er will. Er soll. Seine Göttin wird ihm sicherlich den Weg weisen.
Die ersten Versuche, einen Plan zu entwerfen, verwirft er schnell, denn ihm fehlen die nötigen Erfahrungen, um sich einem Projekt dieser Art zu widmen. Also macht er es Schritt für Schritt. Das Abbild seiner Göttin platziert er im Schatten der Dattelpalmen, um drumherum eine Art Altar zu erreichten. Die restlichen, vorhandenen Teile aus dem Schlossturm, wie ein Nagelbrett, stellt er neben den Altar, sodass er dort seine Meditationspausen verbringen kann. Danach schleppt er alles brauchbare Material an eine Sammelstelle. Fürs Erste gibt er sich zufrieden.
Trotz all seinen Bemühungen macht sich seine handwerkliche Unfähigkeit schnell bemerkbar. Beim Versuch, die Bretter von den Nägeln zu befreien, reißt er sich einen Fingernagel aus. Die Steine, die er vom Schlossturm abhebt, rutschen einen Teil des Abhangs hinunter, als er dagegenstößt. Er ärgert sich darüber, denn die Steine waren perfekt für den Wiederaufbau. Sein Zorn treibt ihn dazu, die Steine zurückholen zu wollen, allerdings droht es schon beim über die steile Klippe Schielen zu scheitern – das ist ihm dann doch etwas zu hoch. Also beißt er die Zähne zusammen und schaut abermals herunter. Irgendwie muss er an die Steine … er erstarrt, als sich ihm an einem Felsvorsprung einige Skelette offenbaren, die sich direkt in sein Sichtfeld drängen. Es sind, wie er erkennt, sowohl menschliche als auch tierische Skelette. Ein heftiger Schwindel überkommt ihn, dabei zieht er sich so schnell wie möglich zurück und flüchtet in eines der unzähligen Gebüsche. Als er stolpert, landet er mit seiner Nase auf dem Boden. Vor Schmerz kneift er die Augen zusammen, erst als er ihn unter Kontrolle hat, öffnet er seine Lieder wieder. Darauf folgt der nächste Schreck, er sieht direkt in das Gesicht einer Leiche, deren Verwesungsgrad offensichtlich nicht weit fortgeschritten ist. Den Schwindel und die Schmerzen ignorierend rafft er sich auf, um in den unteren, übergebliebenen Teil des Schlossturms zu flüchten. Er wirft sich gegen die Mauer, was zur Folge hat, dass sie kippt und geradewegs den Abhang hinunterstürzt. Der Asket kann sich gerade noch in Sicherheit bringen.
„Warum stellst du mich auf so eine harte Probe? Was habe ich getan?“, schreit er seiner Göttin mit zum Himmel erhobenen Händen entgegen.
Einige hektische Atemübungen genügen, um wieder zu Sinnen zu kommen. Der Asket kommt aus seinem Versteck heraus. Er geht zur Leiche rüber, will sie näher betrachten, eventuell findet er eine Antwort auf alles. In der Hand hält der Mann eine Zigarettenschachtel, in der anderen ein Zippo. Schuldbewusst schaut der Asket sich um, legt seinen Kopf in den Nacken, als würde er auf eine Lösung eines Rätsels warten. Einen Moment später senkt er sein Haupt, greift zu den Gegenständen in der Hand des Toten und zündete sich eine Zigarette an.
Ein Blick auf das Chaos lässt ihn seufzen. „Was hast du dir nur eingebrockt? Du könntest einfach abhauen, aber du tust es nicht“, spricht er zu sich. In seinen Gedanken hält er fest, dass er einen Plan braucht, denn er wird diesen Ort – mit der er sich so verbunden fühlt – nicht mehr verlassen. Unter keinen Umständen geht das, vielleicht, weil es eine göttliche Fügung ist. Wer weiß das schon so genau? Jegliche Verzögerung ist Zeitverschwendung, also rollt er die Leiche den Abhang hinunter. „So laufen die Dinge eben.“
Die Zigaretten und das Zippo behält er – irgendwie braucht er mehr davon.
Zu seiner Überraschung schüttelt er seinen Kopf und stellt fest: „Was für ein Existenzialismus …“ Danach setzt er sein Werk fort.
2 Gedanken zu „Gaststory | Der Asket“