Aufstieg

Diese Story ist auch als Hörgeschichte und in einem Sammelband erschienen.
Diese Geschichte spielt im erweiterten Universum der „Promise“-Reihe.

„Ich möchte dich ja nicht beunruhigen, aber …“, begann Nani mit einem Unterton in der Stimme, der nahelegte, dass es sehr wohl einen Grund zur Sorge gab. Die kurzen roten Haare der sehnigen Abenteurerin waren mit Schmutz und Staub bedeckt und sie musste sich ab und an mit dem Ärmel ihrer Jacke übers Gesicht wischen, um nichts davon in die Augen zu bekommen.
Anaata, die etwas oberhalb von Nani die in die Wand eingelassenen Sprossen hochkraxelte, hielt inne und warf einen Blick nach unten. Auf der hellen Haut und dem blonden Haar der jungen Koreanerin fiel der schwarze Schmutz noch besser auf als an Nani und gab ihr zusammen mit dem schummrigen Licht der grünlichen Notleuchten ein abgekämpftes Aussehen. „Was denn?“
„Bist du sicher, dass in den nächsten zwanzig Minuten kein Aufzug kommt? Ich habe ein verdammt ungutes Gefühl dabei, durch einen Fahrstuhlschacht zu klettern.“
„Möchten sich Madame lieber unter ihrer Daunendecke verstecken?“, fragte Anaata lachend, ehe sie ihren Körper weitere vierzig Zentimeter nach oben hievte. Leicht außer Atem fügte sie hinzu: „Wenn du das gewollt hättest, hättest du nicht Einbrecherin werden sollen.“
„Hey, du bist die Diebin, ich bin für alles zu haben, was spannend ist“, konterte Nani und griff kurz nach dem Blaster an ihrer Hüfte, um sich zu überzeugen, dass die Laserwaffe noch an ihrem Platz war. „Übrigens piksen mich die Edelsteine in der Hosentasche.“
Anaata, die nicht gerade dafür bekannt war, sonderlich einfühlsam zu sein, begann hell zu kichern. „Niemand hat gesagt, dass du sie so transportieren musst.“
Nani brummte genervt und kletterte weiter. Sie erkannte, dass noch ungefähr ein Dutzend Stockwerke zwischen ihnen und dem Zugang zum Dach lagen, doch sie waren gut in der Zeit. Das Hotel, in dem sie einen Safe ausgeräumt hatten, war zwar über zweihundert Stockwerke hoch, aber immerhin mussten sie bloß vierzig davon hochklettern. Langsam begannen Nanis Arme zu schmerzen und sie freute sich schon darauf, endlich am Ende des vermaledeiten Fahrstuhlschachts anzukommen, als sie hinter der Lifttür, an der sie vorbeikamen, der Bass von lauter Bum-Bum-Musik hören konnte und unvermittelt grinsen musste. Da würde ein Hotelgast gleich große Probleme bekommen und sie bereute ein wenig, nicht bei dem Streit zusehen zu können, der zweifellos den Unterhaltungswert einer mittelmäßigen Soap haben würde.
Langsam aber stetig arbeiteten sie sich weiter und Nani wurde leicht übel von der monotonen Anstrengung und insgeheim bereute sie es, vor ein paar Stunden einen Karottensalat gegessen zu haben. Sie musste an die drei Jobs zurückdenken, die sie bereits zusammen mit Anaata gemacht hatte; die Diebin war nur in einem gut und das war, Dinge zu stehlen, dafür war sie dabei auch wirklich ambitioniert. Nani hätte wissen müssen, dass es immer mühsam und anstrengend würde, wenn Anaata einen Coup plante.

Ein lauter Warnruf ihrer Kameradin riss Nani aus ihren Gedanken und sie konnte gerade noch rechtzeitig erkennen, wie eine Liftkabine von oben auf sie zugerast kam. Nani reagierte schnell, drückte sich mit aller Kraft gegen die Sprossen und umklammerte sie, so gut sie konnte. Keine Sekunde später donnerte die Kabine mit über hundert Stundenkilometern an ihnen vorüber und Nani erwartete für einen Moment, von dem Sog mit in die Tiefe gerissen zu werden und konnte sich bloß mit großem Kraftaufwand halten. Der Lift war irgendwo unter ihnen in einer horizontalen Abzweigung verschwunden und Nani glaubte, endlich aufatmen zu dürfen. Sie wandte sich Anaata zu, deren langes Haar trotz ihren Haarnadeln in alle Richtungen abstand und beschwerte sich: „Hast du nicht gesagt, das sei der perfekte Plan?“
„Bist du tot?“, fragte Anaata schulterzuckend, ignorierte Nanis vorwurfsvollen Blick und kletterte weiter. Nani machte jede Wette, dass die junge Diebin früher oder später aus reiner Sturheit und Risikobereitschaft bei einem ihrer Coups ins Gras beißen würde und hoffte, dass es nicht einer der Jobs sein würde, die sie gemeinsam durchzogen. Eigentlich konnte Nani Anaata mittlerweile ganz gut leiden, wenn sie auch manchmal eine Nervensäge war. Bei dem Gedanken daran, wie sie sich vor ungefähr einem Jahr kennengelernt hatten, musste Nani schmunzeln. Sie war in einer Raumhafenbar auf einer schäbigen Randwelt gesessen, ziemlich angetrunken und ohne einen Job. Nani tat alles, was einigermaßen abenteuerlich war und war ziemlich gut mit der Waffe. Anaata war für diese Welt und erst recht für diese Bar viel zu gut angezogen gewesen, als sie neben sie getreten war und gefragt hatte: „Bist du eine Söldnerin und wenn ja, wie viel kostest du? Ich brauche jemanden, der gut darin ist, Leute zu verprügeln.“
Über etwas anderes nachzudenken lenkte Nani davon ab, dass sie mittlerweile ziemlich erschöpft war und sich nur noch wünschte, endlich oben anzukommen. „Musst du dir auch immer so unmögliche Pläne ausdenken?“, beschwerte sie sich und griff nach der nächsten Sprosse; noch drei Stockwerke, gleich waren sie da.
„Das ist wie mit der Relativitätstheorie“, gab Anaata zurück, der man nun die Anstrengung auch anhören konnte. Nani verdrehte die Augen, das würde wieder eine von Anaatas verworrenen Erklärungen werden, doch sie konnte es nicht lassen und fragte: „Was soll die Relativitätstheorie mit uns zu tun haben?“
„Ganz einfach“, begann Anaata, „dank ihr dachte man früher, dass es den Menschen nie möglich sein würde, schneller als das Licht zu reisen. Und heute machen wir das im Hyperraum jeden Tag.“
Nani keuchte und wusste eigentlich, dass es eine dumme Idee war, während der Kletterpartie zu sprechen, doch es lenkte sie von den scheinbar unendlichen Sprossen ab. „Das scheinbar Unmögliche zu versuchen ist doch ein ziemlich anmaßender Vergleich für eine, die ihren Lebensunterhalt damit bestreitet, glänzende Sachen zu klauen. So nötig kannst du es auch wieder nicht haben, dir selbst etwas zu beweisen.“
„Ich bin nur stur“, gab Anaata zurück. „So wie du damals auf Deru, als du diesen Wandschrank von einem Gangster verprügelt hast.“
Nani setzte gerade zu einer Antwort an, als mehrere Stockwerke unter ihr der Ruf erklang: „Hey, da sind sie! Stehenbleiben oder wir schießen!“
„Verdammt“, zischte sie und sah nach unten, doch in der schwachen Beleuchtung waren ihre Verfolger nicht auszumachen.
„Schnell, weiter, wir sind gleich da!“, sagte Anaata und kletterte so rasch sie konnte weiter. Nani gab alles und folgte ihrer Kameradin mit aller Kraft. Sie konnte ihren eigenen Pulsschlag in den Schläfen pochen hören, das trockene Brennen im Hals fühlen und verfluchte, dass sie Raucherin war, da dies zweifelsohne seinen Teil dazu beitrug. Gerade, als Anaata bei der Ausstiegsklappe in der Decke anlangte und nach dem Griff tastete, fauchte ein blendendes gelbes Lichtprojektil an Nani vorbei und schlug irgendwo ein. „Shit, die schießen tatsächlich, mach schneller!“
Anaata hatte den Ausstieg geöffnet, als weitere Geschosse auf sie einprasselten. Nani glaubte schon, dass sie es schaffen würden, doch Anaata schrie gequält auf und Nani konnte den Geruch von verbranntem Fleisch riechen. Doch die Diebin gab nicht auf uns zog sich durch die Luke hinaus aufs sichere Dach.

Als Nani keuchend die Klappe hinter ihnen zugemacht hatte, wäre sie am liebsten vor Erschöpfung zitternd auf dem Dach des Hochhauses liegen geblieben, um in den Nachthimmel zu starren, doch Aufgeben war keine Option, nicht jetzt. Rasch erhob sie sich und taumelte für einen Augenblick, bevor sie sich nach Anaata umsah und fragte: „Haben sie dich schlimm erwischt?“
Die Diebin humpelte bereits auf einen geparkten Mittelklasse-Flitzer zu und begann das elektronische Schoß zu knacken, als sie verbissen zurückgab. „Nur ein Streifschuss an der Hüfte, aber du musst den Wagen lenken.“
Nani trat zu ihr hinüber und warf einen Blick auf die Wunde, um sich zu vergewissern, dass Anaata nicht bald umkippen würde, bevor sie sich erkundigte: „Ich sehe ja ein, dass wir jetzt einen alternativen Plan brauchen, aber ist es wirklich eine gute Idee, hier einen Fluchtwagen zu klauen?“
„Denkst du, so wie wir aussehen ist unser größtes Problem, dass ein Polizist einen Halterausweis zeigen können?“, entgegnete Anaata und Nani musste ihr zustimmen. Sie zog ihren Blaster und sah sich auf dem Parkdeck um, welches das gesamte Dach des Hotels füllte. Bisher war niemand aufgetaucht, doch es wäre nur eine Frage der Zeit, bis es soweit sein würde.
„Ich hab’s“, rief Anaata halblaut und die Türen des Wagens sprangen auf. Nani verlor keine Zeit, hastete zur Fahrertür und stieg in das Gefährt ein. Anaata folgte ihr und Nani ließ den Flitzer schweben, sobald ihre Kollegin eingestiegen war. Während sie den Wagen beschleunigte, konnte sie im Augenwinkel erkennen, wie mehrere Sicherheitsleute das Dach stürmten und auf sie anlegten, doch sie hatten keine Chance mehr, den Wagen zu treffen, denn mittlerweile rasten die beiden Einbrecherinnen davon. Rund um sie herum und unter ihnen breitete sich das unendliche Lichtermeer der Metropole aus, während Nani den Flitzer in einen Verkehrskorridor einfädelte.

Anaata warf einen prüfenden Blick auf ihr Com. „Wir sind gut in der Zeit. In zehn Minuten sind wir am Raumhafen, in fünfzehn auf dem Schiff und in zwanzig weg von diesem Planeten, alles läuft bestens.“
„Du bist angeschossen worden und mich hätten sie auch beinahe erwischt“, sagte Nani trocken. „Wenn du das ‚bestens‘ nennst, will ich gar nicht wissen, was für dich ‚zu knapp‘ bedeuten muss.“
„Komm schon“, lachte Anaata, verzog dabei aber kurz das Gesicht, als sie sich bewegte. „Du bist wegen dem Risiko und der Spannung Abenteurerin geworden, schließlich hättest du auch einen normalen Job machen können. Außerdem haben wir, wie du es ausdrückst, ganz viele glänzende Sachen dabei.“
Auch wenn Nani es nicht laut gesagt hätte, so musste sie Anaata doch Recht geben; sie hatte sich für diesen Lebenswandel entscheiden und es gab nichts, was sie davon abbringen konnte. Vielleicht würde sie eines Tages in einem Fahrstuhlschacht zu Tode stürzen oder in einer schäbigen Bar auf einer noch schäbigeren Welt erschossen werden, doch sie konnte sich kein anderes Leben vorstellen.

Autorin: Sarah
Setting: Fahrstuhlschacht
Clues: Halterausweis, Bum-Bum-Musik, Karottensalat, Relativitätstheorie, Daunendecke
Für Setting und einige der Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei Kristina. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

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