Seit dem ersten Aufwachen heute früh, hatte sich Deirdre irgendwie seltsam gefühlt. Es war schwer zu beschreiben, nicht vergleichbar mit einer Grippe oder etwas anderem, das sie schon einmal erlebt hatte, sondern einfach ein völlig fremdartiges Gefühl. Den ganzen Morgen hatte sie tapfer dagegen angekämpft, ihre Arbeit erledigt aber dann, als sie zur Mittagspause aufstehen wollte, war sie umgekippt und von ihren Bürokollegen nachhause geschickt worden.
Nun saß sie, mit angezogenen Beinen und Shampooresten im Haar in der leeren Badewanne, unfähig etwas anderes zu tun, als mit leeren Augen auf die Fliesen zu starren und darauf zu warten, dass ihr jemand zu Hilfe eilte. Deirdres Welt drehte sich, verschwamm zu einem einzigen Punkt. Das pulsierende Rauschen durchzog noch immer ihren Körper und die Müdigkeit zerrte so lange an ihrem Geist, bis sie i ihrem kalten Badezimmer einschlummerte.
Deirdre schreckte ob dem Lärm einer unbekannten Quelle hoch und als sie ihre Lider aufschlug, wurde sie von der schieren Farbenflut geblendet. Es war, als hätte sich der Silvester in der Jahreszeit geirrt, bunte Lichter rieselten durch die Luft und schwebten auf das grell-grüne Gras, das zwischen ihren Zehen kitzelte. Ihre Lippen waren spröde, wie nach einem endlosen Schlaf und ihre schmutzigen Haare kribbelten auf der Kopfhaut. Ächzend bewegte Deirdre ihre steifen Glieder, wollte nach dem Rand der Badewanne tasten und griff ins Leere.
„Was?“, hörte sie ihre heisere Stimme aus der Ferne flüstern, wie durch einen blechernen Lautsprecher. Noch zu verschlafen um mit Panik zu reagieren, hob sie langsam den Kopf, streckte ihre Beine aus und blickte verdutzt auf die samtweichen Halme, die über ihre Haut streiften. Das seltsame Gefühl war weg und von einer noch viel bizarreren Empfindung abgelöst worden. Deirdres Gewicht ruhte sanft, beinahe schwerelos auf dem Untergrund, so als würde eine unsichtbare Macht sie auf Wolken tragen und es schien ihr, als würde schwüler Wind aus ihren Schultern strömen. Und da waren noch ihre Ohren, die mit einer Kälte heiß glühten, die ihr vollkommen fremd und unnatürlich vorkam.
Ihr Blickfeld war eingeschränkt und unscharf, doch es reichte aus, um die nähere Umgebung erkennen zu können. Gerade als Deirdre sich versichert hatte, dass keine akute Gefahr in ihrer Reichweite war, dass kein maskierter Verbrecher mit einem Messer neben ihr stand und sie sich vorsichtig aufrichten wollte, hörte sie eine zarte Kinderstimme: „Sie sind aufgewacht, oh, den Göttern sei‘s gedankt, Sie sind aufgewacht!“
Ein kleines Wesen rannte auf sie zu und kam erst wenige Meter vor ihr zum Stillstand. Es hielt etwas in der Hand, vielleicht einen Sonnenschirm, denn auf einmal verschwanden die bunten Lichtpunkte vor ihren Augen. Noch während sich Deirdres Sinne an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnten, schrie die kindliche Gestalt mit markerschütternder Lautstärke:
„Die Kriegerin ist aufgewacht!“
Sie waren alle kurz hintereinander eingetroffen und waren nun zu acht. Irgendetwas musste fürchterlich schief gelaufen sein, dachte Deirdre, vielleicht hatte ihr jemand Drogen in den Kaffee gekippt oder das Grippe-Medikament, das sie vor Arbeitsbeginn genommen hatte, war abgelaufen. Die Neuankömmlinge sahen ehrfürchtig auf die kurzhaarige Büroangestellte hinunter und murmelten hier und da etwas Unverständliches, bis eines der Wesen einen Schritt auf sie zumachte und sich verbeugte.
„Edle Kriegerin, wir dürfen wir Ihnen dienen?“ Es verharrte in dieser Position und wartete auf Befehle, doch Deirdre antwortete nicht, fixierte stattdessen die mächtigen Schwingen der Bestie, die schwarz schillernd in den zuckerwatterosa Himmel ragten. Ganz klar, etwas war entsetzlich schief gelaufen, da war sie sich sicher. Womöglich war sie in ihrer Badewanne ins Koma gefallen und durchlebte nun irgendeine Halluzination, die sie ohne Umwege in einen Fantasy-Roman katapultiert hatte.
Nach längerem Schweigen hatte sich die beflügelte Kreatur aus seiner Verbeugung erhoben und hatte sichtlich verwirrt die Meinung der anderen eingeholt. Danach, als Deirdre versucht hatte wegzulaufen, hatten sie sich im Kreis um sie herum aufgestellt.
„Heilige Kriegerin“, holte ein formloses Wesen aus, durch dessen transparenten Körper wie durch ein Prisma Licht brach. Es war groß, nein, riesig und so kniete es sich vor Deirdre hin, damit diese die beiden pechschwarzen Löcher blicken konnte, hinter denen sie seine Augen vermutete.
„Wissen Sie, weshalb Sie hier sind?“ Deirdre schüttelte hastig den Kopf, wich zurück und wandte ihr Gesicht von ihm ab. Sie konnte den Anblick kaum ertragen, es war, als würde der Regenbogen direkt in ihr Innerstes dringen und dort durch ihre Arterien prasseln. Das gläserne Ding nickte traurig und streckte seine Klauen aus, nur um sie dann wieder zurückzuziehen, kurz bevor es sie berührt hätte.
„Ich verstehe“, meinte es leise. „Wir werden Ihnen alles erklären, sobald Sie etwas gegessen haben. Sie haben lange geschlafen und brauchen Nahrung.“
Erst nachdem ein winziges, koboldartiges Wesen ihr ein Tablett mit Kirschen und einer milchig-violetten Flüssigkeit gebracht hatte, bemerkte Deirdre, wie hungrig sie eigentlich war. Dennoch weigerte sie sich, die Früchte anzunehmen, war viel zu paranoid, dass man ihr bloß noch mehr Drogen verabreichen würde. Niemand wiedersprach ihrer Ablehnung, obwohl sie erkennen konnte, dass die seltsamen Gestalten sich Sorgen machten. Schließlich, als das Tablett weggebracht worden war, trat das Kind aus der Menge. Nun, da sich ihre Sinne an das grelle Licht und die satten Farben gewöhnt hatten, begriff Deirdre, dass diese Lebensform kaum etwas mit einem menschlichen Kind gemein hatte. Es besaß zwar in etwa die Grösse eines Siebenjährigen, glich in seiner Form aber eher einer in die Länge gezogenen, haarlosen Katze und sein Kopf war außergewöhnlich rund, wie eine perfekte Kugel aus poliertem Stahl.
„Ehrenwerte Kriegerin“, fiepte es kaum hörbar und verbeugte sich, genauso wie das Glaswesen zuvor. „Sie sind hier hergerufen worden, um uns im Kampf gegen die Lichtfresser anzuführen.“
„Bitte, was?!“, schrie Deirdre mit weit aufgerissenen Augen, ehe ihr Kiefer mit eine langsamen Bewegung aufklappte.
Ihr erster Eindruck hatte sie nicht getäuscht, Deirdres stolze dreiundneunzig Kilo fielen hier wirklich kaum ins Gewicht, sie schwebte regelrecht über die endlose, samtweiche Weide. Einer der Gewählten, so hatte sich die Gruppe aus acht Gestalten vorgestellt, hatte ihr noch mehr von der milchig-violetten Substanz gebracht, nachdem sie um etwas Wasser und Seife gebeten hatte und nach langem Zögern hatte Deirdre ihren Finger in die Schale gesteckt. Das Zeug roch penetrant nach Honig und Zitrone, war aber definitiv die bessere Wahl, als die Milch des Zentauren, die ihr angeboten worden war, weil sie sich nach einer anderen Flüssigkeit erkundigt hatte.
„Nur damit ich das richtig verstehe“, schepperten Deirdres krächzende Worte durch den unsichtbaren Lautsprecher, „Ihr glaubt, ich sei die Tochter eures verschollenen Generals?“ Die Kreaturen bejahten ihre Frage sofort und brummten unisono: „Ja, Tochter des großen Vildkehrs!“
Das hatten sie jetzt schon einige Male gemacht. Sie drehten sich dabei stets genau viermal im Kreis, hüpften bei jeder vollendeten Umdrehung und trieben Deirdre damit so langsam in den Wahnsinn.
„Okay, okay“, unterbrach sie den skurrilen Choral. „Und ihr wollt jetzt, dass ich euch in den Kampf gegen diese …“ Ihr fiel das Wort nicht mehr ein, führte den Gedanken jedoch trotzdem zu Ende: „Dass ich euch beim Kampf gegen diese Dingsda Typen führe?“
„Ja, Tochter des großen Vildekehrs!“ Deirdres schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn und danach gleich nochmal, als sie sah, dass ihre kleine Gefolgschaft ihre Geste imitierte.
Zeit war so eine Sache hier. Man konnte sie kaum verfolgen, denn Nacht oder Dunkelheit schienen hier nicht zu existieren und so verweilte Deirdre irgendwo auf der immer-grellen Wiese dieser seltsamen Welt und versuchte vergeblich die Stunden und Tage zu zählen. Sie hatte all ihre Kraft aufgebracht, die Wesen dazu zu überreden, sie wieder nachhause zu schicken. Sie war nicht die Tochter dieses Vildekehrs und das wusste sie nicht bloß deshalb, weil ihre Haut nicht so blau glänzte, wie die des großen Generals, sondern weil sie einen Vater hatte; einen richtigen, in der richtigen Welt.
Deirdree musste einsehen, dass sie mit Verstand nicht weiterkommen würde, also entschloss sie sich dazu, eine andere Taktik auszuprobieren. Mit einem siegessicheren Grinsen rief sie Grimspock, die gläserne Gestalt, zu sich.
„Es ist ein Wunder!“, schrie Deirdre freudig und klatschte über ihrem Kopf die Hände zusammen. „Ein wahres Wunder, Grimspock. Ich erinnere mich an alles!“
„Tatsächlich?“ Er, sie oder es wirkte etwas skeptisch, ließ sich dann aber von Deirdres Lächeln überzeugen. „Was für eine frohe Botschaft, ehrenwerte Kriegerin!“
„Es gibt aber ein Problem“, sagte die Kriegerin wider Willen und blinzelte ihrem Gegenüber so dramatisch wie sie eben nur konnte zu, ehe sie mit belegtem Tonfall fortfuhr: „Ich brauche mein Lichtschwert und das liegt in einem Versteck in meiner Welt.“
Grimspock schoss hoch, wirbelte viermal im Kreis herum und war so aufgeregt, dass die obligatorischen Hüpfer vergessen gingen. „Lassen Sie uns gleich zur Weltentür gehen, ehrenwerte Kriegerin.“
Deirdre schlug mit der Handfläche gegen ihre Stirn. Sie hatte den Wesen gesagt, das wäre eine Geste der Bestätigung, zum einen weil ihr keine bessere Erklärung für ihr wiederholtes Stirnschlagen eingefallen war, zum anderen, weil sie es einfach lustig fand.