Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte ist Teil der lose verbundenen Story-Reihe „Weihnachtsdorf“.
„Jetzt ist der Bart ab, meine Lieben“, donnerte die Stimme des Weihnachtsmannes über die Bühne und Marcel fuhr wie jedes Mal erschrocken zusammen, obwohl er das Skript vor sich liegen hatte und den Text sowieso längst auswendig kannte. Bedächtig fuhr er sich mit der Hand über seinen zu früh ergrauten Künstlerbart, eine Geste, die ihm dabei helfen sollte sein Image als Regisseur besser zu kultivieren. Derweil warf Boris, der Weihnachtsmann, seinen falschen Bart auf den Boden, lachte hämisch und kramte umständlich eine Kalaschnikow aus seinem Geschenkesack.
„Eine Viertelstunde Pause“, rief Marcel und wurde für die langersehnte Unterbrechung von den meisten seiner Schauspieler mit einem dankbaren Blick belohnt. Als sich die Szene auf der Bühne auflöste und die Darsteller aus dem Theater verschwanden, um ihre fünfzehn Minuten zum Qualmen zu nutzen, hastete Marcel die Stufen hoch und meinte: „Boris, komm mal schnell her!“
Der füllige Mann im roten Kostüm wandte sich um. „Was denn? Ich will genug Zeit, um rasch in der Küche meine Tütensuppe warm zu machen.“
„Das wird schon reichen“, meinte Marcel und setzte den Hut auf, wegen dem er von seinen Kollegen als Hipster bezeichnet wurde – Spitzbart und Brille hatte er auch als Ursachen in Betracht gezogen, doch das Retrodesign des Hutes war aus seiner Sicht der offensichtlichste Übeltäter. „Ich wollte nur fragen, ob du die Szene noch etwas dramatischer spielen könntest?“ Marcel unterbrach sich, um einen starken Niesreiz zu unterdrücken. „Du weißt schon, mit lauterer und tieferer Stimme.“
„Du meinst, ich klinge noch nicht genug wie Santa?“, erkundigte sich Boris müde und etwas ungeduldig. Marcel zögerte kurz, bevor er meinte: „Ja, so ziemlich genau das. ‚Hells Bells‘ ist nicht irgendein Stück, es ist ein Meilenstein in der postikonischen Weihnachtsmann-Rezeption.“
„Ja, ich weiß“, murrte Boris und schlurfte in Richtung der kleinen Küche davon, seinen Bart in der Hand. „Das sagst du andauernd.“
„Unkreativer Haufen“, wetterte Marcel leise vor sich hin, während er in Richtung des Ausgangs schlenderte und sich seinen Schal umband. „Da jammern sie rum, nur weil der fette Kerl in Rot auf der Bühne mal böse wird, eine Bank ausraubt und Geiseln nimmt. Wir leben im Zeitalter der Satire, Pastiche und Persiphlage.“ Er zog sich die dicke Wollmütze über und nahm seine ‚Jack Reindeer‘ Jacke vom Haken, bevor er die Tür aufstieß und ihm der eisige Wind ins Gesicht blies.
Als er sich an die Dunkelheit auf dem Parkplatz gewöhnt hatte, konnte er Liv, die Regieassistentin erkennen, die zu ihm getreten war und ihm über das pfeifende Geräusch des Windes zurief: „Hey, ich gehe rasch zum Starbucks im Weihnachtsdorf, soll ich dir was mitbringen?“
„Ein Frappuccino, danke“, entgegnete Marcel und bemerkte erst dann, dass er genauer sein müsste. „Karamell oder Erdbeere.“
„Klar, kein Problem“, meinte Liv, die ihr Beret festhalten musste, dass es nicht weggeweht wurde, ehe sie in ihren Geländewagen sprang und die Tür zuschlug. Marcel sah ihr hinterher, wie sie mit auf dem Eis schliddernden Autoreifen in die ewige Nacht davonraste und er seufzte. Er konnte nicht leugnen, dass er etwas für die junge Frau empfand, die in ihm aber eher eine Vaterfigur sah. Mit einem Schulterzucken pulte er eine der filterlosen ‚Bonhomme‘-Zigaretten aus seiner Jacke und versuchte, sie mit dem Sturmfeuerzeug anzuzünden, was ihm nach mehreren Anläufen auch gelang. Er nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch, den man bei diesen unmenschlichen Temperaturen kaum vom Dampf des eigenen Atems unterscheiden konnte, in den Wind. Als jemand hinter ihm die Tür aufriss, verschluckte er sich am Zigarettenrauch und fuhr hustend herum. Boris, der offenbar seine Suppe schon ausgelöffelt hatte, trat neben ihm und klopfte ihm tief und herzhaft lachend auf die Schulter. „Mann, hör auf so schreckhaft zu sein!“
„Ach komm, die Welt ist nicht mehr dieselbe, seit die Terroristen Rudolph erwischt haben“, meinte Marcel nachdenklich. „Und die Klimaerwärmung macht auch alles schwerer.“
„So ist das Leben“, sinnierte Boris, der nach seiner Suppe wieder bester Laune war. „Du weißt genau, dass es irgendwann geschehen musste, weder Al Kaida noch der Grinch sitzen untätig herum.“
„Trotzdem, wieso mussten sie ausgerechnet eine Paketbombe in den Schlitten schmuggeln, in dem ich saß?“, fragte Marcel erstaunlich pathetisch. Auch nach einem Jahr ließ ihn das Erlebnis nicht los, das dem berühmtesten Rentier der Welt das Leben gekostet hatte.
„Komm schon, gehen wir wieder rein und warten auf Liv, dann können wir weitermachen“, schlug Boris vor und Marcel folgte ihm ins warme Theater. Ja, es war nicht einfach, Indie-Künstler am Nordpol zu sein, dachte er sich und zog die Wollmütze aus, bevor er seine spitzen Elfenohren zu reiben begann, die trotz der Mütze eiskalt geworden waren.
„Machst du dir eigentlich keine Sorgen?“, fragte Liv nachdem die Probe zu Ende war. „Der Präsident wird das Stück nicht gut finden, da bin ich mir sicher.“ Sie beugte sich herunter und blies die letzte Kerze aus, die auf der Bühne stand. Sie waren die einzigen beiden im Theater, alle anderen waren längst nach Hause gefahren.
„Ich denke schon, immerhin lacht er ja über alles, ganz egal, was es ist. Vielleicht kriege ich etwas weniger Süßigkeiten dieses Jahr, weil er keine Ahnung von Parodien hat, aber mehr wird schon nicht passieren.“
Liv warf ihm einen skeptischen Blick zu, sie schien seine Zuversicht nicht zu teilen, machte jedoch einen anderen Vorschlag: „Und sonst bleibt uns immer noch der Südpol. Ich mag Pinguine.“
Marcel gluckste vergnügt und legte sein Klemmbrett in eine Ecke. „Ja, im letzten Urlaub war es da ziemlich schön.“
Sie nickte und Marcel deutete auf den Ausgang. „Wollen wir?“
„Einen Moment noch.“ Liv wirkte etwas nervös, während sie in dem Geschenkesack zu wühlen begann, der als Requisit diente und verbissen murmelte: „Irgendwo muss es doch sein …“
„Kann ich dir helfen?“, wollte er wissen, doch in dem Moment nahm Liv ihren Kopf mit den durcheinander gekommen Haaren wieder aus dem riesigen Sack und hielt stolz eine Zuckerstange in die Höhe. „Na bitte!“
„Du klaust Requisiten?“, erkundigte sich Marcel mit verzogener Miene und fügte dann hinzu: „Hast du nicht genug Zucker?“
„Das ist nicht nur Zucker“, flüsterte Liv verschwörerisch. „Ich habe meine berühmten Haschisch-Stangen gemacht.“
Marcel konnte das vorfreudige Grinsen nicht unterdrücken. „Du schmuggelst schon wieder Drogen ins Theater? Und wie kannst du diese Stange von den anderen unterscheiden?“
„Ich habe sie markiert“, erklärte Liv und hielt sie stolz vor Marcels Gesicht. „Siehst du den Stern-Aufkleber?“
„Da ist kein Aufkleber!“, rief Marcel aus und sein Blick wanderte langsam zum Geschenkesack, als sich sein Magen zusammenzog. „Dann ist das vielleicht gar nicht unser Requisit, sondern …“
„Oh nein!“, keuchte Liv panisch auf und griff nach ihrem Handy. „Wir müssen ihn warnen, der Dicke nascht doch immer so gern! Und dann hat er auch unsere Kalaschnikow dabei, das gibt ein Desaster!“
Doch sie hatte keine Gelegenheit mehr, die Nummer zu wählen, denn ein Rumpeln war auf dem Dach des Theaters zu hören, dann einige schlimme Schimpfworte aus dem Kamin, bevor der Weihnachtsmann schließlich mit dem Hintern auf dem prasselnden Feuer landete und es damit löschte. „Hohoho“, grölte er glücklich, und aß vor ihren Augen den Rest von Livs Haschisch-Zuckerstange auf.
„Verdammt, Santa!“, wetterte Marcel. „Du musst morgen in Europa sein!“
Der Alte konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen und nuschelte, während er sich erhob und sich den rußigen Hintern mit den weißen Handschuhen abwischte „Ich übe doch nur ein bisschen.“
„In Europa kommst du aber nicht durch den Kamin“, versuchte Liv ihn zu erinnern. „Und die Leute nennen dich Nikolaus.“
„Nicht mehr“, meinte der Weihnachtsmann und begann zu kichern. „Ich will modern sein, ich sage ihnen, sie sollen mich Niko nennen, das passt besser.“
„Nein“, redete Liv entsetzt auf ihn ein und packte ihn am Handgelenk. „Das kannst du doch nicht machen!“
„Mach dir keine Sorgen, sprechendes Rentier, ich habe alles im Griff“, lachte der Weihnachtsmann, tätschelte ihren Kopf und verschwand wieder im Kamin, wo er mit weiteren kreativen Schimpfworten auf den Schlitten hochkraxelte. Schließlich waren die Raketentriebwerke der Rentiere zu hören, als das Vehikel abhob, gefolgt von dem entfernten Knall, als er wenige Augenblicke darauf die Schallmauer durchbrach. Die beiden Elfen starrten einander fragend und mit geweiteten Augen an.
„Sehe ich aus wie ein Rentier?“, fragte Liv schließlich und setzte sich auf einen Sessel in der ersten Reihe.
Marcel, noch genauso verwirrt wie sie, schüttelte den Kopf.
„Ich habe dir doch gesagt, es ist keine gute Idee, einen Kamin ins Theater zu bauen, Santa hätte Feuer fangen können“, meinte Liv und Marcel entgegnete resigniert: „Bauvorschriften, du weißt ja wie die Leute vom Amt sind. Aber darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an, dieses Jahr wird es echt verrückte Festtage geben.“
Hallo Ann-Bettina,
Das finde ich grandiotastisch, dass dir die Geschichte gefällt. Bisher habe ich nur meinen Dampfabzug gehört, aber wenn ich jetzt die Augen schliesse, kann ich den Applaus hören und bedanke mich mit einem demütigen Knicks und wünsche ebenfalls einen schönen Abend,
Sarah
alterthümlich anmutende gestalten in einem neuzeitlichen rahmen – wie zauberhaft.
das waren kurzweilige, sehr unterhaltsame minuten dort in dem halbdunklen raum
im theater am ende der welt. kompliment.
Lieber Wolfgang / Liebes Sonntagskind,
Vielen Dank für das Lob. Ich hatte meinen Spass daran, diese Story zu schreiben und habe mir bei jeder Referenz ins Fäustchen gelacht…
Dass auch der Rest gut funktioniert hat, freut mich natürlich umso mehr :)
Liebe Grüsse
Sarah
Hallo Sarah,
da ist es dir tatsächlich gelungen meine Vorgaben auch noch jahreszeitlich passend umzusetzen :-) Hörst du den Applaus? Ich bedanke mich ganz herzlich für die verblüffende Geschichte.
Einen schönen Abend
Ann-Bettina