Das Trappeln der Hufe verklang und Bimmeln der Glöckchen beruhigte sich, als die Rentiere in die Luft aufstiegen. Erleichtert lehnte sich Dieter auf dem Bock zurück. Es hatte geklappt! Er sah nach unten, zu dem Häuschen, den Schuppen und der Manufaktur. Die Gebäude wirkten wie Spielzeug – unfassbar, wie schnell sie an Höhe gewonnen hatten! Neben dem Häuschen war püppchenklein eine menschliche Gestalt zu erahnen. Ein dicker Mann mit weißem Rauschebart, wie Dieter wusste.
„Tschau, Alter!“, brüllte er hinunter und winkte, obwohl er wusste, dass der arme Trottel ihn nicht hören und gegen den Nachthimmel wahrscheinlich auch nicht sehen konnte. „Tut mir leid wegen deinem Schlitten. Dafür hast du ja mein Auto.“ Er kicherte.
Es war so gottverdammt sagenhaft einfach gewesen. Er hatte kaum gesagt, er sei Journalist, da hatte der Idiot Tee und Zimtplätzchen angeboten und sich fast überschlagen, ihm alles zu erklären und zu zeigen. Sogar die Rentiere hatte er angeschirrt und den Sack aufgeladen, damit Dieter Fotos machen konnte.
„Lassen Sie sich Zeit“, hatte er gesagt, während er den Sack an der Sackhaltestange festband. „Wir haben noch gut eine halbe Stunde bis zum Abflug.“
Dann war er pinkeln gegangen.
Dieters Kichern steigerte sich zu einem fast hysterischem Lachanfall. Einen größeren Gefallen hätte ihm der Alte gar nicht tun können. Er hätte ihn ungern niedergeschlagen oder während einer „Proberunde“ vom Schlitten geschmissen. Deshalb hatte er sich auf den Bock geschwungen, kaum, dass der Dicke ums Eck war. Hatte die Zügel genommen, laut „Hüa!“ geschrien und jetzt flogen sie!
Dieter zog sein Handy aus der Tasche, um die Route zu checken. Kein Netz. Verdammt!
Zu allem Übel fing es auch noch an, zu schneien. Die Flocken klatschten ihm wie nasse Falter entgegen. Dieter zog die Kapuze des Anoraks tiefer. Vergebens, der Fahrtwind blies sie sofort wieder herunter. Also hielt er sie fest. Nun wurden seine Hände nass und kalt. Auch seine Beine fühlten sich schon ganz taub an. Allmählich begriff Dieter den Sinn des Mantels, der albernen Pudelmütze und der Stiefel. Wenigstens eine Decke musste es auf diesem verdammten Schlitten doch geben!
Er drehte sich zur Ladefläche um. Da war nur der Sack. Unter dem Bock vielleicht? Unsicher stand Dieter auf, drehte sich vorsichtig um und untersuchte den Sitz genauer. Die Sitzfläche ließ sich hochklappen. Darunter ertastete Dieter etwas Warmes, Flauschiges. Im Schein seines Handys sah er einen roten Mantel, eine Pudelmütze und dicke Stiefel.
„Auf keinen Fall!“, schoss es ihm durch den Kopf. Ich mach mich doch nicht zum Nikolaus! Außerdem war der Mantel viel zu weit. Andererseits wirkten die Klamotten verlockend warm, während seine eigenen … Darin würde er die Runde kaum überstehen. Das gab den Ausschlag. Dieter schnürte den Mantel mit dem Gürtel zusammen, der darunter gelegen hatte, schlüpfte in die riesigen Stiefel und stülpte die Mütze über. Ihn würde sowieso sehen.
Langsam taute er auf. Seine Muskeln lockerten sich. Nach einer Weile hatte er das Gefühl, Mantel und Stiefel viel besser auszufüllen. Er musste sogar den Gürtel weiter machen. Erst ein Loch, dann zwei – beim dritten erkannte er, dass es keine Einbildung war: Sein Bauch wuchs. Und nicht nur der! Das Kribbeln seiner Gesichtshaut, das er bisher der Kälte zugeschrieben hatte, kam von einem immer länger werdenden Bart. Fassungslos sah er zu, wie sich die lockigen, weißen Strähnen über Brust und Bauch ausbreiteten. Versuchsweise zog er daran. Der Schmerz war real. Der Bart gehörte wirklich ihm. „Oh Fuck!“, was ging hier vor?
„Nur die Ruhe!“, befahl er sich. „Du musst den Sack in Sicherheit bringen. Alles andere kann warten.“ Also erst mal checken, wo zum Teufel er eigentlich war. Er zog sein Handy raus. Dieses Mal fand er ein Netz. Viel zu weit im Osten.
Dieter zog an den Zügeln. Die Rentiere liefen weiter.
War es das, was der Alte mit „Die kennen den Weg“ gemeint hatte? Dass dieser verdammte Schlitten auf Autopilot flog? Scheiße nochmal, das durfte nicht sein! Dieter zerrte an den Zügeln, ließ die Peitsche knallen und brüllte, bis seine Lungen brannten. Die Rentiere galoppierten unbeirrt weiter.
Was sollte er erst tun, wenn sie landeten?
Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sich der Schlitten nach vorne neigte. Dieter wurde flau im Magen. Da unten tauchten Lichter auf. Erst winzig wuchsen sie rasant, denn die verdammten Rentiere wurden kein bisschen langsamer. Die Umrisse eines Hauses rasten auf sie zu. Sie würden dagegen krachen, an der Fassade zerschellen … Dieter schrie in Todesangst und schlug die Hände vor das Gesicht.
Der erwartete Aufprall blieb aus. Das Bimmeln der Glöckchen verstummte. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen.
„Und nun?“, fragte eine dumpfe Stimme in seinem Kopf. „Willste hier Wurzeln schlagen?“
Vorsichtig öffnete Dieter die Augen. Das hinterste Rentier hatte sich zu ihm umgedreht und funkelte ihn an.
Dieter hob die Peitsche. „Planänderung. Wir fliegen weiter!“
Das Rentier schnaubte, rührte sich aber nicht. Dafür hoben die anderen die Köpfe. Ihre Augen schienen rot zu glühen. Dampf schoss aus ihren Nüstern.
„Erst, wenn du deinen Job gemacht hast“, sagte die fremde Stimme. „Bis dahin kannst du mit deinem Stöckchen wedeln, so viel du willst.“
Dieter wurde heiß und kalt gleichzeitig. Das waren keine normalen Rentiere, so viel war sicher! Die Biester sahen aus, als würden sie ihn gleich fressen. Ein Tropfen Schweiß perlte seinen Rücken hinab.
„Mach hinne!“
„Ich beeil mich ja schon“, versprach Dieter in dem Bemühen, diese Satansviecher zu besänftigen. Mit zitternden Fingern löste er den Sack von der Sackhaltestange und griff hinein.
„Man findet immer, was man gerade braucht“, hatte der Weihnachtsmann auf die Frage geantwortet, wie er sicher sein konnte, die richtigen Geschenke auszuliefern. Tatsächlich: Obwohl der Sack prall gefüllt schien, lagen nur fünf Päckchen darin. Dieter kam eine Idee. Er zog drei heraus und fragte die Rentiere: „Und nun? Echt durch den Schornstein?“
„Absteigen“, sagte die Stimme.
„Und dann?“
„Mach schon.“
Scheißviecher! Dieter tastete vorsichtig mit einem Bein nach unten, bevor er umständlich ganz aus dem Schlitten krabbelte.
Kaum hatte sein zweites Bein das Dach berührt, fand er sich im Innern des Hauses wieder. In einer Ecke des Raums stand der Weihnachtsbaum, aus dessen Ästen finstere Engel und gläserne Vögel herabstarrten. Auf der Couch erwachte fauchend eine Katze.
„Pssst“, machte Dieter. „Bin gleich wieder weg.“ Und wirklich: Kaum hatte er die drei Päckchen unter dem Baum geschoben, stand er schon wieder auf dem Dach. Hastig kletterte er auf den Bock.
„Hüh, weiter geht’s!“
Doch die Rentiere scharrten nur mit den Hufen. Dampf schoss aus ihren Nüstern, die Augen sprühten rote Funken. Das hinterste wandte sich zu Dieter um. „Alles!“
Die Drecksbiester wussten auch noch, was in dem Sack war! Mit dem Gefühl tiefster Verzweiflung griff Dieter ein zweites Mal in den Sack, holte die übrigen Pakete heraus und kletterte erneut vom Schlitten. Dieses Mal schnurrte die Katze. Auch die Blicke der Engel und Glasvögel schienen freundlicher.
Dieter wollte gerade die beiden verbliebenen Päckchen unter den Baum legen, als ihn eine neue Idee durchzuckte, die ein breites Grinsen auf sein Gesicht zauberte. Der Plan, die Geschenke zu klauen, war zwar für die Tonne – aber in den Häusern gab es genug mitzunehmen. Den Silberleuchter auf dem Esstisch zum Beispiel und sicher fand sich noch mehr. Er musste nur darauf achten, ein Geschenk in der Hand zu behalten, bis er fertig war.
Leise kichernd ging er zur Wohnzimmertür.
Abgeschlossen. Na gut, dann eben nur der Leuchter. Es gab ja noch viele andere Häuser auf seiner Route!
Dieter griff sich den Leuchter und schob das letzte Päckchen unter den Baum.
Die Engel musterten ihn finster. Die Katze war verschwunden. Wieso stand er noch hier? Auf dem Dach stampften die Rentiere. Dieters Rücken prickelte. Was, wenn der Lärm den Hausbesitzer weckte? Oder schlimmer noch: Wenn die Viecher ohne ihn abhoben? Wie sollte er erklären, was er nachts in einem fremden Haus wollte? Wie seine Fingerabdrücke auf dem Leuchter? Sorgfältig rieb er ihn mit dem Mantel blank und stellte ihn an seinen Platz zurück.
Im nächsten Moment stand er wieder auf dem Dach. Das Bimmeln der Glöckchen klang wie leises Gelächter. Dieter war zum Heulen. Den Rest des Flugs starrte er vor sich hin, bis es Zeit war, wieder in den Sack zu greifen. Er versuchte noch dreimal, etwas einzustecken. Danach standen zwei fest Dinge fest: Er konnte keine Türen öffnen und nichts mit hinaus nehmen.
Die ganze Chose war ein fürchterlicher Reinfall. Sehnsüchtig wartete er auf die Rückkehr zum Nordpol. Dort würde er zum Auto sprinten, Vollgas geben und sich irgendwo in einem Motel besaufen, um den ganzen Scheiß zu vergessen.
Nur war da kein Auto, als sie schließlich landeten. Die Weihnachtswichtel zuckten mit den Schultern, als er danach fragte. Sein Auto wollte keiner gesehen haben.
„Essen Sie erstmal ’nen Happen“, empfahl schließlich einer. „Sie sehen völlig fertig aus, Chef.“
Chef? Dieter hätte das Kerlchen am liebsten erwürgt. Hunger hatte er allerdings, daran war nicht zu rütteln. Und wenn ihm hier keiner böse war, ließ ihn der Weihnachtsmann am Ende sogar bei sich übernachten. Zuzutrauen war es dem freundlichen alten Trottel.
Die Tür war offen. In der Wohnstube brannte Licht und in der Luft hing der Geruch nach Zimtplätzchen. Der Plätzchenteller stand noch auf dem Esstisch. Daneben das Advendsgesteck. An einer der roten Kugeln lehnte ein Briefumschlag. Nur vom Weihnachtsmann war nichts zu sehen.
„Hallo?“, rief Dieter leise.
Keine Antwort.
Er nahm den Umschlag. Darauf stand in schwungvollen Lettern „An meinen Nachfolger“.
Das war nicht wahr, oder? Mit zitternden Fingern zog Dieter den Brief heraus. Mit jedem Wort, das er las, wuchs das Gefühl, in einem Alptraum zu stecken. Schließlich wurde der Druck zu groß. Mit einem Wutschrei fegte er Adventsgesteck und Teller vom Tisch. Als sie an der gegenüber liegenden Wand zerschellten, regnete es Tannennadeln, Kekskrümel und Christbaumkugelscherben.
„So kommen wir an unseren Job“, lauteten die letzten Zeilen. „Es ist nicht schlecht, aber man muss lange auf einen Nachfolger warten. Ich bin urlaubsreif und hätte es zur Abwechslung gerne richtig warm. Tut mir leid wegen deinem Auto. Du hast dafür ja meinen Schlitten.“
Ein Gedanke zu „Gaststory | Schöne Bescherung“