Defekt

„Hallo, hier ist Julia“, begann sie, sobald der Anruf in der Zentrale angenommen wurde. „Mein Opa braucht dringend Hilfe!“ Die Hand, mit der sie das Telefon ans Ohr hielt, zitterte. Aufgebracht marschierte sie auf der Treppe auf und ab, vom Eingang zur Wohnung, zum Durchgang zum Nachbarhaus, das in den Siebzigern angebaut worden war. Bei sich trug sie die Tageszeitung, die auf seinem Bauch gelegen hatte. Sie hatte schon lange damit gerechnet, sogar mit ihm darüber gesprochen, sich vorbereitet und geübt, was zu tun ist. Trotzdem fiel es der jungen Enkelin schwer, sich an ihr zurechtgelegtes Skript zu erinnern. „Ich … Er ist … Nun“, stammelte Julia und blieb vor ihrem Schulranzen stehen. Sie unterdrückte den Drang zu schreien und schlug sich dreimal gegen die Brust, in der Hoffnung, ihre durcheinandergeratenen Gedanken zur Ordnung zu zwingen. Ihre Finger berührten die Spinnwirtel, die an einem Lederband um ihren Hals hing. Mama Gertrude hatte ihr die bemalte Terrakottakugel gegeben, da war sie vielleicht acht gewesen. Das Erbstück war lange in Julias Schublade verschwunden, sie hatte den Wert der kleinen Perle erst verstanden, als ihre Omi sie bereits verlassen hatte. Kopfschüttelnd ging sie ein paar Schritte nach unten und leierte den Rest ihres einstudierten Texts viel zu schnell hinunter: „Hier ist Julia Karlsson. Ich war eben in der Wohnung meines Opas“, sie holte kurz Luft, „an der Reiterstrasse Vierundzwanzig B, Dachgeschosswohnung links. Ich habe ihn vorhin auf der Couch vorgefunden. Er ist …“ Abermals kam sie ins Stocken, ein grässlicher Kloss formte sich in ihrer Speiseröhre, der sich nicht runterschlucken ließ. „Er ist ohnmächtig.“ Der Teenager schluchzte und räusperte sich sogleich, konnte den Ausdruck ihrer Verzweiflung nur knapp zurückhalten. Es war völlig anders, als sie sich das vorgestellt hatte. Egal, wie oft sie dieses Szenario durchgespielt hatte, Julia fühlte sich verloren. Außer ihrem Opa gab es niemanden mehr in ihrem Leben, er war alles, was ihr geblieben war. Und nun lag er reglos zwischen seinen hässlichen Kissen, die ihm Mama Gertrude wenige Wochen vor ihrem Tod mit Blümchenmuster bestickt hatte.
„Okay, Frau Karlsson. Reiterstrasse Vierundzwanzig B, Dachgeschoss links“, wiederholte die Frau des Notfalldiensts und erklärte: „Jetzt müsste ich noch wissen, in welcher Stadt Sie sind. Dann sende ich gleich eine Ambulanz vorbei.“
„Landau. Landau an der Pfalz“, ereiferte sich Julia beschämt. Die ganzen Proben für den Ernstfall waren umsonst gewesen, sie hätte die Stadt längst nennen sollen. Die andere brummte bestätigend, sie hatte eine angenehm warme Stimme. Im Hintergrund hörte Julia Tippgeräusche. Sie wartete ungeduldig, wandte sich um und rannte die Stufen hoch bis vor die Eingangstür. Dahinter lag der Mann, der sie damals vor vierzehn Jahren ohne zu zögern aufgenommen und wie sein eigenes Kind ins Herz geschlossen hatte. „Scheiße. Ah, sorry! Ich bin … ich bin total durcheinander. Mein Opa“, haspelte sie, da flossen die Tränen und irgendwo im Treppenhaus miaute eine Katze. „Bitte, oh bitte, kommen Sie ganz schnell. Mein Opa darf nicht sterben!“
„Ja, Frau Karlsson, das verstehe ich. Ich habe einen Wagen angefordert. Die Sanitäter sind so rasch wie möglich bei Ihnen.“ Statt erleichtert über die Nachricht zu sein, wurde Julia übel, bald kämen sie, um ihn mitzunehmen. Es war, als würde die Disponentin sich mit jemand anderem unterhalten, einer fremden Frau Karlsson. Wer sie wohl war, wunderte sich Julia, diese Version von sich, die mit der Notfallzentrale telefonierte? Einige Sekunden blieb es still, die ersten Sonnenstrahlen blitzten durch das Jugendstilfenster im Westen des Wohnblocks, ein buntes Relikt aus einer Zeit, aus der nicht einmal Opa Geschichten kannte. Im Sommer blieb es bei Opa zu Hause bis in den späten Nachmittag dunkel, die Sonne wanderte über das schmale Haus hinweg. „Frau Karlsson?“ Julia schreckte aus ihrer Starre hoch, drehte sich um und tigerte wieder los, entfernte sich von der Tür, auf der ihr Name neben dem ihres Opas stand. „Frau Karlsson, können Sie mir einige Fragen zum Zustand ihres Großvaters beantworten?“ Julias Schniefen hallte durch den Flur. Sie hielt inne, machte kehrt und setzte sich schließlich auf den obersten Treppenabsatz, ihr gegenüber hing ein roter Zettel unter dem Fahrstuhlrufknopf. „Frau Karlsson?“
„Ja. Das … das kann ich.“ Ihr Opa hatte schon seit längerem Probleme mit den Knien und der einen Hüfte und er war zu schwach geworden, um sich auf dem Rollator aufzustützen, also hatte sie ihm einen Rollstuhl besorgt.
„Ist Ihr Großvater noch immer bewusstlos?“ Eine Welle der Erschöpfung überfiel Julia. Die Aufregung verschwand mit einem Schlag und sie legte die Zeitung auf den Schoß. Wie üblich steckte eine Büroklammer an der Seite mit dem Kreuzworträtsel. Opa kniffelte jeweils so lange, bis jedes Kästchen mit seiner krakeligen Handschrift ausgefüllt war und er das Lösungswort hatte. Heute hatte er es nicht herausgefunden.
„Ja. Ist er.“ Sie klang monoton, kam sich fremd vor in ihrem Körper. Die andere ging bestimmt davon aus, dass sie bei ihm war, zwischen dem Sofa und dem Beistelltisch hockte. Anstelle davon, kauerte sie feige auf dem marmorierten Steinboden und klammerte sich ans Treppengeländer.
„Okay. Frau Karlsson. Ich möchte, dass Sie sich ganz genau achten, ob sich der Brustkasten ihres Großvaters bewegt“, tönt die freundliche Frau. „Können Sie das für mich mach…“
„Er atmet nicht“, unterbrach Julia sie. Sie hatte lange nach ihm gerufen, in angestupst und geschüttelt, ihm eine Strähne aus dem Gesicht gestrichen und liebevoll gestreichelt, bevor sie die Realität nicht mehr ausgehalten hatte und nach draußen geflüchtet war. „Er hat auch keinen Puls. Er ist kalt.“
„Frau … Frau Karlsson, Hilfe kommt“, versicherte die Disponentin, ihre Tonlage war tiefer, trauriger geworden, da lachte Julia bitter auf.
„Ich wollte gestern nach der Schule mit ihm zum Arzt, wissen Sie. Sein Schrittmacher macht Probleme. Wir haben den Termin verschoben, weil der Fahrstuhl defekt ist und erst nächste Woche geflickt wird.“
„Das tut mir leid.“
„Ja“, kicherte Julia vor sich hin und streckte sich nach der Katze aus, die neben ihr vorbeihuschte. „Ja, mir auch.“

Autorin: Rahel
Setting: Treppe
Clues: Teenager, Rollstuhl, Spinnwirtel, Büroklammer, Jugendstilfenster
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei Nike Leonhard und Monika Fritsch. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Steady oder Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

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