Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Gemächlich schritt Mr. F. (Eigentlich hieß er Fritz Fischer, kein Witz, aber er bevorzugte es aus naheliegenden Gründen, sich Mr. F. zu nennen) durch das spärlich beleuchtete KaDeWe. Er ließ den Schein seiner Taschenlampe nach links und rechts schwenken, so als wäre er auf einer nicht enden wollenden Suche nach etwas, das niemals auftauchen würde. Seine bisher spektakulärste Entdeckung war eine lebendige und außerordentlich wohlgenährte Ratte in der Spielwarenabteilung gewesen. Doch Mr. F. gab nie auf und würde wohl auch noch nach dem Dritten Weltkrieg (falls es denn einen geben mochte) jede Nacht seine Runde durch das Kaufhaus des Westens drehen, unermüdlich im Dienst des Guten und auf der Mission, Einbrecher abzuschrecken, denn wirklich jagen und zur Strecke bringen könnte er sie ohnehin nicht. Wie immer ließ er sich durch nichts ablenken, wachte scharf über die unzähligen und offen gestanden doch eher sinnlosen Luxusgüter, welche hier früher oder später in Würde zu überteuerten Preisen über die Ladentheke gehen würden oder, ihrem, bloß durch ihren Preis gegebenen Zauber beraubt, auf dem Wühltisch landen würden. Nein, Mr. F. hätte nicht eine Sekunde in seiner Wachsamkeit nachgelassen… Der Gedankenstrang riss ab, als er in seine übliche Nachdenklichkeit eintauchte, wie meist erstaunlich abrupt, von einem Moment zum anderen. Die ganzen existentialistischen Fragen hatte er lange hinter sich gelassen, sie waren einfach zu deprimierend gewesen, doch auch sonst bot das Leben andere Dinge, über die man grübeln konnte. Da war zum Beispiel die Frage, wer all die Menschen sein mochten, die Tag für Tag hier ihre Einkäufe tätigten und was sie zuhause so alles taten. Hatten sie Freunde? Vielleicht Feinde? Welsche Duschlotion verwendeten sie und warum? Litt der Teenager, welcher das neue „Call of Duty“ gekauft hatte, vielleicht an Videospielsucht? Fragen über Fragen, mit denen sich Mr. F. jede Nacht die Zeit vertrieb, Hirngespinste spann und sich in ihren verlor, bis schließlich der Morgen dämmerte und ihn jemand von der Tagschicht ablöste. Dann würde er auf sein altes, grünes Fahrrad steigen und gemächlich nach Hause pedalen, bei jedem Wind und Wetter, um dann… Ein heller Blitz zuckte durch seinen Schädel – oder zumindest kam es ihm in der Hundertstelsekunde so vor, bevor er das Bewusstsein verlor.
Als Mr. F. aufwachte, konnte er als erstes eine rote Unterhose sehen. „Ich mache die Wäsche später, Helga“, murmelte er, doch seine Frau antwortete ihm nicht. Dafür konnte er ein verwirrendes Rascheln hören, das aus der Küche zu kommen schien. Verwirrt kniff er die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, was mit einem stechenden Schmerz verbunden war, doch er zwang sich, sich zu konzentrieren. Als er die Augen wieder öffnete begriff er, dass er in der Unterwäscheabteilung auf dem Boden lag, ausgestreckt wie die Beute eines Jagdzuges und dass die vermeintliche Küche der angrenzende Laden war, in dem Elektronik feilgeboten wurde. Benommen und mit einem leisen Stöhnen richtete sich Mr. F. auf und versuchte den Würgereiz zu unterdrücken, der ihn urplötzlich überkam. Was war denn nur geschehen? Er sah sich um, konnte jedoch beim besten Willen nichts erkennen, woran er sich hätte verletzt haben können. Alarmiert begriff er, dass vermutlich ein Einbrecher am Werk war, der ihn niedergeschlagen hatte und er zitterte beinahe vor lauter Aufregung. Endlich war es soweit! Endlich konnte Mr. F. unter Beweis stellen, dass er der große Held war, der er immer zu sein träumte. Vorsichtig schlich er voraus, immer in Richtung der Quelle des Raschelns, das weiterhin aus der Elektronikabteilung zu hören war. Während er sich so vorarbeitete, griff er zu seinem Gürtel, nur um mit Schrecken feststellen zu müssen, dass ihm jemand seinen Taser abgenommen hatte. Ohne die Betäubungswaffe fühlte er sich irgendwie nackt und verwundbar, ganz so wie wenn ein Teil von ihm fehlte – in all den Jahren, die er bereits hier als Nachtwächter arbeitete, war seine Hand jede Nacht immer wieder über den Griff der nicht tödlichen Waffe geglitten, da ihm dies ein beruhigtes und erhabenes Gefühl verliehen hatte. Und ausgerechnet jetzt, im Moment der bittersten Not, hatte er sie nicht zur Hand! Panisch hielt er in seiner Bewegung inne und starrte wie gelähmt auf den Boden, während er sich an einem Metallgehäuse eines Desktopcomputers festklammerte, ganz so als ob er diesen als Waffe verwenden könnte. Nein, er durfte jetzt nicht aufgeben, redete er sich gut zu, in der Hoffnung, so trotz allem noch den Willen aufzubringen, sich irgendwie anzupirschen und der Gefahr zu stellen. All die Jahre hatte er auf diesen Augenblick gewartet, er konnte sich jetzt nicht drücken. Mr. F. nahm einen tiefen Atemzug und griff sich das nächstbeste Objekt, das er als Waffe würde nützen können – er war eine Computermaus, die ihn irgendwie an ein halbes Nunchaku erinnerte, vielleicht würde er sie ja, nachdem er derart viele Kampfsportfilme gesehen hatte, auch so nutzen können. Mit gestärkter Zuversicht und einer bitteren Entschlossenheit richtete er sich auf, schrie los und sprintete auf die Geräuschquelle zu. Zum Teufel mit den Versteckspielen, er würde diesen Gegner mit einem Schlag außer Gefecht setzen, er war Mr. F. und dies war sein Warenhaus!
Er konnte einen Schemen erkennen, der (wohl wegen des Radaus aufgeschreckt) versuchte davonzuhuschen, schwang seine Maus und donnerte sie dem Einbrecher auf den Hinterkopf. Etwas Blut spritzte durch die Gänge, als der Fremde tot vornüber auf sein Gesicht fiel und seine Diebesbeute, eine Plastiktüte voller Memory Cards, auf den Boden fallen ließ. Erstarrt stand Mr. F. da und hielt noch immer die Maus des Todes in den Händen – er wollte schreien, doch er konnte nicht, er hätte ja vor Entsetzen geschrien, wäre es ihm in dem Moment eingefallen …
„Helga, ich gehe heute nicht zur Arbeit“, erklärte Fritz, als er aus dem Schlafzimmer trat und sich etwas verunsichert in dem Wohnzimmer der kleinen Berliner Wohnung umsah.
„Geht es dir etwa nicht gut?“, fragte seine Frau alarmiert und blickte von ihrem Roman auf, wohl wissend, dass ihr Mann in seiner ganzen Karriere als Nachtwächter nur damals gefehlt hatte, als er mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber im Bett gelegen war. Fritz zuckte mit den Schultern und meine noch immer ziemlich abwesend: „Ich hatte gerade einen sehr seltsamen Traum.“