Jan mochte es nicht, sich mit Hilberträumen zu befassen. Nicht etwa, weil er eine rational begründbare Abneigung dagegen hätte, sondern lediglich wegen einer inneren Dissonanz, die er nicht in Worte fassen konnte. Natürlich war das vollkommen widersinnig, doch es hielt ihn nicht davon ab, sich trotzdem in dem Maße mit ihnen zu beschäftigen, welches in seinem täglichen Leben von ihm gefordert wurde, also machte es ihm nichts aus. Die Tatsache, dass er sich als Plattenleger nicht um Hilberträume, Orthonormalbasen oder das zornsche Lemma kümmern musste, war sicher förderlich für seine zufriedene Gleichgültigkeit. Aus demselben Grund konnte er sich auch eine gewisse Ignoranz bezüglich des ersten Weltkrieges leisten, für den er sich nun wirklich überhaupt nicht interessierte, egal wie oft ihm die Signifikanz dieses schmutzigen Grabenereignisses unter die Nase gehalten wurde. Wenn er wollte, müsste er sich überhaupt für gar nichts begeistern können, das würde ohnehin niemand von ihm erwarten. Und genau darum ging es ihm ja eigentlich und deshalb hatte er sich vor fünfzehn Jahren für diese Stelle beworben. Nicht etwa, weil er keine Lust am Entdecken und Aufwickeln der Welt hatte, sondern lediglich deshalb, weil er sich nicht vorschreiben lassen wollte, welche Dinge ihn zu faszinieren hatten.
Jan ging es nicht um akademische Anerkennung und die Bewunderung anderer war für ihn nicht bedeutend, das einzige was ihm wichtig war, war die Freiheit, sich mit dem zu beschäftigen, wonach ihm gerade war. Dafür nahm er bereitwillig in Kauf, dass er immer hinter seinen intellektuellen Mitstreitern zurückbleiben würde, denn solange er nicht artig Rechenschaft über die Schulung seiner wissenschaftlichen Neugier ablegen wollte, würde er damit auch keinen Blumenstrauß gewinnen. Eine Weile lang hatte er sich deshalb vom Gedanken verleiten lassen, dass all seine Bemühungen aussichtslos wären, solange es niemanden gab, mit dem er sie teilen konnte, doch diese Zweifel waren nie lange hängengeblieben. Aber das alles hatte sich heute auf einen Schlag geändert.
Jan hatte immer gedacht, er würde seine Gleichgültigkeit aufgrund einer großartigen Entdeckung verlieren, er würde sich in der Welt der Wissenschaft als Genie präsentieren müssen, weil er sich gezwungen sah, seine Erkenntnisse zum Wohle der Menschheit zu teilen. Was aber tatsächlich geschehen war, entsprach so gar nicht seinen Niveauansprüchen, war dermaßen albern, dass er sich selbst vor seinem Spiegelbild schämte. Nicht etwa eine bahnbrechende Idee, sondern eine Frau war verantwortlich dafür, dass Jan sich von der Heimlichkeit verabschieden wollte. Es war nichts weiter als eine biochemische Reaktion, der lächerliche und dennoch menschliche Wunsch einen Partner zu finden, doch all seine rationalen Bemühungen es zu ignorieren halfen nicht und er konnte nicht länger leugnen, dass er hoffnungslos verliebt war. Aber wie sollte er ihr als einfacher Plattenleger gegenübertreten, sie würde ihm sicher nie eine Chance geben und in durch die oberflächliche Wahrnehmung der Gesellschaft als unzulänglich abstempeln.
Er wusste genau, was er nun zu tun hatte, immerhin war es simpel genug. Es brauchte nichts weiter als eine kurze E-Mail mit einem zugegebenermaßen umfangreichen Anhang, damit die intellektuelle Elite ihn mit einem feuchten Händedruck willkommen heißen würde – oder etwa nicht? Würden sie in ihm dieselbe Genialität erspähen, die er all die Jahre über so liebevoll kultiviert hatte, oder würde sein unbeeindruckender Lebenslauf zu sehr darüber hinwegtäuschen? Vielleicht aber, und das musste er sich widerwillig vor Augen halten, waren seine geistigen Fähigkeiten nicht das, was er sich einzureden pflegte. Konnte das sein? War es tatsächlich möglich, dass sein Intellekt nichts weiter war als das Produkt einer feinsäuberlich ausgeführten Selbstmanipulation? Es gäbe nur einen Weg das herauszufinden, doch nachdem die E-Mail erstellt war und er seine Dokumente angefügt hatte, zögerte er gerade lange genug, um zum einzigen Schluss zu kommen, der sein zerbrechliches Selbstbewusstsein zuließ: Er sollte verdammt sein, würde er sein Ego wegen einer Frau aufs Spiel setzen.