Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Archie, du verdammtes Greenhorn“, murmelte John, während er sich fahrig eine Kippe anzündete und sich auf dem Parkplatz der Autobahnraststätte umblickte. „Ruhe in Frieden.“
„Er wollte ja unbedingt dabei sein“, kommentierte Selma trocken und lehnte sich an den Laternenpfahl neben ihm. Es stank nach Abgasen und der Nieselregen aus dem nebligen Himmel vermochte die Stimmung auch nicht zu bessern. John wandte sich ihr zu und entgegnete gereizt: „Schon, aber trotzdem steckt jetzt ne Kugel in seinem Schädel. Wir hätten ihn nicht mitnehmen dürfen.“
Sie schüttelte den Kopf und sagte erst nichts, konnte es sich dann aber doch nicht verkneifen: „Ja, dann wärst du jetzt tot in der Gasse liegengeblieben.“
Er murmelte etwas unverständliches, das Selma über den Lärm der nahe vorbeirasenden Lastwagen nicht verstehen konnte, doch sie hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, was er eben gesagt hatte. Nun ebenfalls gereizt antwortete sie: „Du bist kein Soldat mehr und das hier ist nicht Afghanistan, also vergiss endlich das Gerede von Ehre und Ruhm.“
„Wir haben jahrelang auf demselben Rasen gespielt“, entgegnete John leise mit einem Blick, den sie als bedrohlich empfand. „Sei nicht so ein gefühlskalter Arsch, Sel, wir sprechen hier über Archie!“
Sie lachte rau und nahm einen Schluck aus ihrer Cola-Dose. „Das hier ist nicht deine Welt, Johnny. Was denkst du denn, habe ich getan während du da drüben auf die Taliban geballert hast? Archie ist in guter Gesellschaft, er war nicht der erste, den es bei ein einem Job erwischt hat. Wenn man in dieser Branche einen Coup plant, muss man damit rechnen, dass es nicht alle heil raus schaffen. Ein Missverständnis reicht und du bist hinüber, ohne gefaltete Flagge oder Salutschüsse.“
John seufzte leise. „Hast Recht, trotzdem sollten wir Archie einen Augenblick Respekt zollen.“
Sie nickte und warf die leere Dose auf den von Rissen durchzogenen Belag. „Ja, er war schon eine Klasse für sich. Weißt du noch, als er uns mit dem Gartenschlauch überrascht hat?“
Nun lachte sogar er ein wenig. „Wie alt waren wir da, zwölf?“
„Ich denke schon, ja.“ Sie grinste bei dem Gedanken an ihre Jugenderinnerungen. „Ich hatte damals einiges zu erklären, als ich pitschnass zuhause ankam.“
„Und nun liegt er in einem Leichensack, bloß weil ein blöder Nachtwächter glaubte, sein Bohrer sei eine Knarre – wegen einem verdammten Missverständnis!“
Sie schwiegen beide einige Zeit, bis John schließlich die Erinnerungen für den Moment abgeschüttelt zu haben schien und vorschlug: „Holen wir noch was zu essen und neue Kippen, bevor wir weiterfahren? Wir können ja einen unauffälligen Blick auf die Glotze werfen.“
„Klar“, entgegnete sie und stieß sich locker von der Straßenlaterne ab. „Hoffen wir mal, dass sie nicht schon unsere Bilder in den Nachrichten zeigen.“
„Woher auch? Es gab keine Kameras und der Nachtwächter hat uns nicht gesehen.“ Ein stummes Grinsen glitt über ihre Lippen, während sie hinzufügte: „Wenn ich ehrlich sein soll, viel länger hätte ich mich nicht mehr an dem Fenstersims festhalten können.“
„Wenn wir sauber aus der Sache rausgekommen sind, bist du echt ein Genie“, antwortete John zwar aufrichtig, doch noch immer etwas lustlos. „Burger oder Pizza?“
„Beides und viel Kaffee“, entgegnete Selma. „Wenn wir uns abwechseln, können wir die Nacht durchfahren und sind morgen Nachmittag an der Westküste. Dort sollte uns niemand kennen.“
„Das ist nicht deine erste große Flucht, oder?“, fragte John. „Ich bin mir mehr gewohnt anzugreifen.“
„Nein, das ist schon die dritte. Es gibt zwei Städte in diesem Land, die ich nie wieder besuchen werde. Aber Angriff kannst du vergessen, das funktioniert auf dem Schlachtfeld besser, wo du deine Ekstase-Pillen kriegst.“
John schwieg kurz und murmelte dann: „Manchmal frage ich mich, warum ich mich darauf eingelassen habe, Sel.“
„Du brauchtest das Geld und jetzt sollten wir für ein paar Jahre ausgesorgt haben – so schlecht war der Job auch wieder nicht.“
Er dachte kurz darüber nach und meinte dann: „Vielleicht – was geschehen ist, ist geschehen.“
„Mach dich nicht wahnsinnig, Johnny. Du hast da drüben auch mehr als einen Kameraden verloren. Archie kannte das Risiko, er wollte mitmachen und hat den Preis dafür bezahlt. Das Leben geht weiter.“
Er schüttelte kaum merklich den Kopf und hatte das Gefühl nun zu begreifen, warum sie beide sich so unterschiedlich entwickelt hatten, wieso er Soldat und sie Berufskriminelle geworden war. Der Gedanke daran, dass sein Kamerad ohne die gebührende Ehre in einem Armengrab landete, war ihm unerträglich. Es wollte ihm einfach nicht gelingen so wie sie zu denken, ganz egal was er tat. Und trotzdem hatte er bloß kurz gezögert, als er kein Geld mehr gehabt hatte und ihn die Armee nicht mehr unterstützen wollte. Selmas Angebot war einfach zu verlockend gewesen und sein Groll auf den Staat und die Wirtschaft groß genug, so dass er sich einfach hatte überzeugen lassen – wenn man nichts mehr zu verlieren hatte, ging man ungewöhnlich hohe Risiken ein und tat Dinge, die man sich noch ein Jahr zuvor niemals zugetraut hätte. „Bloß die Sache mit der Ehre lässt mir keine Ruhe“, erklärte er schließlich, mehr an sich selbst denn seiner Kameradin gerichtet. Sie zuckte fatalistisch mit den Schultern, während sich die Tür vor ihnen öffnete, dann traten sie hinein.
„Okay, weiter geht’s“, sagte Selma ruhig, während sie aus dem Raststätten-Shop traten und den geparkten Wagen entlanggingen, volle Essenstüten in den Händen. Bald darauf waren sie wortlos bei ihrem Wagen, einem unauffälligen dunkeln Sedan, angelangt und eingestiegen. John dachte an die beiden Sporttaschen voller Hunderter im Kofferraum, während Selma den Wagen ruhig vom Parkplatz der Raststätte lenkte und dann in den Verkehr auf der Autobahn einfädelte. „Ja, so schlecht ist der Job nicht gelaufen“, murmelte John. „Auf Wiedersehen, Archie.“ Im Radio spielte ein melodischer Jazz-Song und vor ihnen zeichneten sich in der Abenddämmerung die Ausläufer der Hügelketten ab, welche sie noch von einem neuen Leben trennten.