Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Trudi Taube hatte es sich in ihrem Nest am Dachgiebel gemütlich eingerichtet und beobachtete den Verkehr auf der Straße unter ihr. Im Hof der Kaugummifabrik gegenüber pickten ein paar Spatzen gelangweilt Krumen und warteten begierig darauf, dass die Arbeiter ihre Pausensandwiches aßen. Trudi mochte Spatzen nicht, die Viecher flogen stets in Scharen an und klauten alles, was man in den Schnabel nehmen wollte – eine wahre Plage. Ein wenig wehmütig dachte Trudi an die Zeit zurück, in der sie neben einem Hühnerstall genistet hatte. Hennen waren wesentlich angenehmere Nachbarn, sie gluckten vor sich hin, legten Eier und taten sonst eigentlich nichts. Der Hahn dagegen war eine andere Geschichte, nach solche einem Lärm am Morgen krähte echt niemand! Darum und, viel wichtiger, weil sie versehentlich ihr Nest mit einer Duftkerze in Brand gesteckt hatte, war Trudi hierhin umgezogen. Hin und wieder wunderte sie sich, ob der Vanillegeruch es wert war, in einem leicht entflammbaren Nest mit Feuer zu spielen, letztendlich entschied sie sich allerdings immer für ihre geliebten Duftkerzen – man gönnte sich ja sonst nichts.
Ein lautes Flattern und Quaken erfüllte die Luft, als Elsa Ente angeflogen kam. Wie jeden Tag kam die Nachbarin auf ein kurzes Schwätzchen vorbei und brachte damit Abwechslung in den Alltag. „Hallo Elsa“, begrüßte Trudi das Federtier, das sich auf dem Nestrand niederließ. „Wie läuft es im Wasser so?“
„Gut, gut, alle werfen Brot in den See. Und bei dir?“
„Ich hole mir mein Brot noch selber“, scherzte Trudi, bevor sie ernst wurde. „Im Grunde gut, zu denken gibt mir bloß die Rezession. Meine mit der Schwanzfeder gemalten Bilder laufen gerade ziemlich schlecht. Da hast du es als Zeitungsente besser, jeder will wissen, was in der Wirtschaft läuft.“
Elsa gab ein zustimmendes Quaken von sich: „Vermutlich hast du recht. Doch was wäre, wenn du etwas anderes als die Fabrik gegenüber malst? Hübsche Küken beispielsweise?“
„Hübsche Küken sind was fürs Fernsehen, ich male bevorzugt, was ich sehe und in meinem Nest sind keine hübschen Küken. Außerdem ist die Ausrüstung inklusive Wasser und Pinselseife nicht transportabel und mit farbgetränkten Federn flattert es sich schlecht.“
„Wer weiß, womöglich findest du eine Marktlücke“, schnatterte Elsa und machte es sich auf dem Nestrand bequem. „Heute Morgen bin ich beim Zeitungsaustragen über super Nachrichten gestolpert.“
„Was ist denn passiert?“
„Anscheinend kommt Kommodore Kurt Kormoran in die Stadt, um eine Rede zu halten. Wenn das wahr ist, werden die Schwan-Sturmtruppen, die hier übernachten, die Wirtschaft ein bisschen anzukurbeln.“
„Ob die Gemälde von Kaugummifabriken mögen?“
„Vielleicht solltest du halt dein Nest woanders aufschlagen?“, schlug Elsa vor. „Komm ans Wasser, da kannst du Schwäne malen, die verkaufen sich prima – ein bisschen Diversität in deinen Bildern wird den Verkäufen wohl kaum schaden. Und die Schwanzfeder kannst du dort ebenfalls gleich waschen.“
„Ich bin bislang einmal umgezogen und auch nur, weil das Nest abgefackelt ist. So lange das Nest nicht brennt, bleibe ich, wo ich bin, das ist die Devise.“
Skeptisch musterte Elsa das Stroh, auf dem sie saß. „Wird bei deinem Kerzentick eh früher oder später passieren, dein Nest ist nicht aus Asbest.“
„Das ist gegen die Bauvorschriften, das gäbe Probleme mit dem Amt und dem Denkmalschutz noch dazu“, seufzte Trudi. „Mal sehen, mir wird was einfallen.“
„Bestimmt“, meinte Elsa und schaute auf die Vogelbeinbanduhr. „Oh je, schon vier Uhr? Ich muss gleich das Abendblatt ausliefern.“
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, flatterte Elsa Ente von dannen und Trudi Taube machte sich daran, ihren Malkasten auszupacken.
Spät in der Nacht landete Elsa Ente erneut neben dem Dachgiebel. Trudi Taubes Nest war leer, offenbar war die Kollegin auf der Suche nach einem Mitternachtssnack. Elsa hüpfte auf den Nestrand und starrte auf das Licht der Duftkerze, die Trudi hatte brennen lassen. Wenn es nach Elsa ginge, wäre ihre beste Freundin längst an den Hafen gezogen, dann hätte Elsa in jeder Pause Gesellschaft und müsste sich nicht ständig anhören, wie schwer es sei, Gemälde einer hässlichen Fabrik zu verkaufen. Manchmal wünschte sich Elsa, sie wäre noch dieselbe Ente wie damals, als sie der Kerze einen kleinen Schubser gegeben und den Nestbrand ausgelöst hatte. Das Gekrähe dieses Hahns war unerträglich gewesen, also hatte sie getan, was getan werden musste, um Trudi zum Umziehen zu motivieren. Eine Änderung, eine Verbesserung in Trudis Leben, war überfällig, überlegte Elsa, streckte einen Flügel aus und hielt dann doch inne. Nein, sie durfte der Verlockung, die Probleme ihrer besten Freundin heimlich mit Feuer zu lösen, nicht nachgeben. Sicher, Elsa fand Feuer toll und hatte schon diverse Dinge angezündet, jetzt war sie aber älter und weiser geworden – weise genug, um zu wissen, dass das Trudis Nest tabu war. Es gab genug andere Nester, die man in Brand stecken konnte.
Die Ente wurde aus ihren Grübeleien gerissen, als eine Motte in die Flamme segelte und explodierte. Als Feuerball fiel sie ins trockene Stroh, das sofort zu lodern begann. Elsa quakte begeistert, das Universum hatte sie erhört! Ihre beste Freundin würde endlich in ihre Nähe ziehen, ihnen beiden standen fabelhafte Zeiten bevor, daran hegte sie keinen Zweifel. Beschwing sprang Elsa vom Nestrand, breitete die Flügel aus und setzte dazu an, davonzuflattern, als sie Trudi bemerkte, die angeflogen kam und entsetzt gurrte: „Elsa, was ist los?“ Sie machte eine Pause und starrte auf die neben den Flammen stehende Ente, deren begeisterten Ausruf sie zuvor gehört hatte. „Hast du etwa mein Nest angezündet? Ich dachte, ich könnte dir vertrauen?“