Lena fror. Sie drehte am Regler für die Klimaanlage. Eine Kältewelle war im Oktober über Österreich hereingebrochen. Dunkelheit umgab Lenas Auto. Sie gab mehr Gas. Die Autobahn war wie leergefegt. Es war schon geraume Zeit her, seit sie ein anderes Auto gesehen hatte. Mit einem Blick auf ihr Navigationsgerät stellte Lena fest, dass es bereits 20 Uhr war. Die aktuelle Ankunftszeit betrug 23:31 Uhr. Obwohl es im Auto allmählich wärmer wurde, fröstelte Lena. Die seltsame Kälte, die sich seit dem Streit mit der Mutter in ihrem Inneren ausgebreitet hatte, wurde stetig schlimmer. Lena würde niemals zu Mamas Hochzeit mit diesem Heiko kommen. Mama gehörte zu Papa. Daran gab es keinen Zweifel. Mama hatte Papa vergrault. Vertrieben. Hatte sie es nicht ertragen können, dass Tochter und Mann ein Herz und eine Seele gewesen waren, hatte sie es als Beleidigung empfunden? Tatsächlich hatte Mama die beiden Letzen Endes völlig entzweit. Und Papa aus dem Haus gejagt. Seitdem herrschte Funkstille zwischen Lena und ihrem Vater. Lena besuchte gerne ihre Mutter in Wien, aber zu der Hochzeit mit diesem Heiko in zwei Tagen blieb sie nicht.
Die Straße sah die ganze Zeit gleich aus. Baum, Baum, Busch … Weißer Strich, weißer Strich, weißer Strich … Seitlich die Leitplanken. Weiterhin kein anderes Auto. Lena blickte erneut auf ihr Navigationsgerät. Immer noch 20 Uhr. Ankunftszeit immer noch 23:31 Uhr. Die Zeit zog sich lang wie ein Kaugummi.
Als Lena nach einer gefühlten Ewigkeit auf das Navigationsgerät schaute, war die Anzeige nach wie vor unverändert. Wo war ihr Zeitgefühl geblieben? Nervös zählte sie die Sekunden. Bis 60. Keine Veränderung. Zur Sicherheit zählte sie sogar etwas weiter. Trotzdem blieb die Zeit bei 20 und der Ankunftszeitpunkt bei 23:31 Uhr stehen. Möglicherweise war das Navigationsgerät hinüber. Lena schnippte ärgerlich dagegen. An der Uhrzeit änderte sich nichts. Beim Ausatmen wich weißer Dampf aus Lenas Mund. War die Klimaanlage auch kaputt? Eine Eiseskälte breitete sich im Auto aus. Lena beobachtete alarmiert, wie ihre Finger blau wurden. Lena wollte runter von dieser Autobahn. Die Situation wurde ihr extrem unheimlich. Käme wenigstens ein anderes Auto an ihr vorbei. Ein klitzekleines Lebenszeichen von einem Menschen. Lena schaltete das Autoradio ein. Es rauschte. Eilig wählte sie sich durch alle Sender. Überall Funkstille. Warum gab es auf dieser Straße keine Schilder? Lena musste hier weg. Das Navi würde auch in 5 Stunden das Gleiche anzeigen.
Lena lenkte ihr Auto auf den Seitenstreifen und hielt an. Schwankend stieg sie aus und schloss die Tür des Wagens. Sie kletterte über die Leitplanke und trat ins Leere. Kopfüber stürzte Lena einen Abhang hinunter. Auf nassem Gras blieb sie liegen. Plötzlich war da nur noch gleißend helles Licht. Wie einer intensiven Bestrahlung ausgesetzt, schloss Lena überfordert ihre Augen.
Lena stand wieder auf den Beinen. Es war warm und hell. Leute führten gutgelaunt Gespräche. Menschliche Stimmen wirkten auf einmal ziemlich beruhigend. Allmählich drang das Gesehene zu Lena durch. Sie befand sich in einem Café. Lena erkannte es. Es war das „Café Bellaria”, Mamas liebstes Wiener Kaffeehaus. Ohne ihre Beine bewusst zum Laufen nutzen zu wollen, setzte sie sich in Bewegung. Zielstrebig ging sie auf Mamas Lieblings-Sitzecke zu und nahm auf der weinrot gepolsterten Bank Platz. Entsetzt registrierte Lena, dass sie keine ihrer Bewegungen selbst veranlasste oder steuerte. Noch entsetzter beobachtete sie, wie ihre Hände die Speisekarte an sich nahmen. Sie schaute wie von selbst auf und blickte in die Richtung einer Frau, die ihr gefolgt war. Irritiert wurde Lena bewusst, dass es sich bei dieser Frau um Jutta, Mamas Busenfreundin, handelte. Jutta warf Lena ein freundliches Lächeln zu und nahm Platz.
Lena spürte, wie ihr Mund ein verkrampftes Lächeln formte. Vergeblich versuchte sie ihren Kopf Jutta zuzuwenden, aber dieser wollte unbedingt die Speisekarte studieren und rührte sich keinen Zentimeter. Gezwungenermaßen las Lena die Speisekarte, als sie Jutta vernahm und ihr Kopf sich schließlich wie von selbst Mamas Freundin zuwandte.
„Du siehst unglücklich aus Antje”, stellte diese besorgt fest.
Wieso Antje? Antje war der Name ihrer Mutter. Und zum Verwechseln ähnlich sahen sie sich wirklich nicht. Im Gegenteil: Lena sah ihrer zarten Mutter überhaupt nicht ähnlich. Sie war groß und dunkelhaarig wie ihr Vater. Lena wollte Jutta auf ihren Irrtum hinweisen.
Stattdessen meinte ihr Mund: „Ach … es ist wegen Lena.”
Lena hätte sich vor Schreck gerne in Luft aufgelöst. Sie klang wie ihre Mutter. Sie musste in ihr feststecken! Sie konnte ihren Körper nicht mehr steuern, weil es nicht ihr Körper war. Was war das für eine absurde Simulation? Lena wollte mit aller Willenskraft aus dem Körper ihrer Mutter ausbrechen, aber es war unmöglich. Ihr blieb nichts anderes übrig als abzuwarten.
„Was ist mit ihr?”, fragte Jutta rücksichtsvoll.
Lena fühlte sich sehr unwohl dabei, ihrer Mutter zuzuhören, wie sie mit Jutta über sie sprach.
„Sie ist nach Hause gefahren”, seufzte Mama.
Jutta schlug sich die Hand auf den Mund und stellte fest: „Zwei Tage vor deiner Hochzeit!”
Der Kellner kam und erkundigte sich freundlich: „Was darf ich Ihnen bringen?”
„Einen Blauburger bitte”, antwortete Jutta.
Typisch Jutta mit ihrem Magerwahn. Lena hätte sich gewundert, wenn Jutta außer Rotwein noch irgendetwas Essbares bestellt hätte.
Mama wollte ebenfalls einen Blauburger, dazu Spinat-Schafskäsestrudel und zum Nachtisch einen Marmeladenpalatschinken. Das passte. Mutter kreierte gerne spezielle Menüs und ein Nachtisch durfte niemals fehlen.
Der Kellner dankte und ging.
„Warum?“, setzte Jutta das Gespräch fort.
„Akzeptiert sie Heiko immer noch nicht?” Lena bekam mit wie ihr Kopf sich traurig schüttelte und Mamas Herz sich schmerzhaft zusammenzog.
„Du solltest endlich ein offenes Wort mit ihr reden”, sagte Jutta unnachgiebig.
Mamas Körper zuckte vor Schreck zusammen.
„Das geht nicht”, wehrte sie ab.
„Warum? Sie ist 23. Erwachsen genug, um es zu erfahren.”
Mama schüttelte entschlossen den Kopf. Der Kellner kam und servierte den Frauen ihren Rotwein.
„Nein”, erklärte Mama. „Sie hat ihn so geliebt. Tief im Innern tut sie es noch immer!”
„Es ist unfair. Unfair, Lena und dir selbst gegenüber. Du hast sie auseinandergerissen, ihn aus dem Haus geworfen. Für Lena bist du der Sündenbock. Dabei wolltest du sie beschützen! Es ist an der Zeit, alles aufzuklären!”, rief Jutta jetzt sehr streng.
Mama schwieg. Lena war es ganz mulmig. Gab es Dinge, von denen sie nichts wusste? Sie spürte Mamas schnell pochenden Puls. Der Kellner brachte den Schafskäsestrudel. Lena beobachtete wie ihre Hand lustlos darin herumstocherte.
Jutta fuhr fort: „Wenn Lena wüsste, wie er war … was er war … dann könnte sie damit abschließen. Und sie könnte Heiko endlich offen gegenübertreten.“
Mamas Herz raste. Lena merkte, wie sie schwitzte. Die Hände ihrer Mutter zitterten, weswegen sie die Gabel weglegte und die Hände im Schoß faltete.
Dann zischte sie: „Es würde Lenas Herz brechen wenn sie wüsste, dass ihr geliebter Vater ein Kinderschänder war. Einer, der auch nicht vor ihr Halt gemacht hätte, als sie weiblichere Formen annahm! Wie er sie manchmal angesehen hat! Ich musste ihn von ihr fernhalten!”
Lena wäre vor Entsetzen am liebsten aufgesprungen. Gefangen im Körper der Mutter erlebte sie mit, wie diese ständig schluckte, um nicht zu weinen. Trotzdem wurden Mamas Augen nass und sie blinzelte hastig.
„Ich weiß”, beschwichtigte Jutta.
Mama schob den Schafskäsestrudel weg. Der Kellner bemerkte es, kam zum Tisch, nahm den Teller und fragte: „Entschuldigung, war etwas nicht in Ordnung?”
Mama verneinte. „Mir ist bloß gerade nicht gut.”
„Wollen Sie noch Ihren Palatschinken?”
„Nein. Tut mir Leid. Ich trinke einfach meinen Wein.“ Sie nahm direkt einen großen Schluck.
Der Kellner musterte sie argwöhnisch, meinte aber lediglich: „Natürlich, kein Problem.”
Als er gegangen war, räusperte sich Mama und schaute vor sich hin. Minutenlang sagten beide Frauen nichts und tranken ihren Wein.
Da ergriff Lenas Mutter das Wort: „Weißt du … so wie du die Geschichte kennst, könnte ich ihr es vielleicht schmackhaft machen. Es wäre nur die halbe Wahrheit. Und wenn überhaupt, bin ich Lena die ganze Wahrheit schuldig.”
Jutta musterte Mama mit gerunzelter Stirn.
Mama fuhr fort: „Ich habe dir nicht alles gebeichtet. Da war mehr.”
Jutta streichelte Mama über den Handrücken.
Lena spürte, wie Mama noch einmal tief durchatmete. Dann begann sie zu berichten: „Ich habe von seiner Neigung schon viel früher erfahren. Schon bevor Lena geboren wurde. Eines seiner … Opfer … wurde schwanger von ihm. Die Eltern des zwölfjährigen Mädchens, eine von seinen Klavierschülerinnen damals, waren furchtbar wütend. Die suchten mich auf und verlangten, dass wir das Kind, wenn es geboren war, bei uns aufnahmen und großzogen. Dann würden sie keine Anzeige erstatten. Eine weitere Bedingung war, den Kontakt abzubrechen und das Kind darüber in Unwissenheit zu lassen. Ich war damals so überrumpelt und schockiert. Ich stimmte einfach zu. Wir haben Lena aufgenommen und großgezogen. Zuerst war sie für mich ein Fremdkörper. Irgendwann entwickelte ich wahre Muttergefühle für sie und hätte für sie mein Leben gegeben. Er durfte Lena nichts antun! Bis sie ein Teenager war, fühlte ich mich meinem Mann gegenüber wie gelähmt und lebte stumm neben ihm her. Aber dann musste ich Lena beschützen. Und ich habe gewonnen. Wir waren sicher vor ihm. Nur Lenas bedingungslose Liebe habe ich verloren.”
Jutta stütze ihr Kinn auf die Ellenbogen und starrte Mama fassungslos an. Tränen liefen an ihren Wangen herunter. In Lenas Gedanken drehte sich alles. Sie wusste nicht was sie denken oder fühlen sollte. Nur eines war klar: Ihre Mutter war für Lena in diesem Moment mehr ihre Mutter, als jemals zuvor.
Da umgab Lena erneut das gleißend helle Licht. Sie erlangte die Kontrolle über ihre Augen zurück und schloss diese schnell.
Nasses Gras. Lena fühlte nasses Gras an ihren Händen und öffnete die Lider. Sie lag auf dem Bauch. Neben ihr führte ein kleiner Hang hoch zur Straße. Sie stand auf, kletterte hinauf und erkannte sofort ihr Auto auf dem Seitenstreifen. Erleichtert bemerkte sie die vereinzelt vorbeifahrenden Autos.
Lena stieg ein und startete den Motor. Das Navigationsgerät zeigte 20:05 Uhr an. Ankunftszeitpunkt 23:36 Uhr. Erfreut tätschelte Lena ihr Navi und schaltete es gleich aus. Sie fuhr los, verließ an der nächsten Ausfahrt die Autobahn und nahm direkt die andere Richtung, zurück nach Wien. Die Klimaanlage verströmte im Auto eine wohlige Wärme.
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Schöne Geschichte. Gut Geschrieben.