Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Grace lehnte sich in dem übergroßen Liegestuhl zurück und nahm einen Schluck von ihrem Eistee. Die kaum bewohnte Insel in der Karibik war wirklich traumhaft und sie wollte jede Sekunde ihrer wohlverdienten Ruhe genießen. Mit ihrer Hand fuhr sie fahrig durch ihre vom Wind zerzauste Kurzhaarfrisur, um etwas Ordnung in das Chaos zu bringen. Sie schloss die Augen und lauschte abwesend dem Rauschen der Wellen, die über den weitläufigen, mit Palmen übersäten Sandstrand brandeten und war bereit, jeden Augenblick einzuschlafen, als plötzlich jemand die Sonne ausknipste. „Was?“, schrie sie entsetzt auf und fuhr aus ihren Liegestuhl hoch, nur um im nächsten Moment zu begreifen, dass ihr eine Gestalt ins Licht getreten war. Ihr langjähriger Arbeitskollege und guter Freund Juan stand vor ihr, einen Drink in der Hand und ein breites Grinsen auf dem Gesicht. „Du bist immer unglaublich schreckhaft“, erklärte er amüsiert, während er zu dem Liegestuhl neben ihr schlenderte und sich setzte. Grace schüttelte verwirrt den Kopf, lehnte sich wieder zurück und meinte: „Das hast du absichtlich gemacht, oder?“
Er zuckte mit den Schultern. „So halb, aber mit dieser Reaktion habe ich nicht gerechnet. Du hast in etwa so dreingeschaut wie Officer Ripley in Alien und dazu wirken deine Augen in diesem Licht so richtig gruselig Himmelblau.“
„Wenn du meinst“, schmollte Grace und wollte ihre Aufmerksamkeit gerade dem neben ihr liegenden Buch widmen, als Juan weitersprach, diesmal etwas ernsthafter: „Sag mal – warum wolltest du ausgerechnet jetzt Urlaub nehmen und hier herkommen?“
„Wegen der Adventszeit“, entgegnete sie. „Das ist die schlimmste Zeit des Jahres.“
„Wieso das denn?“, frage er erstaunt. „Ich mag diese Vorweihnachtsstimmung.“
„Also, da hätten wir all die voll mit Geschenken bepackten und sehr aggressiven Menschen in der Stadt, dann all der Glühwein, der den Leuten nur glühende Nasen beschert und schließlich den ganzen Stress, weil man selbst Geschenke kaufen muss.“
„Das verstehe ich jetzt nicht“, murmelte er. „Ich mag das Geschenkekaufen und die Menschenmaßen, sogar die von der Heilsarmee, die Weihnachtslieder singen.“
„Oh nein, nicht die!“, rief sie aus und fügte hinzu: „Die sind für mich auf demselben Niveau wie Mistelzweige, Al-Kaida und Technomusik: Einfach unerträglich!“
„Du bist eine unglaubliche Misanthropin“, lachte Juan und nahm einen großen Schluck von seinem Drink. Der junge Anwalt trank zwar ab und an, doch nach langjähriger Freundschaft wusste Grace, dass er schon nach wenigen Schlucken angeheitert war, was ihre gewohnt chaotischen Diskussionen erklärte.
„Was denn?“, fragte sie. „Ich bitte dich, Fest der Liebe? Und dann muss man auch noch einen Monat Geschenke suchen und auf seine eigenen warten, bevor man sie kriegt? Der Advent ist eine nicht enden wollende Warteschleife mit Fahrstuhlmusik, nur um sich dann am Ende mit der Familie zu streiten.“
„Du kannst ja statt streiten einfach prozessieren“, schlug er grinsend vor. „Immerhin gewinnst du ziemlich oft vor Gericht.“
„Das liegt nicht daran, dass ich gut bin, sondern dass ich gute Mandanten habe“, entgegnete sie lachend. „Ich meine ja nur, jeder Richter hat mit einem Typen Mitleid, der wegen der Höhe von seinem Gartenzaun verklagt wird.“
„Mir gefiel der besser, der sich ein Krokodil im Wohnzimmer halten wollte“, entgegnete er lachend. „Einfach episch.“ Er machte eine Pause und streckte sich faul, bevor er hinzufügte: „Trotzdem mag ich die Adventsstimmung, es ist wie wenn Vorfreude und ein Gefühl von Frieden in der Luft liegen.“
Grace zuckte mit den Schultern und murmelte: „Um Himmels willen, du klingst ja geradezu, als ob du verliebt wärst.“ Sie und Juan waren schon immer sehr verscheiden gewesen, doch sie hatte ihre kleinen und nicht besonders ernst gemeinten Zankereien als Bereicherung und gute Unterhaltung in dem oft langweiligen Alltag in der Kanzlei empfunden. Und Juan hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, sie zu erschrecken, was sie zwar manchmal nervte, doch wenn sie ganz ehrlich war musste sie zugeben, dass sie es ganz amüsant finden konnte. Er sah zu ihr herüber und murmelte: „Wer weiß, vielleicht bin ich das ja.“
Grace brauchte einige Zeit, bis sie begriff was er meinte und sie wäre beinahe wieder aufgesprungen, doch sie beherrschte sich – irgendwie hatten sie wohl beide schon lange damit gerechnet, dass dies eines Tages passieren würde. Es hatte genügend Zeichen gegeben, genügend unausgesprochene Dinge, die zwischen ihnen in der Luft zu liegen schienen. Sie schwieg und wusste erst nicht, was sie sagen sollte, bis sie sich schließlich einen Ruck gab und ihren Fluchtinstinkt überwand und mit aller möglichen Überzeugung erklärte: „Egal was passiert, ich werde die Adventszeit weiterhin hassen, das weißt du schon?“