Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Das Gras ist feucht und die abgebrannte Stelle, auf der bis letzten Sommer immer unser Grill gestanden hatte, verströmt den Geruch von nasser Pappe. Gestern ist meine Frau gestorben und hinter Messners lieblos zusammengezimmerten Schuppen sehe ich eine rote Mütze auf und ab wippen; ein Kind, das sich durch den Regen nicht vom Schaukeln abhalten lässt. Ich sammle den letzten Gartenzwerg auf und werfe ihn, zusammen mit den Essensresten von heute Mittag, in die große Mülltonne, währendem ich mir das Hirn zermartere um mich zu erinnern, wo zum Teufel mein Schlagbohrer geblieben war. Morgen werde ich keine Zeit haben, der Termin mit dem Bestatter wird sicher ewig lange dauern, aber spätestens Übermorgen will ich diesen vermaledeiten Schrebergarten dem Erdboden gleich machen. Martha hatte lange leiden müssen und alle hatten sie, und auch mich, wegen ihrer nicht enden wollenden, kräftezehrenden Krankheit bemitleidet. All das geheuchelte Bedauern für den erbärmlichen Zustand meiner Frau hatte sie blind gemacht, hatte ihren Blick alleine auf die sonderbar fragile Martha geleitet und mein stetig strahlender werdendes Lächeln wurde als alters- und stressbedingte Eigenheit abgetan. Sie alle kamen mit Blumensträussen, Schokolade und anderem unnützen Kram und als sie die Geduld, auf ihren Tod zu warten dann doch endlich verloren hatten, wurden die Besuche kürzer, spärlicher; gut so. Endlich konnte ich meiner Freude über die Qualen meiner Ehefrau, mit welcher ich die letzten achtundfünfzig Jahre geteilt hatte, freien Lauf lassen.
Hier, im städtischen Niemandsland der Schrebergartengesellschaft, hatte Martha ihre kleinbürgerliche Erfüllung gefunden. Hier konnte sie die viel zu mächtigen Zucchini ziehen, welche sie unseren Kindern und später auch deren Kindern aufzudrängen pflegte und hier konnte sie mit ihren bissigen Freundinnen Kaffee und Kuchen vertilgen und so tun, als hätte man sich auf der Landresidenz getroffen und nicht im dicht besiedelten Grün der Agglomeration. Ihrem vordergründig gutmütigen Wesen verdankte sie die gute Beziehung zu den Nachbarn in den winzigen quadratischen Gartenparzellen neben uns und währendem einige unserer flüchtigen Schrebergartenfreunde mit uns gemeinsam ergrauten, zogen andere aus und machten Raum für neue Gesichter. Martha hatte mindestens zwanzig Briefe an die Liegenschaftsverwaltung geschrieben, als ein junges, dunkelhäutiges Paar die Parzelle vom verstorbenen Peter übernommen hatte; sie wollte die Neger nur zum Unkraut jäten im Garten.
Hannes kommt schlendernd in seinen grünen Gummistiefeln zwischen den vielfältig gestalteten und teilweise verwahrlosten Häuschen hindurch und als ich sehe, dass in dem verschlissenen Weidenkorb, welcher an seinem angewinkelten Unterarm baumelt, frisch geerntete Blaubeeren liegen, winke ich ihm in freundschaftlicher Manier zu. Einer der Vorteile die man genießt, wenn die Frau nach unsäglichem Leiden endlich das Zeitliche gesegnet hat war, dass alle sich verpflichtet fühlen die schönen Dinge des Lebens mit dir zu teilen; so viel hatte ich jetzt schon begriffen. Mein alter Grillkumpane begrüßt mich mit gespielter Trauer im Blick und schenkt mir, wie erwartet, seine Tagesausbeute, ja, er bietet mir sogar an die Beeren für mich zu waschen. Ich bedanke mich artig und noch bevor er mir zu meinem ach so tragischen Verlust kondolieren kann, nehme ich das dreist erschlichene Geschenk an mich und entschuldige mich unter einem Vorwand. Die Tür des todgeweihten Gartenhäuschens klickt hinter mir ins Schloss und bald darauf dreht meine heimliche Lieblingsplatte unter der Diamantnadel ihre gleichmäßigen Runden; Nina Simones rauchige Stimme erlöst mich von meinen Zweifeln.
Martha war stets dieselbe geblieben. Ich hatte schon vor unserem ersten Rendezvous geahnt, dass sie nicht die liebliche, gutmütige Frau war, die sie uns allen vorführte und ich hatte vor unserer Hochzeit von ihrer perfiden Art gewusst und doch hatte mich die Hoffnung nicht verlassen, dass die Eiskönigin für mich auftauen würde. Natürlich hatte ich mich geirrt, sehr sogar. Währendem die Welt ihre Bahnen zog, wir die Nachkriegszeit überstanden hatten und sich selbst die Weltmächte für einander erwärmen konnten, wurde Marthas geheime Art stetig boshafter. Es war an einem Sonnabend gewesen, als ich ein wenig später als sonst von meiner Schicht nach Hause gekommen war, als sie mich zum ersten Mal geschlagen hatte. Eine Woche später hatte ihr Tintenfass eine Platzwunde auf meiner Stirn hinterlassen; die ersten vier von unzähligen Stichen, die meinen Körper nun zusammenhielten.
Ich schütte den restlichen Zucker aus der Packung in die Keramikpfanne und warte bis er anfängt flüssig zu werden. Die rote Mütze ist mittlerweile verschwunden und ich frage mich, ob das blonde Kind jemals eine Schallplatte gesehen hat. Der Saft der Blaubeeren zischt laut, meine süße Mahlzeit schlägt wilde Blasen und wird mir nach diesem langen Tag voller bitterer Erinnerungen gut schmecken, obwohl meine Tage als glücklicher Konsument von zuckerhaltigen Speisen, dank dem Diabetes, eigentlich gezählt wären. „Was soll‘s?“, denke ich mir schelmisch und genieße den ersten Bissen.
Ich bräuchte mich nicht vor meiner Frau zu fürchten, ich wäre eine jämmerliche Entschuldigung für einen Mann und hätte es verdient, dass man mir die Härte gewaltsam einbläute, hatten sie gesagt, als ich ihnen anvertraut hatte, woher meine Blessuren stammten; ich habe danach nie wieder darüber gesprochen. Doch die Schläge verblassten angesichts der emotionalen Kälte, der herzlosen Worte. Eine subtile, gemeine Art von Brutalität, die in der Zwischenzeit die Grundlagenforschung zur häuslichen Gewalt ergänzt, aber selbst wenn ich das vor Jahren schon erfahren hätte, selbst dann wäre ich nicht gegangen. Eine schändliche Demütigung, dass ich nie aufhören konnte die Frau, die mich in meinem Innersten zu zerstören versuchte, zu lieben. Von Herzen zu lieben, ohne Wunsch auf Gegenleistung und ohne Selbstrespekt, ja, dies ist alles, was ich dieser Welt hinterlassen werde.
Eine klebrige Substanz bleibt auf meinem Teller zurück und hinterlässt einen bläulichen Fleck auf der Wand, als ich das Geschirr auf den Boden schmettere. Meine alten Knochen, gebrochen und verheilt, tragen meine ungezügelte Wut kaum noch und Ninas Worte hallen verändert, beinahe zynisch in meinen Gedanken wieder. Ich hatte geglaubt, mich nach der Freiheit zu sehen, hatte geglaubt mir nichts mehr zu wünschen, als die Ketten meiner selbstgewählten Knechtschaft abzulegen und nun… Nun weine ich wie ein Kind. Nicht wie ein Kind, das im Regen spielt, sondern wie eines, dass um seine Albträume trauert, weil es eben jene Albträume waren, die es jeden Morgen erleichtert aufatmen ließen, wenn es aufwachte.