Wissen ist Macht | Das Ende

Dies ist der 8. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Wissen ist Macht“.

„Los, weiter, Callahan!“ Der Wärter bugsierte mich unsanft die Treppe hinunter. In dem unbequemen Gefängnis-Overall fiel es mir schwer, das Gleichgewicht zu halten. Wütend stolperte ich voran, zu meinem eigenen Erstaunen ohne hinzufallen, und keifte über meine Schulter: „Ich bin kein Kunstturner, Arschloch!“
Zu gerne hätte ich gewusst, wieso man mich mitten in der Nacht in den Keller der Strafanstalt brachte, nachdem ich von Sirenen und Geschrei geweckt worden war. Ich verbrachte die letzten Tage, oder waren es Wochen, wie eine Kakerlake in einer fensterlosen Zelle und war mir nun unschlüssig, ob die Uhr zu meiner Exekution schlug. Aber warum würde man eine Verurteilte in einen Lagerraum führen statt in die Räumlichkeiten, in welchen man öffentliche Hinrichtungen vornahm?
„Halt!“, befahl der Wärter und gestikulierte im Halbdunkel auf eine hölzerne Bank. „Setzen.“
Ich tat, wie mir geheißen wurde, ohne Widerrede, ohne Widerstand. Hier drin hatte ich keinerlei Einfluss darauf, was kommen mochte und nichtdestotrotz war ich freier denn je, es war mir schlichtweg egal. Hinter Gittern war ich von der stets korrekten, braven Ada, die jedem vorgaukelte, Gehorsam zu leisten, zu einer rotzigen Teenagerin reversiert, die alles sagte, was ihr so durch den Kopf ging, obwohl sie mangels Alternativen dennoch murrend parierte. Nettigkeiten stellten jetzt bloß noch eine leere, reine Formalität dar, die das Unvermeidliche keineswegs veränderten. Mein Geist war in einem Zen-artigen, unberührten Zustand des Wohlbefindens, während ich meine Aufpasser als Ikonoklasten, Kleintierunterdrücker und kommunistische Folterknechte beschimpfte. Sie werden mich töten, nur, die alte Ada ist schon lange gestorben, hat in dem Augenblick zu existieren aufgehört, in dem ich mich mit dem Unabwendbaren abgefunden hatte.
Dumpf plärrende Sirenen, geblaffte Befehle und Getrampel sind über uns zu vernehmen. Der Wächter bleibt mir gegenüber stehen, nahe, doch mit genug Abstand, um mir mit seinem Sturmgewehr eine Kugel in den Schädel jagen zu können, wenn ich ihn anfallen wollte. Ich konnte die Unentschlossenheit, die Besorgnis in seiner Mine lesen, er war ein offenes Buch: Etwas ging vor sich, das ganz schön viel Unrast stiftete, eine Tatsache, die mir ein weiteres höhnisches Grinsen auf die Lippen zauberte. „Na, fliegt euch unsere kleine, kontrollierte Welt um die Ohren?“, spottete ich ziellos. „Ein Gefängnisaufstand, eine Rebellion in der Stadt? Hat jemandem der Haferbrei, gar die Politik schlecht gemundet?“
„Ausgerechnet du musst die Klappe aufreißen, Callahan“, entgegnete er trocken und brachte mich damit aus den Konzept. Normalerweise ignorierten meine Peiniger den Hohn oder brachten mich mit gezielten Schlägen, die mir einige blaue Flecke auf den Wangenknochen eingebracht hatten, zum Schweigen.
„Ich?“ Die Verwirrung war mir anzuhören. „Ausnahmsweise könnt ihr mir keine Vorwürfe machen, ihr haltet mich in Isolationshaft, schon vergessen?“
„Ist das eigentlich ein einziger großer Witz für dich?“, fuhr er mich an. „Willst du mich für blöd verkaufen?“
Seine Reaktion zerstörte meinen Frieden, meine Entspannung, das war keine oberflächliche Wut eines Unterdrückers, was er zeigte, war blanke Angst. Bloß Angst vor was? Kaum vor mir. Er hatte meine Neugier geweckt, mich den Fatalismus vorerst verdrängen lassen. „Okay, was ist hier los?“
„Na, was wohl?“, bellte er. „Die Stadt brennt, Soldaten kämpfen gegen Deserteure, Politiker werden gelyncht, Mauern eingerissen! Und das nur, weil heute ein Idol des Widerstands hingerichtet werden sollte. Dreimal darfst du raten, wer daran schuld ist, dass wir in die Anarchie stürzen, wessen Abbild auf den Transparenten da draußen prangt! Das ist mehr als das Ende einer Ära, es ist das Ende von allem, was wir kennen!“
Ich muss erstarrt sein, ihn fassungslos gemustert haben, nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir eine solche Wirkung unseres kleinen Piratenprogramms ausgemalt. Eine Reihe lauter Explosionen, die sehr nahe waren, rüttelten mich aus meinem Schock. „Du meinst …?“
„Ich habe Order, dich auf der Stelle hinzurichten, sollten die Aufständischen die Gefängnismauern sprengen“, brüllte er mich an. „Was denkst du, soll ich tun? Was, zum Teufel?! Gewinnen wir und ich habe dich verschont, bin ich ein Verräter, fällt das Regime und ich stellte dich an die Wand, werde ich niedergemacht!“ Er atmete tief durch, beherrschte sich, merkte dann doch ziemlich aufgebracht an: „Ich habe eine Familie, wenn ich einen Fehler mache … wer kümmert sich um sie? Sag mir das, Miss-‚Wir werden die Welt verändern‘!“
„Ich habe keine Antwort“, murmelte ich bedrückt und verwirrt, als über uns Maschinengewehrfeuer die Luft zerschnitt, gemischt mit Kampf-, nein, Schmerzensschreien. „Ich habe nichts mehr, das ich irgendwem geben könnte.“
Da saß ich nun, im Keller des berüchtigtsten Gefängnisses des Landes und ein Wärter wollte von mir, der Staatsfeindin, hören, was seine Optionen waren. Ich hatte mit allem abgeschlossen, gelassen auf meinen Tod gewartet, im Wissen darum, mit der Sicherheit meiner Schwester und vielleicht in hundert Jahren einer unwichtigen, dummen Statue bezahlt zu werden. Es war für mich akzeptabel gewesen, in diesem Loch meine letzten Tage zu verbringen. Ich hatte geglaubt, war stets auf meine Arbeit, die echte sowie jene für den Widerstand, konzentriert gewesen, hatte keine Zeit für Freunde, geschweige denn Beziehungen, gefunden. Mein letzter Kuss, meine letzte Liebe lagen Jahrzehnte zurück; wen kümmerte sowas im Angesicht des sicheren Todes überhaupt? Und jetzt soll ich eine Entscheidung treffen, eine Entscheidung, die …
Der Wärter fasste an seinen Ohrstecker, offenbar waren die Nachrichten in dem Lärm, der nach unten drang schlecht verständlich, zu guter Letzt stieß er einen Fluch aus: „Scheiße, Coms sind offline!“
Ich schloss die Augen, nahm einen tiefen Atemzug und fasste einen Entschluss, einen, der gar mich überraschte, einen, der wider Erwarten wieder die kühle, angenehme Besonnenheit in meinen Verstand einkehren ließ. „Wie heißt du?“
„Was spielt das für einer Rolle?“, raunte mich der Wärter an. „Wir haben grössere Probleme.“
„Es gibt nichts, was deiner Kontrolle obliegt, außer, ob du mich erschießt oder leben lässt, bis du das überlegt hast, können wir uns also genauso gut unterhalten.“
Er ächzte. „Ich heiße Amir.“
„Gut, Amir“, begann ich, „die schlechte Nachricht für dich ist: Wir haben beide keine Ahnung, ob da draußen die Leute sind, die mich tot sehen oder jene, die mich feiern wollen. Wenn wirklich so großes Chaos herrscht, wie du sagst, so hast du zum ersten Mal seit langem die Gelegenheit, eine freie Entscheidung zu treffen. Ohne zu wissen, was die Konsequenzen sind, ohne aufgezeichnet zu werden, ohne Aufpasser. Möglicherweise geht die Sache für dich mit einem romantischen Spaziergang im Küstennebel mit deiner Frau aus, den Sand zwischen den Zehen, oder mit einer Kugel in den Bauch hier auf dem Linoleum. Niemand weiß es. Nur, du musst dich entscheiden, ich stehe nun auf und gehe heraus.“
Ich gab ihm keine Gelegenheit zu antworten und erhob mich, gespannt, was Amir tun würde. Gleichgültig wie fatalistisch ich geworden war, sterben sah ich nach wie vor keineswegs als Option. Etwas zu unternehmen wäre aber besser, als folgsam wie ein Schaf bis zum Moment meiner Hinrichtung auszuharren. Ich beobachtete, wie mein Aufpasser mit sich rang und schließlich, als ich stur einen Fuß vor den anderen setzte, mit einem Seufzen seine Waffe senkte.
„Ada …“, holte er aus und ich hielt in meinem Gang inne.
„Ja?“
„Falls deine Leute siegen, sag ihnen bitte, dass ich keine Gefangenen misshandelt habe.“ Er schluckte. „Ich möchte nicht hingerichtet werden.“
Meine Leute? Wie absurd das klang, als ob ich der Mittelpunkt des Widerstands sei. „Versprochen. Und sollte ich erschossen werden“, fügte ich hinzu, „war nett, dich gekannt zu haben, verglichen mit den anderen Aufpassern warst du ganz in Ordnung.“
Ohne mich erneut umzuwenden ging ich die alte, steinerne Treppe hoch, Schritt für Schritt. Über uns wurde mein Name gerufen, ich konnte die Stimme niemandem zuordnen. Zumindest der Kampflärm war verstummt, nur, wer hatte gewonnen? Meine Hand berührte das kalte Metall der Klinke des einzigen Ausgangs, der von dem Keller zurück in das Gefängnis führte. Ich wusste, wie auch immer dieser Bürgerkrieg ausging, was auch immer auf der anderen Seite dieser Tür auf mich wartete, auf die eine oder andere Art wäre es das Ende.

Autorin: Sarah
Setting: Keller
Clues: Kleintierunterdrücker, Kunstturner, Kakerlake, Küstennebel, Kuss
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei Carola Wolff. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

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