Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
An den Fenstern liefern sich die übriggebliebenen Regentropfen ein Rennen, der Himmel ist dunkelblau, die vom Meer abgehärtete Weidenlandschaft verliert allmählich ihre Farbe, bereitet sich auf den kommenden Winter vor. Safiya atmet besonnen, horcht dem einförmigen Ticken der Pausenuhr, den knarrenden Schritten, die vom oberen Stockwerk zu ihr durchdringen und wärmt ihre Finger an einer großen Tasse Tee. Safiya war vor vier Monaten nach Mireval gezogen, nicht, weil sie unbedingt hierhin wollte, sondern es in der winzigen Gemeinde Arbeit und ein Obdach für sie gab. Nun gut, das mit der Arbeit war so eine Sache, sie hat zwar eine sechzig Prozent Anstellung im örtlichen Souvenirshop, zu tun gibt es allerdings sehr wenig. Knappe fünf Minuten, denkt sie sich, dann geht es wieder in den Verkaufsraum, dorthin, wo ihr das Zeittotschlagen erst richtig bewusst wird. Selten verirrten sich Touristen in den engen Laden, noch seltener lassen sie sich dazu verleiten, Wert in dem verstaubten Krimskrams auf den Regalen zu sehen, gar eine Kleinigkeit zu kaufen. Die Ansässigen kommen überhaupt nicht vorbei, außer natürlich, sie wollen mit dem Besitzer über fällige Rechnungen sprechen. Der alte Monsieur Morelot war ihr gleich beim ersten Zusammentreffen sympathisch gewesen und seither hat sie ihn in vielen Stunden des gemeinsamen Abwartens lieb gewonnen. Er gehört zu der Generation, die im Krieg aufgewachsen und in den Wirtschaftswunderjahren großgeworden waren. Seinen nostalgischen Geschichten zu lauschen, war so kurzweilig wie wehmütig. Monsieur Morelot war Wittwer, seine Frau vor Ewigkeiten gestorben, Kinder hatten sie keine gehabt und Safiya glaubt, dass er ihre Gesellschaft genauso genießt, wie sie die seine. Leider fällt es ihr gleichwohl schwer, sich in dem ausgestorbenen Winkel der Erde einzufinden, sich an das Tempo zu gewöhnen. Sie hatte ihr bisheriges Leben im dreizehnten Arrondissement von Paris, dem berüchtigtsten Banlieue der Stadt verbracht, war dort zur Welt gekommen, in die Schule gegangen. Vergeblich hatte sie versucht, von da aus in ein anderes Fahrwasser als ihre Eltern zu geraten. Eine Perspektive, eine bessere Zukunft fand sie in der Bannmeile nicht, also hatte sie mit einundzwanzig ihre Sachen gepackt und war mit Hoffnung im Herzen ausgezogen. Das war nun gute zehn Jahre her.
„Salut chère Safiya, ça va?”, erkundigt sich Monsieur Morelot nach ihrem Wohlbefinden. Safiya sieht von ihrer Tasse auf, schenkt dem gebückten Mann ein herzliches Lächeln und meint: „On fait aller.“ Das ist ein weiterer Grund, weshalb sie den kauzigen Ladenbesitzer mag, in seiner Gegenwart fühlt sie sich nie verpflichtet die Dinge zu beschönigen. Wenn es ihr eben nur so lala ging, war das okay und sogar wenn sie mies drauf war, durfte sie das ohne Scheu zugeben. „Qu’y a-t-il?“, will er wissen, was denn los sei. Sie zeigt in Richtung der Tür zum Verkaufsraum. „Rien ne se passe. Comme toujours“, stellt sie niedergeschlagen das Offensichtliche fest. Ja, wie üblich ist kaum etwas los und so langsam macht ihr das zu Schaffen. „Ah“, tönt der Alte grinsend, „ça va marcher!“ Ihr auf die Schulter klopfend, inspiziert er ihre Tasse, rümpft die Nase und philosophiert eine Weile über die Vorzüge von Kaffee gegenüber Tee, ehe er sich für die nächsten drei Stunden verabschiedet. Er habe einige Erledigungen zu tätigen, was heißt, dass er auf den Friedhof geht, um frische Blumen für seine Frau, Fabienne, zu pflanzen. Er muss sie wirklich sehr geliebt haben, sinniert Safiya, ihrem eigenen Beziehungsstatus betrauernd. „N’oublie pas ta parka, le Mistral …“, ruft sie ihm eine Wetterwarnung hinterher. „Qui oui, maman Safiya“, unterbricht Monsieru Morelot sie lachend, bevor er seinen gelben Parka vom Haken nimmt und verschwindet.
Da ihr die ländliche Einsamkeit zwischen den prall gefüllten Regalen erdrückend scheint, bleibt Safiya im Pausenraum sitzen. Den Durchgang belässt sie geöffnet, sie wäre im unwahrscheinlichen Fall eines Kundenbesuchs schnell zur Stelle. Während die Langeweile bis vor kurzem lediglich ärgerlich gewesen war, ist sie mittlerweile zur Folter mutiert. Insbesondere die Nachmittage ziehen sich unmenschlich in die Länge, wollen sie in den blanken Wahnsinn treiben. Gäbe es wenigsten Internetanschluss, ja selbst ein Fernseher mit seinem sinnbefreiten Nachmittagsprogramm böte eine willkommene Abwechslung vom stummen Ausharren. Safiya gähnt, streckt sich, gähnt abermals, steht auf und schlendert zum Wandspiegel. Das antike Stück muss noch aus Fabiennes Zeit stammen, der Rahmen ist mit einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt, das Spiegelglas voller Kratzer. Ihren Lockenschopf zum Dutt bindend, betrachtet Safiya die feinen Fältchen neben ihren Augen. Sie ist alt geworden, überlegt sie verdutzt, wann ist das bloß geschehen? Ihr kommt es so vor, als sei sie erst letzte Woche mit ihrer besten Freundin die Mobilfunkantenne hochgeklettert, um oben auf der stählernen Leiter mit billigem Champagner und einem Joint den Schulabschluss zu feiern. Der Kontakt zu Iminathi war längst abgebrochen, dennoch erinnert sich Safiya liebevoll an das Mädchen von damals, das ihr im Trubel der Adoleszenz beigestanden hatte. Von der Glocke der Ladentür aus den Gedanken gerissen, wendet sie sich vom Spiegel sowie ihren Falten und der unzähmbaren Afrofrisur ab.
„Écoute bien, Safiya!“, befiehlt ihr Bruder zähnefletschend. „Tu n’as vraiment pas d’autres choix, je possède.“ Keine andere Wahl als was, wundert sie sich, wagt sich hingegen nicht, Mensah zu fragen. Ihr ist klar, weswegen der dritte Sohn ihres Vaters hergekommen war, um ihr eine Botschaft der Familie zu überbringen, die weit mehr als schwer verdaulich ist, eher an völlige Unverdaulichkeit grenzt. Schleierhaft bleibt ihr, wie er sie hier, mitten im Nirgendwo hatte finden können. „Mensah, s’il te plaît …“, beginnt sie mit flehender Stimme. „Tais-toi, putain!“, braust er auf und droht sogleich, sie werde ihre nächsten Worte bitter bereuen. „Encore un mot et tu risques de la regretter, compris?!“ Er macht einen Schritt auf sie zu, sticht förmlich voran, sodass sie heftig zusammenzuckt, eingeschüchtert nickt. „Alors, fais tes bagages“, weist er sie an, ihre Sachen zu packen. „On rentre à la maison.“
„Non!“, stößt sie keuchend aus, sie will um keinen Preis zurückkehren, zu diesen Leuten, ihrer Familie. Zu lange hatte Safiya darum gekämpft, aus diesem vermaledeiten Loch, in dem sie neben Vernachlässigung nur Gewalt erleben musste, wegzukommen. „Non, laisse-moi!“
Sie taumelt rückwärts, schlägt auf die Kommode und reißt im verzweifelten Versuch, das Gleichgewicht wiederzufinden, Fabiennes Spiegel herunter. Der Diamantring an Mensahs Ringfinder traf hart gegen ihre Schläfe, vielleicht war es Absicht, vermutlich ein für ihn glücklicher Zufall. Sie kennt den Ring, er gehört ihrem Vater, dem strengen Familienoberhaupt und Vollstrecker der Sitte. Sein Glaube sei, wie er früher zu sagen pflegte, lupenrein, ähnlich dem Diamanten, dessen eins Komma fünf Karat mehr Wert haben als sein ganzes Haus. Er war seit jeher ein erbarmungsloser Mann. Trotz alledem weigert sie sich zu glauben, er könnte tatsächlich so weit gehen, sie für ihre Sünden mit dem Leben bezahlen zu lassen. „Tu l’as bien cherché“, sie habe es nicht anders verdient, mokiert sich ihr Bruder heiter, dann verliert Safiya das Bewusstsein.
„Calme. T’inquiète pas, tout va bien”, beruhigt sie Monsieur Morelot. „Mais … Mon frère, Mensah, il m’a attaquée et …“, möchte Safiya die Geschehnisse erklären, hält jedoch abrupt inne. Zwischen den Spiegelscherben liegt ihr Bruder, reglos. Nach einigen Sekunden des Schocks löst sie sich aus den Armen des alten Mannes, kriecht auf ihren Knien vorwärts und legt ihre Hand auf Mensahs Brust. Sie hebt sich nicht, kein bisschen. „Monsieur Morelot, que s’est-il passé?“ Was zum Teufel war geschehen nachdem sie ohnmächtig geworden war, fordert sie zu erfahren. „Oh, tu sais“, druckst der Angesprochene herum, ehe er erst auf eine geöffnete Schublade, dann auf einen kleinen Revolver deutet, der unter dem Schreibtisch liegt. „Je suis désolé, je ne savias pas qu’il soit ton frère …“, entschuldigt er sich, er habe keine Ahnung gehabt, dass der Angreifer ihr Bruder war. „Je suis très désolé, Safiya, honnêtement!“ Seine Reue bezeugend, erhebt er sich für sein Alter erstaunlich flink und kramt sein Handy aus der Regenjacke, möglicherweise um einen Notruf zu tätigen, Safiyas Kreischen lässt ihn aber zusammenfahren. „Connard. Connard. Connard!“ Ihr Flüstern schwillt mit jedem Faustschlag, jedem Tritt auf den leblosen Körper ihres Bruders zum Brüllen an. Ihre Rage weicht einem befreiten Gefühl, endlich ist sie erlöst von der ständig lauernden Gefahr, gefunden, verschleppt und von ihrer eigenen Familie ermordet zu werden, weil sie sich nicht deren Regeln anpassen wollte. „Ce salaud ne me touchera plus …“, murmelt sie fassungslos, glücklich. Dieser Bastard könnte ihr nie wieder wehtun, Monsieur Morelot hat sie gerettet, wenn auch nur vorerst. Zum ersten Mal steht jemand auf ihrer Seite, jemand, der … Da begreift sie plötzlich, was das alles für den alten Mann, ihren Beschützer, zu bedeuten hat. „Donne-moi le pistolet“, verlangt sie kühl. „Allez!“ Unter keinen Umständen wird sie zulassen, dass Monsieur Morelot für Mensahs Tod bestraft wird, nein. Er reicht ihr die Pistole, sie nimmt sie an sich und reibt sie an ihrer Bluse ab, bevor sie damit in die Wand schießt, genau dort, wo Fabiennes Spiegel hing. Fingerabdrücke, Schmauchspuren, das sollte reichen, versichert sie sich gedanklich, die Polizei kann kommen. „Bon. Appelle la police.“