Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Im Gegensatz zu ihrem Verlobten war An kein abergläubischer Mensch, sie hatte sich allerdings vorgenommen, sich ihm zuliebe mehr auf seine Interessen einzulassen. Immerhin bemühte er sich stets, begleitete sie regelmäßig ins Fitnessstudio und übernahm den größeren Teil des Haushalts, damit sie Zeit für ihre LetsPlay-Videos hatte.
„Siehst du, dort hinten sind Teile des alten Tower House“, flüsterte Ben aufgeregt und erklärte zum wiederholten Mal: „Das exakte Gründungsdatum von Leap Castle ist ungeklärt. Einige glauben, das Tower House sei schon im zwölften Jahrhundert errichtet worden, andere datieren es später, vierzehntes bis sechzehntes Jahrhundert.“
„Aha“, brummte An, mit dem Blick in die Ferne schweifend. „Für das sind diese Holzpfähle da?“ Sie stellte hin und wieder Fragen wie diese, Fragen, auf die sie eigentlich gar keine Antwort wollte, die dennoch ihren guten Willen demonstrierten, am Ausflug teilnehmen zu wollen.
„Äh.“ Ben räusperte sich und grinste sie verschmitzt an. „Das ist ein Teil des Baugerüsts. Du weißt, die Restaurationsarbeiten laufen ständig, deswegen … Oh, schau mal.“
Gunter ächzte theatralisch, während er seine Ausrüstung aufstellte. Seine Chefin hatte ihm diesen Auftrag in allerletzter Sekunde zugeschoben, weil Tessa angeblich mit einem Migräneanfall flach lag. Er glaubte seiner Mitarbeiterin nicht ein Wort, die hatte bloß Angst davor, das Schloss spätabends zu besuchen. Hier spuke es, wurde seit Ewigkeiten gemunkelt, was Gunter selbstverständlich für absoluten Blödsinn hielt. Trotzdem war er wenig begeistert von der Idee, wegen einer Fotostrecke, die lediglich das Sommerloch füllen soll, unbefugt ein Privatgrundstück zu betreten. „So ein Mist!“ Er murmelte gehässig vor sich hin. „Da vergeigt sie die Genehmigung und ich muss mich strafbar machen.“ Vor drei Tagen waren zwei Geisterjäger in der Redaktion aufgetaucht, welche die Fotostrecke mit ihrer Expertenmeinung veredeln sollten, wie Gunters Chefin behauptete. Er fand das natürlich völlig albern, mit diesen Irren konnte sich das Blatt nur lächerlich machen, doch der Boss bestand darauf.
Er beschleunigte seinen Schritt und deutete mit dem Lichtkegel seiner Taschenlampe auf einen Torbogen. Bestimmt gab es einen Namen für diese Art von Bogen, überlegte An. Ein gotischer Bogen war es nicht, der müsste oben spitz zulaufen, dieser war rund. „Das ist sie“, stieß Ben freudig sowie zu laut aus. „Die Bloody Chapel!“
„Sei leise“, mahnte An und drückte sich ans feuchtkalte Gemäuer, ehe ihr einfiel, dass Mörtel früher unter anderem aus Tierblut hergestellt wurde, daher stieß sie sich angeekelt ab.
„Entspann dich. Ich sagte ja, der Besitzer ist die nächsten Wochen in Australien, die Alarmanlagen einfach zu umgehen. Abgesehen davon ist außer uns sowieso niemand da.“ Er war bereits mehrmals hier gewesen, hatte sich irgendwelchen angemeldeten Touren angeschlossen oder war des Nachts eingebrochen. Bislang hatte er solche Unternehmungen mit seinem Kumpel Marty gemacht und im Prinzip hätte er diesen heute lieber mitgenommen als An, seufzte Ben innerlich, aber er wusste ihre Geste zu schätzen und wollte sie nicht abweisen.
„Cool“, entfuhr es An. Zugegeben, im tanzenden Licht der Taschenlampen wirkte das alte Schloss tatsächlich ganz schön gruselig. Der irische Nebel zog durch die türlosen Eingänge, der Wind heulte, ab und an vernahm man die Rufe nachtaktiver Tiere, die man glatt für menschliches Murmeln hätte halten können. Sie konnte sich gut vorstellen, dass diese Atmosphäre einige Idioten dazu verleitete, sich Spukgeschichten auszudenken. Sofort schüttelte An ob ihrem Gedankengang den Kopf. Ihr Verlobter war einer dieser Idioten, sie sollte sich also eine andere Einstellung zulegen.
Murrend lehnte Gunter gegen einen Pfeiler und wartete. Dank der fehlenden Zutrittserlaubnis verzichtete der Fotograf auf künstliche Beleuchtung und stellte stattdessen eine lange Belichtungszeit ein. Der daraus resultierende Effekt trug der schauerlichen Stimmung bei. Der vorbeiziehende Dunst legte sich auf den Bildern wie ein milchiger, zerrissener Schleier über die Mauern, welche dahinter wie gefährliche Schemen auftürmten. Er zündete sich eine Fluppe an, inhalierte den Rauch ganz tief und blies ihn dann vor die Linse, bevor er zurück zum Laptop schlenderte, um die neusten Bilder zu prüfen. Sehr zu seinem Ärger schienen diese auch auf ihn eine gewisse Wirkung zu haben, denn ihm wurde allmählich unbehaglich zumute, ihm war, als könne er im Windheulen eine Stimme ausmachen. Gunter stöhnte, rieb sich über das Gesicht und beschloss, seiner Chefin gleich am Montag zu sagen, er wolle so bald wie möglich Ferien nehmen, denn wer anfängt Geister zu sehen, braucht dringend Urlaub.
„Ja, wirklich cool!“ Er trabte zur gegenüberliegenden Wand und winkte An zu sich. „Schau, das Verlies.“ Etwas weniger gelangweilt als zuvor, trottete sie ihm hinterher, beäugte die quadratische Öffnung und fühlte sich an so ziemlich jedes Horror-Videospiel, das sie je gezockt hatte, erinnert. Indes holte Ben erneut aus, redete von den Legenden, die man sich in der Geisterjägerszene so erzählte. An ignorierte seine Ausschweifungen und beschäftigte sich mit einer Haselmaus, welche im Loch unter ihnen herumhuschte und nach Futter oder einem Ausgang suchte.
„… gepfählt. An? An, hörst du mir zu?“
„M-hm, sehr spannend“, reagierte sie instinktiv auf ihren Namen. Ben fuhr sich entnervt durch seine roten Locken und machte eine mentale Notiz, das nächste Mal wieder mit Marty auf Erkundung zu gehen. „Moment“, unterbrach sie seinen Groll. „Was ist das für ein Zettel?“ Das Mäuschen war unter ein vergilbtes Stück Papier gekrabbelt, das im Halbdunkeln wie ein antikes Schriftstück aussah. Ben leuchtete ziellos herum, bis sie ihm die Taschenlampe aus der Hand nahm und meinte: „Dort, da steht was drauf.“ Die beiden beugten sich vor, kniffen die Augen zusammen und kletterten anschließend ins Verlies hinunter.
„Guck dir mal die Schmieralien an“, nuschelte Ben, dessen Verlobte ahnungslos war, wovon er sprach. „Die Linienführung ist außerordentlich.“
Die Kameratasche zwischen Schulter und Kinn, den Laptop unter dem Arm eingeklemmt, schlurfte Gunter zu seiner letzten Station, der Bloody Chapel. Dort müsste er zwar mehr Fotos schießen als überall sonst, weil das Gewölbe der bekannteste Teil von Leap Castle war, erfreulicherweise war danach aber Feierabend, naja, Feiermorgen. Er fühlte sich weiterhin unwohl, obschon die ominöse Stimme verstummt war. Wahrscheinlich war er schlichtweg zu müde, um klar zu denken, sinnierte Gunter, als just in dem Moment ein Lichtstrahl durch die Kapelle blitzte. Erschrocken hielt er inne, linste in die klare Vollmondnacht hinaus und hob schließlich eine Braue. „Das war kein Wetterleuchten“, stellte er verdutzt fest und legte seine Ausrüstung sachte auf den Boden. Neugierig schlich er in die Richtung, aus der das Licht gekommen war, da erschien direkt vor ihm eine hässliche Fratze! Sie war kreidebleich, übersäht mit Flecken und zwischen ihren mauskleinen Augenhöhlen ragte eine krumme Nase hervor. „Himmelherrgott, dieser Gesichtserker!“, schrie Gunter entsetzt und schubste die Gestalt von sich.
Vier Tage später hüpfte Tessa über die Absperrung. Gunter habe seine Ausrüstung aus Versehen vergessen und weil der sich aus einem unerfindlichen Grund weigerte, auch nur einen Fuß in Leap Castle zu setzen, blieb es an ihr hängen, sie zu holen. „Na großartig“, motzte sie und drückte eine Nachricht der Chefin weg. „Jetzt werde ich noch gehetzt!“ Im Galopp überwand sie letzten Meter zum Schloss und steuerte sogleich auf die Bloody Chapel zu. Dort angekommen blieb sie abrupt stehen und horchte. Ein heiseres Wispern hallte durch die Kapelle. „Hi…lf…“ Sie täuschte sich nicht.
„Ist da wer?“, brüllte Tessa verwirrt, jedoch keineswegs verängstigt. „Hallo?“ Sie legte ihren Rucksack ab, knipste die Taschenlampe an und sah sich um. „Wer ist da?”
“Hi…”, tönte es wieder und diesmal erkannte Tessa die Quelle des Geräusches. Sie hastete zum Verlies und siehe da, eine Frau lächelte ihr erschöpft entgegen. „Meine Güte!“ Die Ärmste lag zusammengefaltet wie ein Klappstuhl unter einem hochgewachsenen, rothaarigen Mann, dessen Genick eine perfekte Rundbogenbiegung aufwies.