„Aus dem Weg, du Hipster-Trottel“, schrie Kassandra genervt und der zirka dreißigjährige Mann mit seinen überteuren Sportschuhen und im Marken-Karohemd, der vor ihr den Vitaparcours entlangjoggte, fuhr erschrocken zusammen und wandte sich verdutzt um. Bevor er etwas entgegnen konnte, war sie auch schon an ihm vorbeigerannt. Obwohl sie bereits ziemlich keuchte, machte sie unerbittlich weiter, machte einen Schritt nach dem anderen auf dem weichen Waldboden und konnte, während sie die kalte, feuchte Morgenluft des Waldes einatmete, die vielfältige Flora riechen, ein Duftspektakel ohnegleichen. Bei der nächsten Station, fand sie eine hoch angebracht Reckstange und vermutete, ohne die Anleitung gelesen zu haben, dass sie Klimmzugübungen machen sollte, also blieb sie etwas keuchend stehen. Sie lehnte sich an die leicht feuchten Holzmasten, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass keine der zahlreichen Schnecken daran hochkroch und schaute durch die lichte Stelle im Wald auf die Stadt hinunter, ziemlich nahe unter dem Aussichtspunkt breitete sich das Viertel aus, in dem sie schon lange wohnte. Von den Häusern stieg Rauch auf, der weit in den klaren Himmel ging und der erste Verkehrslärm des jungen Tages war hier auf dem Hügel kaum hörbar. Langsam beruhigte sich Kassandras Herzschlag, denn wie immer war sie gerannt, als wäre eine Horde bewaffneter Irokesen hinter ihr her. Auf dem Weg waren nun die Schritte des Mannes zu hören, den sie vor ein paar Minuten überholt hatte, er joggte noch immer langsam und unnachgiebig, wie ein Duracell-Hase. Kassandra drehte sich nicht um, schließlich hatte sie keine Lust, mit ihm eine Diskussion anzuzetteln. Sie würde gleich wieder zurück in die Stadt rennen und ihren Tag mit einer Tasse Kaffee beginnen, die dem Leben das Gefühl von Sinn gab, das sich alle wünschten. Doch in diesem Augenblick konnte sie hinter sich ein Ästchen knacken hören und der Fremde sagte, kein bisschen außer Atem: „Morgen, wie geht’s?“ Kassandra begriff, dass es so weit war. Der Angriff der Hipster war nicht mehr aufzuhalten, wie eine Welle waren sie angedonnert und über die Stadt geschwappt, hatten ein Viertel nach dem anderen eingenommen und jetzt hatten sie sogar den Vitaparcours in Beschlag genommen und wollten sich zu allem Übel auch noch unterhalten.
Seit er von der etwa gleich alten Frau überholt worden war, hatte Severin sich gefragt, ob er wirklich wie ein Hipster aussah. Niemand hatte ihm je etwas Derartiges gesagt und so beschäftigte ihn der Spruch mehr, als er hätte zugeben wollen. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der sein Leben genoss und in den seltenen Fällen, in denen er den Begriff ‚Hipster‘ verwendet hatte, war es abschätzig gegenüber anderen gewesen. Als er nach kurzer Zeit hinter ihr auf der Lichtung mit den Reckstangen angelangt war, entschloss er sich dazu, die Fremde zu fragen und so trat er hinter sie und rief: „Morgen, wie geht’s?“
Für einen Moment erstarrte sie und er bildete sich kurz ein sehen zu können, wie sich ihre Muskeln verspannten, dann drehte sie sich um und er fragte: „Aus welchem Raumschiff bist denn du abgeworfen worden?“ Sie hielt in ihrer Bewegung inne und starrte ihn irritiert an, bevor er hinzufügte: „Kein Erdling hat mich je Hipster genannt.“
„Okay“, entgegnete sie skeptisch, griff nach der Stange und zog sich erstaunlich weit hoch. Dazu sagte sie mit gepresster Stimme: „Ich bin Kassandra – und wenn du mir mit gutem Gewissen sagen kannst, du seist keiner, dann glaube ich dir das.“
„Severin“, entgegnete er und begann dann zu überlegen, bevor ihm ein schlagfertiger Spruch einfiel: „Willst du ein Resümee von meinem Lebenslauf sehen?“
Kassandra ließ los und landete wieder auf den Füssen. „Siehst du? Du hast nicht nein gesagt, also bist du Teil der Invasion.“
„Oh verdammt, eine Linke – oder eine Verschwörungstheoretikerin“, murmelte Severin so leise, dass sie ihn wahrscheinlich nicht gehört hatte, doch er war zu tief in die bisher harmlose Auseinandersetzung verstrickt, um jetzt noch aufzugeben, also fragte er: „Welche Invasion?“
Kassandra machte verbissen Dehnübungen, während sie hastig sprach, sie schien keine Minute ruhig stehen zu können. „Ich bin hierhin gezogen, als das Quartier noch ein Geheimtipp war, vor den Luxussanierungen, den Eigentumswohnungen und den Vintage-Ramschläden. Jetzt kann man nicht mal mehr auf die Straße gehen, ohne von Latte Macchiato schlürfenden Hipster und Yuppies über den Haufen gerannt zu werden! Kaum steht die erste Starbucks-Filiale, kommen sie angerannt wie die Motten, die das Licht suchen!“
Plötzlich begriff Severin: Kassandra musste eine der Künstlerinnen sein, die seit Ewigkeiten in dem Quartier lebten, das würde alles erklären. Er zögerte kurz, entschied sich aber dann dafür, sich auf das Gespräch einzulassen, immerhin versprach die Sache, interessant zu werden.
„Etwas mehr Aufgeschlossenheit, bitte“, antwortete Severin und Kassandra hob erstaunt die Augenbrauen und hielt in ihrem Training inne. „Für eine Künstlerin bist du ganz schön frech zu den Hipster-Trotteln, die deine Werke kaufen.“
Sie erstarrte kurz und begriff, dass sie genauso leicht zu durchschauen war wie er. Schließlich zuckte sie demonstrativ, doch ein bisschen defensiv mit den Schultern und meinte: „Dafür bezahlt ihr doch – dass wir frech zu euch sind und euch den Spiegel vorhalten.“
Severin musste lachen, offenbar hatte er die Sache noch nie so gesehen. Für einen Hipster schien er ganz nett zu sein, trotzdem wollte Kassandra ihre Streiterei noch nicht beerdigen, also fuhr sie aufgeregt fort: „Wir Künstler sind immer zuerst da, dann kommen die Galerien und dann der ganze Rest – und zack! – ehe du dich’s versiehst, wurden die Straßendealer durch Marketingleute ersetzt, die leeren Fabrikhallen zu Lofts umgebaut und die Mietzinse sind jenseits dessen, was man sich zu träumen wagt. Ein paar Künstler behält man aber noch da, damit das Feeling nicht ganz verloren geht oder damit noch eine letzte Persiphlage auf die Vergangenheit überdauert. Das ist Gentrifizierung. Und das Beste ist, die Hipster, die für die Invasion verantwortlich sind, leben in einer künstlichen geistigen Sphäre voller sarkastischer Bemerkungen über Sarkasmus, Pastiche und all den netten Wörtern, die man mit Vorsilben wie ‚Post-‘ oder ‚Neo-‘ verziert hat.“
Severin starrte sie eine Sekunde lang verwirrt an und fragte sich, wann die Frau zuletzt ihre ADHS-Medikamente genommen hatte. „Also sind wir Post-avantgardistisch?“, fragte er mittlerweile breit grinsend. „Vielleicht Neo-kulturell?“
Kassandra hatte nun mit ihrem Training aufgehört und sich ganz der gegenseitigen Hänselei gewidmet. Sie schüttelte entscheiden den Kopf. „Nein, Gentrifizierung ist nicht euer Ding, sondern unseres, wir haben damit angefangen! Wir haben die Lofts erfunden, wir haben Chai Latte und Grüntee getrunken, bevor es cool war und das alles für einen Zehntel des Preises, den ihr Rollkragenpulli-und-Markenjeans-Typen jetzt dafür bezahlt.“
„Aber das macht euch zur Avantgarde“, erwiderte er. „Also seid ihr die ersten von unserer Sorte, ihr habt mit der Invasion überhaupt erst angefangen! Dass man heute die Leute im Viertel nicht mehr Schweine, sondern nur noch Sparschweine nennen kann, dass wir nachgezogen sind, das ist euer Fehler.“
Kassandra prustete laut los und rief zwischen einzelnen Lachsalven aus: „Sparschweine, der war gut!“
Severin musste auch leise lachen, doch das Piepsen seiner Uhr verriet ihm, dass er zu spät ins Büro kommen würde. „Hey, ich muss los“, sagte er, bevor er fragte: „Wollen wir diese sinnbefreite Diskussion später fortsetzen?“
„Klar, warum nicht“, entgegnete Kassandra und fragte dann: „Im Starbucks, neun Uhr?“
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