Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Warum biss sie bloß jedes Mal, wenn sie eines dieser leckeren Baguette-Sandwiches aß, als Erstes in die Seite mit der Gurke? Rein logisch betrachtet sollte sie eine fünfzigprozentige Chance haben, zuerst die Tomate zu erwischen, doch dies geschah offensichtlich niemals. Manchmal machte die Welt einfach keinen Sinn, sinnierte Lena, bevor sie den letzten Bissen herunterschluckte. Sie hätte lieber am Ende den Gurkengeschmack im Mund gehabt, statt sich mit den widerspenstigen Tomatenkernen herumzuquälen.
Sie saß auf einer mit schludrig gesprühten Tags verschmierten Parkbank in der Berliner Innenstadt in einer ruhigen Grünanlage. Die junge Antiquitätenhändlerin steckte sich und warf einen Blick durch die Baumwipfel in den blauen Sommerhimmel. Es war zwar noch nicht sehr heiß, doch dies würde sich im Laufe des Nachmittages rasch ändern. Sie fragte sich, was sie mit dem Rest des Tages anfangen sollte – es gab noch vieles, was sie in den nächsten Wochen tun wollte. An diesem Morgen hatte sie mit ihren Chef, dem Besitzer des kleinen Antiquitätenladens in Kreuzberg, gesprochen. Er hatte ihre Kündigung akzeptiert und ihr alles Gute gewünscht. Sie würde den kleinen Laden vermissen, im dem es nach altem Holz und Kaffeebohnen roch und dessen Schaufenster mit Kakteen vollgestellt war, weil sie immer vergessen hatte, die Pflanzen häufig zu gießen. Doch sie glaubte, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Ein Hustenkrampf schüttelte Lena. Es wurde wirklich immer schlimmer, ihr Onkologe hatte ihr nicht zu viel versprochen. Obwohl es medizinisch gesehen keinen Zweck mehr hatte, nahm sie eine kleine braune Glasflasche Hustensirup aus der Handtasche und goss sich etwas davon auf einen Löffel; zumindest würde das für einige Minuten den Hustenreiz etwas unterdrücken. Zwei Monate würden ihr noch bleiben, hatte der Arzt gesagt; vielleicht vier, wenn sie sehr viel Glück hatte. Doch was bedeutete Glück in Zeiten wie diesen schon? In einer solchen Situation ändern sich alles und man wusste nicht mehr, wo man stand. Klassische Logik hatte sie spätestens in der ersten Trauerphase der Verleugnung hinter sich gelassen; sie war von impulsivem Chaos abgelöst worden, von dem sich Lena nicht sicher war, ob es noch andauerte. Lena hatte sich gar nicht erst die Mühe gegeben, der Logik wieder einen großen Platz einzuräumen, als sie glaubte, bei der Akzeptanz angelangt zu sein. Es kümmerte sie auch nicht mehr, ob die Trauerphasen nun Axiome oder eindeutig bewiesene Fakten waren – etwas, was sie früher garantiert überlegt hätte. In manchen Momenten fragte sie sich jedoch, ob sie sich bloß einredete, schon alle Trauerphasen durchlaufen zu haben, oder ob sie gar nicht mehr so weit käme, weil es ihr vorher so ergehen würde wie den Farnen, den mittlerweile kompostierten Vorgängern der Kakteen im Antiquitätenladen. Doch sie bevorzugte es zu glauben, dass sie nun ruhig wäre und alles in Ordnung sei.
Früher hatte sie sich kaum je die Frage gestellt, was wohl von ihr bleiben mochte, doch seit ihrer Diagnose hatte sich das geändert und eine kalte Furcht hatte von ihr Besitz ergriffen: ihre Gedanken und Gefühle wären in kurzer Zeit für immer von diesem Planeten verschwunden, ausgelöscht. Sie hatte keine Familie mehr, die sie hinterlassen würde, bloß die Mitbewohnerin aus ihrer Wohngemeinschaft und einige gute Freunde. Sie hatte jedoch nur kurz bereut, niemals Kinder gehabt zu haben – damit hätte sie zwar jemanden gehabt, für den sie da sein konnte, doch die Kinder wären Waisen geworden noch bevor sie Teenager wären. Es gab andere Mittel und Wege, nicht ganz so schnell in Vergessenheit zu geraten. Sie könnte ein Buch schreiben oder eine Website erstellen. Wenn es hart auf hart käme, könnte sie sich sogar auf dem Alexanderplatz in die Luft sprengen.
Doch es würde machte keinen Sinn machen, sich einen symbolischen Schrein zu erbauen, der genauso in Vergessenheit geraten würde wie sie selbst, bloß dass es etwas länger dauern würde. Es gab bereits genug schreckliche Bücher, die nur so vor Selbstmitleid trieften, genug Blogs, die mit langweiligem persönlichem Unsinn gefüllt waren und genug Verrückte, die mit Sprengstoffen hantierten von denen sie keine Ahnung hatten. Irgendwann hatte sie eingesehen, dass ein solcher Effort zwecklos war, vor allem da sie nicht mehr lange genug leben würde, um das Resultat davon zu sehen.
Nun glaubte sie, mit dem Bedauern abgeschlossen zu haben; es war an der Zeit, den zerstörerischen und zwecklosen Weltschmerz hinter sich zu lassen, der ihr schon seit ihrer Jugend immer wieder ein Begleiter gewesen war und etwas aus der Zeit zu machen, die ihr noch blieb. Wichtig war ihr nun nicht mehr, was sie hinterließ, sondern was sie erlebte. Und wenn sie noch etwas erleben wollte, dann war es nun an der Zeit. Sie hatte in den letzten Tagen verschiedene Drogen probiert, sich betrunken und ihren ersten Diebstahl begangen. Heute Abend würde sie einen Großteil von ihrem Ersparten abheben, zum Flughafen gehen und in den nächsten Flieger nach New York steigen.
Sie fühlte sich entspannt – ohne Angst, ohne Schmerz und ohne Verantwortung. Manchmal fürchtete sie, dass die Trauer irgendwo in ihrem Hinterkopf lauerte, jederzeit bereit, wieder aufzutauchen. In diesem Moment gab aber nichts mehr außer ihrer Neugierde, Vorfreude und ihrem ungezügelten, wenn auch für sie unerklärbarem Optimismus. Vielleicht wäre ihr kleiner hedonistischer Feldzug für die nächsten Wochen genau das Richtige. Sie stand auf, streckte sich und warf das Einwickelpapier vom Sandwich in den nächsten Mülleimer. Manchmal gab es spannendere Dinge im Leben, als die Frage danach, ob die Gurke nun zuerst gegessen wurde.