Diese Geschichte spielt im erweiterten Universum „Nach Hause“.
Ich kann ihn noch immer riechen. Nicht der beißende Gestank der Fäulnis, sondern ihn, meinen Ehemann. Er riecht nach frischen Waffeln, wie mein Kopfkissen oder der royalblaue Kaschmirschal, den er mir zu unserem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest geschenkt hat.
„Mommy, ist Daddy böse auf mich?“ Finn sieht mich mit großen Augen an, legt seine winzige Kinderhand auf meine, die verkrampft den Schaltknüppel umfasst.
„Nein, Schätzchen. Darüber haben wir bereits gesprochen.“
„Ja schon“, murrt der Sechsjährige, ehe er nachdenklich auf die Rückbank linst. Devin sitzt scheinbar teilnahmslos neben seinem kleinen Bruder auf den Beifahrersitz gequetscht und stiert auf das Armaturenbrett. Der leblose Körper ihres Vaters verweilt drapiert auf den Polstern hinter ihnen. Ich hatte ihn nicht zurücklassen können, mein Herz wollte es nicht zulassen.
„Trotzdem“, fährt mein blondes Kleinod starrköpfig fort, „nur weil er tot ist, muss er nicht so störrisch sein.“ Devin blickt auf, perplex, genauso wie ich.
„Schätzchen“, beginne ich, ohne zu wissen, was ich sagen soll. Da rettet mich mein Ältester und erklärt liebevoll leise: „Wenn jemand stirbt, dann ist sein Gehirn kaputt. Weißt du noch, was das bedeutet?“
„Ja, keine Elektr…“
„Elektrizität“, vervollständige ich das komplizierte Wort und nicke dem Jungen aufmunternd zu.
„Genau, Elektrizität. Keine Elektrizität, kein Mensch.“ Sichtlich stolz darauf, sich den Spruch gemerkt zu haben, dreht er sich wieder nach vorne und grinst Devin und mich abwechselnd an. Inbrünstig wünsche ich mir, er verstünde diese Worte nicht, sein kindlicher Geist wäre noch nicht bereit, das Konzept der Vergänglichkeit zu begreifen. Ich irre mich, bestimmt, will es nur noch nicht zugeben, kann ich es doch selbst nicht wahrhaben.
„Sehr gut, Finn.“ Devin wuschelt seinem kleinen Bruder durch die Haare, lächelt tapfer, bevor er Rat suchend, stumm und unentschieden mit den schmalen Schultern zuckt.
„Wann kommt denn die Elektrizität zurück?“, fragt Finn entspannt, atmet trotz des alles durchdringenden Verwesungsgeruchs tief durch. Etwas in mir drin verlangt nach einfachen, wärmenden Unwahrheiten, nach einer Geschichte, die meinem Sohn Trost schenkt, sei es auch falscher.
„Das geht nicht, Finn“, höre ich die erschreckend erwachsene Stimme Devins. Er ist zwölf, sollte Fußball spielen, Mädchen furchtbar finden oder im Internet nach Dingen suchen, die mich als Mutter verängstigen. Mir ist bewusst, was bald auf ihn zukommt und es zerreißt mich. „Niemand kommt zurück vom Totsein.“
„Nicht wahr!“, brüskiert sich der Jüngere, zu Recht. „Da laufen überall Tote herum.“ War es früher schon heikel einem Kind die Unwiderrufbarkeit des Todes schonend nahezubringen, so ist es heutzutage beinahe unmöglich. Vielleicht, denke ich mir, wäre die Unwahrheit nicht verwerflich, eine gut gemeinte Lüge, welche die Realität etwas erträglicher macht. Nur geht es nicht mehr bloß um die hypothetische Moral oder den Luxus die Kindheit mit Märchen zu versüßen, den naiven Glauben selbst bis ins hohe Alter am Leben zu erhalten. Kalte, rationale Sachlichkeit, Denken frei von Wahnvorstellungen ist das einzige, das uns von diesen Monstern schützt, das letzte, das zwischen uns und ihnen steht.
„Erinnerst du dich an Cap?“, reagiert Devin geistesgegenwärtig. Ich fühle mich schuldig, unfähig.
„Mama denkt oft an ihn.“ Ich sollte diejenige sein, die meinen Kindern in dieser schweren Zeit beisteht, jedenfalls so lange ich noch kann. Diejenige, die ihnen ohne Lügen die Angst vor dem ewigen Nichts nimmt, es wenigstens nicht als verrottendes Mahnmal auf der Rückbank durch die Gegend kutschiert. Ich muss sie auf das vorbereiten, was ich selbst noch nicht akzeptieren will.
„Er kommt auch nicht zurück, er ist tot … Richtig tot.“ Devin erinnert sich wahrscheinlich nur vage an meinen treuen Gefährten, das schlappohrige Tier, das bis vor wenigen Jahren stets am Bettende, direkt unter meinen Füßen geschlafen hatte. Er war noch so klein, als wir Cap haben einschläfern müssen. An meinen Mann, an mich, wird er sich, lange nachdem unsere Körper zu Staub und Erde geworden sind, erinnern können. Wird er sich wohl genauso an den scheusslichen Gefallen erinnern, um den ich ihn werde bitten müssen, oder wird seine Psyche ihn davor bewahren, die Bilder einfach so ausradieren?
Mir ist als entweicht mir jeder Zweifel, plötzlich und ohne Vorwarnung fahre ich unseren Wagen ohne Bezug zu meiner Vergangenheit der Zukunft entgegen. Ich muss stark sein, darf nicht zusammenbrechen und wenn ich das will, dann dürfen meine Sinne nicht vom Geruch nach Waffeln, meinem Kopfkissen und dem blauen Schal getrübt werden.
„Wisst ihr, wir existieren auf zwei Arten.“ So sehr sich meine Liebe zu meinen Kindern gegen diese fürchterliche Tatsache weigert, es ist wichtig, dass sie die Welt wahrhaftig erkennen, sie den Unterschied zwischen tot und lebendig verinnerlichen. Meine Augen auf die langsam zerfallende Straße gerichtet fahre ich fort: „Zum einen ist da das physische Leben, unser Körper, unsere Gedanken, unsere Gefühle. Wenn wir sterben, so wie … Daddy, dann ist das alles für immer weg.“ Beide geben keinen Mucks von sich, warten geduldig darauf, dass ich es besser mache, dass meine Worte alle Wunden heilen. Ich gebe mein Bestes und hoffe inständig, inbrünstig, sie nicht zu enttäuschen.
„Aber das ist nicht alles, ein Mensch ist viel mehr als nur er selbst.“ Wir passieren eine Weggabelung und ich steuere den Geländewagen an den Wegrand. Unter einer Gruppe schlanker Zitterpappeln kommen wir zum Stehen. Die Sonne scheint freundlich durch das Geäst, lässt die gelb- und orangegrünen Blätter leuchten. Mein Mann hätte diesen Wald sicher gemocht, so wie er jeden Wald mochte. Ja, hier ist es richtig, denke ich, mich selbst ermunternd, als ich die Handbremse ziehe und meinen Gurt löse.
„Hört zu, Jungs, wir lernen jetzt etwas. Seit ihr bereit?“ Finn blinzelt mich aufmerksam an, als ich mich auf meinem Sitz zu den beiden drehe, Devin betrachtet apathisch seine Oberschenkel. „Wisst ihr noch, wie Daddy mit euch Campen war?“ Der Jüngere bejaht sogleich eifrig und nach einer Weile tut sein Bruder es ihm gleich. „Er war oft mit euch Fischen, hat euch beim Abwasch geholfen und euch abends ins Bett gebracht.“
„Daddys Gutenachtgeschichten sind so schön gruselig“, schwärmt Finn, augenscheinlich immun gegen den Terror von unheimlichen Geschichten in einer Umgebung voller Zombies und bewaffneter Fremder.
„Das sind sie, Schätzchen“, erwidere ich, bevor ich mich weiter zu meinen Söhnen hinüberbeuge, meine kalten Hände auf die ihren lege. „Das sind sie wirklich.“
Devin rührt sich kaum, doch ich weiß, wie ich ihm eine Reaktion entlocken kann. „Oder damals, als er das Baumhaus reparieren wollte, herunterfiel und sich den Arm gebrochen hat?“ Erneut nickt Finn, während sich ein winziges, schadenfreudiges Grinsen auf Devins Lippen schleicht. „Er hat dir eine Standpauke gehalten, weil du auf den Baum geklettert bist, nicht wahr?“
„Ja.“ Das Grinsen wird breiter, lebendiger, mein Plan geht auf. „Er meinte, es wäre zu gefährlich, ich wäre noch zu klein und dann ist er …“ Er kann das Gelächter nicht mehr zurückhalten. Mit weit geöffnetem Mund legt Devin den Kopf in den Nacken und grölt schallend, ehe er den Rest des Satzes zwischen Lachsalven hervorbringt: „Dann ist der riesige Tollpatsch selbst runtergefallen.“
Wir feixen nur kurz, eine Wohltat, nach den unendlich anmutenden Meilen ohne Ausgelassenheit. Mein Kummer hat uns aufgehalten, doch nun ist meine kleiner gewordene Familie bereit, den nächsten Schritt zu machen.
„Ihr kennt ganz viele Geschichten von Daddy, oder?“ Das Lachen verfliegt, macht bittersüßer Melancholie Platz.
„Ja, schon“, murmelt mein kleiner, großer Mann und kaut gedankenverloren auf der Unterlippe, „trotzdem will ich noch mehr davon.“
„Das will ich auch, Dev. Deswegen müssen wir jetzt so viel Freude und Liebe erleben, wie wir nur können und dabei denken wir an Dad, damit er immer bei uns ist, sie mit uns erlebt.“ Mit Erstaunen nehme ich zur Kenntnis, dass ich keinen Schmerz fühle. Meine Kinder, die angestrengt nachdenkend neben mir sitzen, schenken mir das Vertrauen, das ich verloren glaubte.
„Okay“, meint Finn schließlich und deutet sich mit seinem dünnen Zeigefinger auf die Stirn. „Daddy lebt jetzt hier.“ Heimlich beneide ich den Sechsjährigen für seine selbstverständliche, beinahe mühelose Art neue Ideen zu adaptieren und warte gespannt ab, wie es dem Älteren gelingen wird. Dieser zieht seine Hand unter meiner hervor, hält sich am Beifahrersitz fest und dreht sich nach hinten. Die Haut meines Mannes ist aschfahl, seine Lider geschlossen und seine eingesunkene Körperhaltung wirkt unnatürlich. Ich bin froh, dass seine hässliche Mütze die Einschusswunde unter dem Haaransatz verdeckt, selbst wenn sie keinesfalls über seinen endgültigen Zustand hinwegtäuschen kann.
„Wir sollten ihn begraben, so wie es sich für einen Feuerwehrmann gehört“, schlägt Devin schließlich vor und mir fällt ein Stein vom Herzen. „Deshalb sind wir hier, oder?“
Sanft lächelnd nehme ich die beiden fest in die Arme. Ich brauche nicht zu antworten, der Wald, die Singvögel, die Wildnis, die mein Mann so sehr bewundert hat, sprechen für sich.
„Zuerst müsst ihr kurz im Auto warten, okay?“ Finn bestätigt mit einem Daumenhoch, so wie er es gelernt hat, während Devin mir grummelnd meine Smith & Wesson SW1911 aus dem Handschuhfach reicht. Früher habe ich Waffen gehasst, tue es noch immer. Es sind dreckige, schmierige Gehhilfen für angst- und hasserfüllte Leute, mit denen ich nichts zu tun haben mochte. Heute bin ich eine von ihnen, voller Furcht und die Abscheu mutet mir so einfach, so praktisch an. Sie zu unterdrücken wird stets schwieriger.
„Danke“, murmle ich, bevor ich meinen beiden Jungs ein beruhigendes Schmunzeln schenke, aussteige und den Wagen abschließe.
Das Erdreich ist locker, riecht nach Humus und Schnecken. Nachdem ich eine knappe halbe Stunde die Gegend erkundet habe, sind meine beiden Söhne ausgestiegen und helfen mir nun dabei, den Boden aufzuschürfen.
„Mommy“, fiept Finn, erschöpft vom Graben, „wieso machen wir das?“ Erneut linst mein Ältester prüfend in meine Richtung, scheint abzuwägen, ob er die Frage beantworten muss. Ich seufze, nicht traurig oder resigniert, sondern mir Mut für die bevorstehende Aufgabe zuredend.
„Okay, ihr zwei“, beginne ich und stecke dabei meine ausklappbare Schaufel in den geschippten Erdhaufen hinter mir. Es fehlte nur noch wenig, bis wir die angebrachte Tiefe erreichen werden, nicht mehr lange und das Grab wäre bereit für meinen besten Freund, meinen Geliebten, meinen Mann. „Ich habe euch doch vorhin erzählt, dass der Mensch auf zwei Arten lebt.“ Sogleich verzieht Devin das Gesicht, so wie er das tat, wenn man ihm Kalbfleisch vorsetzt.
„Dad ist nicht im Himmel, er verrottet auf unserer Rückbank“, schnaubt er wütend, auf mich, auf seinen Dad und vielleicht ein klein wenig auf sich selbst.
„Ja, Dev.“ Ihn zu bestätigen fällt mir leicht, ich weiß, dass es richtig ist, meinen Jungs mit Ehrlichkeit gegenüberzustehen, nur darf die Liebe nicht fehlen. „Aber ich glaube, du vergisst etwas sehr Wichtiges, meinst du nicht?“
„Was? Dass du auch bald verrotten wirst?!“ Finn zuckt zusammen, bricht in leises Schluchzen aus, das mich innerlich zu zerfressen droht. Devins Wut bleibt davon ungetrübt, stattdessen brüllt er harscher: „Ist es das, Mum? Glaubst du, ich habe die riesige Bisswunde an deinem Arm vergessen, weil du deinen beschissenen Schal drumgewickelt hast?!“
„Schätzchen, ich …“ Es bleibt mir nichts anderes übrig als das Weinen meines Kindes zu erdulden und die Rage des anderen anzuerkennen.
„Jetzt mal ehrlich? Wie stellst du dir das überhaupt vor?!“, keift Devin auf die Grabstelle deutend. „Willst du uns gleich hier erschießen und verscharren, weil wir ohne dich und Dad sowieso sterben?!“
„Was?!“, stoße ich ungläubig aus, halte mir die Hände vor den Mund und schüttle frenetisch den Kopf. „Nein, nein, nein! Nein, du verstehst das falsch!“ Aller Widerstand nützt nichts, ich heule ungehemmt los, kann mich kaum davon abhalten, auf den feuchten Waldboden zu sinken.
„Mommy?“, vernehme ich die zarte Stimme Finns, erfüllt von Verwirrung und Angst. „Mommy, nicht weinen!“
Ich bemühe mich so gut ich kann, meinem blonden Kleinod ein Lächeln zu zeigen. „Es …“, gluckse ich, „es tut mir leid, Schätzchen. Mommy ist nur etwas traurig.“
Lautes Kreischen erschreckt mich, ich fahre hoch und blicke tränennass auf Devin, der unter Gebrüll einige Male kräftig in die Tür unseres Wagens kickt.
„Wieso hat er das getan?“, höre ich zwischen Kraftausdrücken. „Wieso, Mum?! Wieso verfluchte Scheiße hat er das getan?!“ Nach und nach versiegt das Toben, verebbte, so rasch wie es ausgebrochen war. Zurück bleiben unregelmäßige Atemstösse, schlaffe Schultern, Ausdruck der tiefen Trauer, die uns alle verbindet.
„Weil er ein guter Mann war“, antworte ich flüsternd. „Er wollte helfen.“
Devin schnaubt verächtlich, sagt jedoch nichts, muss er nicht, denn ich kann seinen Frust nur zu gut nachempfinden. Mein Mann ist, nein, war ein herzensguter Mensch. Kein Held, der keine Angst kannte, sondern einer, welcher ihr zum Trotz in brennende Häuser rannte, um das Leiden anderer zu lindern, ihnen zu helfen. Ich war so stolz auf ihn, allerdings wich eine Frage nie aus meinen Gedanken: Sind wir nicht genug? Ich schäme mich nicht für meinen Egoismus, will mir die Gleichgültigkeit seinem Leben, unserem Leben, gegenüber nicht aufzwängen.
„Was er getan hat, war falsch“, murmle ich schließlich widerwillig, dennoch aufrichtig. „Er hätte bei uns bleiben sollen, statt den Alten von diesen … Biestern wegzuzerren.“ Letztlich wandte sich Devin mir zu, mit aufgequollenen Augen und roter Nase erinnert er mich noch mehr an meinen Mann. Damals, als wir uns noch regelmäßig über Kleinigkeiten gestritten hatten, habe ich ihn oft so gesehen, zutiefst verletzt und zu stolz, es zuzugeben.
„Er hätte bei uns bleiben müssen“, wiederholt Devin und kommt dann langsam auf mich zu. „Das ist alles nicht fair!“
„Daddy ist lieb.“ Als ich hochschaue sehe ich Finn, der sich breitbeinig vor uns beiden aufgebaut hatte, die Hände auf die Hüften gestemmt, mit einer Ernsthaftigkeit in seinen Zügen, die ich bisher nicht kannte. „Er hilft denen, die ihn brauchen. Das ist nicht falsch!“ Von einem Sechsjährigen getadelt zu werden treibt uns Demut ein, klärt uns von der Verzweiflung und dem leeren, ziellosen Zorn. „Daddy ist lieb, ihr dürft nicht schlecht über ihn reden!“ Überzeugt schnaubend streckt sich der Kleine zu mir hoch, boxt mich spielerisch auf den Oberarm und wirbelt dann auf den Hacken herum, um zum Wagen zu gehen. Es kommt der Tag im Leben einer jeden Mutter, an dem ihre Kinder über sie herauswachsen, ihr die Stärke und Besonnenheit beweisen, an denen es ihr fehlt. Für mich ist dieser Tag heute, der Tag der Beerdigung meines Mannes. Wehmütig lasse ich meine Fingerkuppen über meinen Schal, die darunter verborgene Wunde, gleiten. Ich werde nicht bei ihnen sein, wenn sie aufwachsen, werde nicht an ihrer Seite stehen, wenn sie leiden, ihr Glück verpassen. Sie verlassen zu müssen ist mehr, als ich ertragen kann, aber heute bin ich es ihnen schuldig, die Fassung zu bewahren, sie durch den schmerzlichen Abschied von ihrem Vater zu begleiten.
„Ja, Finn“, höre ich mich selbst wie durch Watte. Devin steht in sich gesunken neben mir, still reicht er mir seine Linke und streckt die andere seinem Bruder entgegen, ehe er heiser sagt: „Lasst uns Dad begraben.“
Das Begräbnis war kurz, liebevoll und sehr leise gewesen. Finn hatte seinem Dad zum Abschied einen Kuss und seinen Teddybär geschenkt, Devin eine einsame Träne und das Versprechen, auf uns aufzupassen. Ich habe meinen Mann mit Furcht vor dem, was kommen mag und Dankbarkeit für das, was gewesen war, ziehen lassen. Gerne hätte ich ihn nochmals umarmt, seine Wärme und Güte gespürt, doch er war kalt. „Man weiß nie, wann das letzte Mal kommt“, hatte meine Mutter am Sterbebett meines Papas gesagt. Ich hingegen weiß es, möchte es vergessen.
„Wollen wir eine Kleinigkeit essen?“ Erst jetzt bemerke ich Finns gleichmäßiges Atmen. Er schläft, ist ausgelaugt von den emotionalen Anstrengungen des Tages. Devin schüttelt den Kopf und betrachtet seinen Bruder, ehe er mich mit festem Blick ansieht. Die Sonne wandert dem Horizont entgegen, während ich meine Kinder Meile für Meile näher an einen Ort fahre, an dem ich mir Sicherheit erhoffe. Es geht bergauf, der Wald wird dünner und zaubert Diskolichter, die durch das Auto tanzen, Devins grüne Augen leuchten lassen.
„Mum“, beginnt er belegt, will den Kleinen offensichtlich dem Schlummer überlassen. „Was passiert, wenn du …“ Ich begreife sofort, würge den grässlichen Klumpen herunter, welcher sich in meiner Kehle formt.
„Ich wollte es selbst tun“, erkläre ich meine Absicht, mir rechtzeitig das Leben zu nehmen, bevor ich als Bestie über meine Kinder herfalle, sie in Stücke reisse. Der Pragmatismus zwingt mich hingegen dazu, unser Vorankommen vor das seelische Wohl meines Sohnes zu stellen. Ich muss jeden wachen Moment nutzen, meine beiden Männer bis zum letzten Atemzug beschützen. „Wenn ich es nicht schaffe, dann …“
„Ich weiß“, unterbricht mich Devin prompt, fatalistisch. „Es ist in Ordnung, Mum, ich kann das.“ Der heruntergeschluckte Kloß bildet sich erneut, nur grösser, härter als zuvor. Wie kann ich so etwas unsagbar Grausames von meinem Kind erwarten?
„Es tut mir leid“, ist das einzige, das ich hervorbringe. Ich kann nicht darüber nachdenken, will verdrängen was ich ihm zumute, bis es soweit ist.
„Du hast es für Dad gemacht und ich will es für dich tun.“ Für ihn scheint das, was uns beiden bevorsteht, ein Akt der Liebe, der Gnade zu sein, seine Stimme ist ruhig, zärtlich und voller Verständnis. Ein Schluchzen bricht aus mir heraus, als er meinen verletzten Arm sachte drückt.
„Devin, ich …“ Ich trete heftig auf die Bremse, starre schockiert auf das grauenhafte Bild, das sich vor uns zeigt. Gerade eben war die Straße noch einigermaßen frei gewesen, abgesehen von einigen liegengebliebenen Autos, die wir umfahren konnten, stand nichts zwischen uns und dem vermeintlichen Sanktuarium im Osten.
„Scheiße!“, fluchen Devin und ich gleichzeitig.
„Was ist denn?“ Finn reibt sich den Schlaf aus den Augen, gähnt ausgiebig und zupft etwas am Sicherheitsgurt herum, dort wo er bei der harschen Bremsung eingeschnitten hat. Dann sieht auch er es. „Oh.“
„Was machen wir jetzt?“, will Devin mit eingefrorener Mine wissen.
Es ist eine verhältnismäßig kleine Gruppe von sechs. Sie haben uns noch nicht entdeckt, laben ihren unstillbaren Hunger unbeirrt von unserer Panik an einem blutigen Haufen Organe und Knochen. Ich kann nicht ausmachen, was sie fressen, der noch brennende Wagen neben ihnen verrät mir jedoch, dass es noch nicht allzu lange her sein kann, seit sie ihre Beute gerissen haben.
„Wir müssen weiter“, erkläre ich so selbstbewusst es mir möglich ist. Wir haben keine Zeit für Umwege, nein, ich habe keine Zeit.
„Mum, sie stehen mitten auf der Straße, wie willst du das machen?“ Devin sieht sich eifrig um, versucht wohl einen Weg um die blutrünstige Meute zu finden. Da ist keiner. Die Straße ist eng, eingezäunt von himmelragenden Pappeln, dichtem Gestrüpp. „Wenn wir zu nah herangehen, werden sie uns einkeilen“, gibt mein Ältester zu bedenken. In den Filmen sah das immer so einfach aus, man brauchte bloß langsam durch eine Gruppe von Zombies hindurchzufahren und sie machten einem Platz, klatschten lediglich mit ihren rohen Händen auf den Scheiben herum. In Wahrheit funktioniert das freilich nicht, sie lassen niemals locker, sammeln sich mit eiserner, gefrässiger Entschlossenheit um den Wagen.
„Wir können einfach drüberfahren“, schlägt Finn schulterzuckend vor. „So wie wir über das Eichhörnchen gefahren sind.“ Wieso muss er mich jetzt an das arme Tierchen erinnern, dessen lebloser Leib so beharrlich, tragisch an der Nuss festgehalten hat. Der Ruck war so heftig gewesen, als wir es erwischten, dass ich beinahe die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hatte, nie und nimmer würde ich also über einen menschlichen Körper, geschweige denn über sechs, rollen können, ohne zumindest großen Schaden am Wagen zu verursachen. Nein, das war keine Option.
„Ich glaube, das geht nicht, Schätzchen.“ Meine Worte klingen abgestumpft, der grausige Anblick der sich durchs frische Fleisch kauenden Viecher vereinnahmt mich komplett.
„Bist du sicher, Mum?“ Devin stützt sich auf dem Armaturenbrett ab, späht weiter angestrengt durch die Gegend, während Finn grüblerisch den Kopf schief hält.
„Ja, ziemlich sicher zumindest.“ Die Idee, bald eines von diesen halb verfaulten Dingern zu werden, mit ihnen gemeinsam auf der Pirsch durchs Land zu ziehen, widert mich an, so sehr, dass ich mich am liebsten gleich hier übergeben würde.
„Dann erschießen wir sie einfach“, verkündet Devin kurzerhand und langt sogleich ins Handschuhfach, wo meine Smith & Wesson, die Glock meines Mannes sowie unsere letzten Reste an Munition liegen. Der Karabiner wäre auf die Distanz die bessere Wahl, aber mit nur drei Schüssen kämen wir nicht weit, zumal ich keine besonders gute Schützin bin.
„Dann kommen die anderen!“ Es tut mir weh, dass mein Sechsjähriger bereits in der Lage ist, solche Zusammenhänge ohne Mühen zu erkennen, das ändert leider nichts daran, dass er richtig liegt.
„Stimmt. Zu riskant. Der Lärm ist meilenweit zu hören und könnte eine ganze Herde anlocken, wenn wir Pech haben.“
„Na gut, dann gehe ich raus und locke sie weg.“ Finn und ich wenden uns von der Straße ab und sehen Devin mit demselben schockierten Ausdruck und offenen Mündern an. Dieser reagiert genauso wie damals, als er seiner Lehrerin vor dem Krankenhausbesuch bei ihrem sterbenden Vater viel Spaß gewünscht und dafür irritiertes Raunen geerntet hatte. „Was?“
„Vergiss es!“, weise ich ihn zurecht, ehe ich weit leiser murmle: „Ich gehe raus.“
„Nein, Mum, ich bin schneller und …“, setzt Devin zum Widerspruch an und auch sein kleiner Bruder zieht eine empörte Schnute, will seine Mutter nicht in Gefahr sehen.
„Keine Widerrede! Ich diskutiere nicht mit euch darüber, ist das klar?!“ Schweigen, eisiges, schmollendes, verängstigtes Schweigen folgt auf meine Ansage. Danach zaghaftes Nicken, als es ihnen dämmert, dass ich meinen Entschluss gefällt habe. „Gut.“
„Finn, Devin, ich möchte, dass ihr mir den Plan nochmals aufsagt, okay?“ Die Bäume werfen lange Schatten, einige Vögel singen Lieder vom Frühling und der heißgelaufene Motor unseres Geländewagens gibt klickende Geräusche von sich. Wir waren vorsichtig ein Stück zurückgefahren, hatten wohl bloß Glück gehabt, noch nicht entdeckt worden zu sein. Ich muss jeden Schritt noch einmal durchgehen, absolute Gewissheit haben, dass meine Söhne sich an alle Details erinnern, von der Bedienung des Autos bis hin zum Weg zur sicheren Zone im Osten. Immerhin ist es durchaus vorstellbar, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass die beiden sich in nur wenigen Minuten alleine werden durchkämpfen müssen. Es bleibt kein Raum für Wehmut oder unschlüssiges Hin und Her, die Sonne wird bald untergehen und mein Leben zerrinnt mir zwischen den Fingern, als wäre es modriger Dung.
„Mommy, wir wissen es“, quengelt Finn. Freilich lasse ich mich nicht erweichen, stattdessen sehe ich ihn fest an, als wollte ich ihn hypnotisieren. „Du verscheuchst die bösen Leute, wir fahren so, wie Daddy es uns beigebracht hat und warten bei der nächsten Kreuzung auf dich“, zählt er maulend den ersten Teil unserer Abmachung auf.
„Und dann?“, fordere ich den Rest ein, noch immer die hellen Augen meines blonden Kleinods fixierend. Finn verzieht trotzig seine Lippen zu einem dünnen Strich, verweigert sich den womöglich grausamen Aussichten. Schlussendlich ist es Devin, der monoton weiterspricht: „Wenn du nach fünfzehn Minuten nicht kommst oder sie uns folgen, fahren wir ohne dich weiter. Wir bleiben solange auf der Straße, bis wir zur Abzweigung nach Greenville kommen, dort fahren wir weiter nach Osten. Zufrieden?“ Ich lächle traurig, erleichtert und irgendwie gelingt es mir, Zuversicht zu schöpfen.
„Zufrieden“, flüstere ich, ehe ich meine Kinder fest und innig an meine Brust drücke und die Stimme, die in mir schreit, es könnte das letzte Mal sein, verscheuche. „Also, dann mal los.“
Kaum war ich ausgestiegen, fühle ich mich schwindlig, geschwächter, als ich es erwartet habe. Ich rede mir ein, es liege an der langen Autofahrt, meine Muskulatur würde bald aus ihrem Schlaf aufwachen und mich kraftvoll vorantragen. Es fällt mir schwer, meinen Kindern den Rücken zuzukehren, mich von unserem Wagen zu entfernen, also konzentriere ich mich auf die verwitterte Mittellinie der Straße, hinter deren nächsten Kurve unter Umständen mein Tod lauert. Wie in Trance setzte ich einen Fuß vor den anderen, in der Rechten das lange Jagdmesser, in der Linken ein Brecheisen. Ohne Schusswaffe fühle ich mich, so ungern ich das zugebe, ausgeliefert, schutzlos, nackt. Erst jetzt begreife ich die tiefgreifende Furcht, die mein Mann zu erleiden hatte, wenn er sich für uns, mit nichts weiter als einer Eisenstange und einer Klinge, unter die Toten begeben hat. Es ist zu spät, um mich dafür bei ihm zu bedanken, um ihm wahrhaftiges Mitgefühl für seine Opfer entgegenzubringen. Wie konnte das so selbstverständlich für mich sein, wie um Himmelswillen konnte ich bloß so losgelöst von seiner Realität existieren?
„Du schaffst das, es wird alles gut, du kannst das … „, wispere ich mir und dem Wind zu, dessen Schwingen den Gestank von modrigem Fleisch in meine Richtung tragen. „Du geht dort hin, brüllst diese hässlichen Bestien an und rennst weg, simpel“, versuche ich es erneut, unglaubhaft, aber hartnäckig. „Es wird alles gut, alles wird gut.“
Als ich vor der Straßenkrümmung zum Stehen komme, drehe ich mich um, will meine Kinder, meine Lieben, meine Familie, mein Herz, erspähen. Vielleicht will ich mich vergewissern, dass ich keinen besseren Grund haben könnte, mich bereitwillig in die Fänge der Monster zu begeben, wahrscheinlicher ist jedoch, dass dies mein Abschied ist. „Ich liebe euch so sehr, so unendlich“, schreie ich ihnen in Gedanken zu und hoffe, dass sie es ohne meine Worte verinnerlichen, es oft genug gehört haben und es nie vergessen. Meine Beine tragen mich weiter, meine Hände umklammern die unnützen Waffen und für einen Moment scheint die Gegenwart wie ein Traum. Ich beobachte mich nicht von außen, empfinde indes keine Verbindung zum Hier und Jetzt, lediglich mein visueller Sinn lässt mich nicht im Stich, Bilder der gierig schlingenden Verwesung flackern zuverlässig, brennen sich in meine Retina. Es ist soweit!
„Hey!“, kreische ich, werde von der liebenden Mutter zum bitteren Krieger, dem Menschen, der ich nie war und heute sein muss. „Kommt her, ihr dreckigen Scheißviecher!“ Das Schmatzen und Schnappen verstummt, wird von einem fauligen Grollen abgelöst, ehe sie ihre Häupter von der Beute erheben, mich eine Sekunde dumm und leer anglotzen. „Na, was ist? Los jetzt, hierher!“ Ich stehe hüftbreit mitten auf der Straße, verkeile meine Backenzähne ineinander und hebe das Brecheisen zum Schlag, unterdessen kommen die sechs Zombies allmählich in Gang. Uns trennen knapp dreißig Meter, laufe ich zu früh los, bleibt einer vielleicht bei seinem menschlichen Abendessen zurück, zu spät und sie holen mich ein. Denn egal wie viel flinker ich sein mag, wie stark ihre Glieder von Infektionen und nekrotisierender Fasziitis befallen sind, an Ausdauer fehlt es ihnen nicht.
Der größte von ihnen, ein alter Mann mit aufgeblähtem Bierranzen, torkelt als letzter los, die anderen reagieren sofort. Drei von ihnen machen mir besonders Sorgen, scheinen in einem besseren, kräftigeren Zustand zu sein. Das Mädchen sieht noch ganz frisch, ja, beinahe lebendig aus, trägt sogar eine hübsche Schleife in ihrem langen roten Haar und eine Schnittwunde neben ihrem Mund lächelt mir freundlich zu.
„Nun macht schon!“, keife ich die Bestien an und als hätten sie mich verstanden, beschleunigen sie, rennen unkoordiniert, aber stetig auf mich zu. Ich kann nicht länger auf den Alten waren, wirble herum und springe in wenigen Sätzen direkt in das Gebüsch, will im dünnen Wald entwischen können, sie in die Irre führen. Dürre Äste schlagen mir ins Gesicht, kratzen meine Kleidung und Haut, während meine Finger Halt an der glatten Rinde der Pappeln suchen. Mein Keuchen übertönt das Rascheln und die dumpfen Tritte, jedoch nicht die gurgelnden Schreie meines blutrünstigen Anhangs. „Sie kommen näher!“, schießt es mir durch den Kopf und Panik ergießt sich über meinen Körper. Ich will mich umsehen, will in ihre geistlosen Fratzen blicken, stattdessen treibe ich mich voran.
Das Aufheulen des Motors vibriert durch die Baumkronen, lindert meine frenetische Angst und gibt mir endlich das, wonach ich mich so sehr verzehre: Die Gewissheit, dass meine Kinder fliehen, ohne mich, ohne die ständig lauernde Gefahr, dass ich eine von denen werde. Abrupt bleibe ich stehen, lege den Kopf in den Nacken und lasse sie zu mir kommen. Noch bin ich nicht erschöpft, noch kann ich kämpfen, sie zumindest daran hindern weiterzulaufen und meiner Fährte zurück auf die Straße zu folgen. „Du kannst das!“, murmle ich ohne jeden Glauben in meine Fähigkeiten, dann mache ich mich auf ihre Ankunft breit, verkrampfe meine Fäuste um das Brecheisen, sodass meine Knöchel weiß hervortreten und drehe mich schwungvoll um die eigene Achse.
Es erstaunt mich nicht, die fragile Gestalt des Mädchens als erste zu entdecken. Weiße Gewebefetzen baumeln von ihrem Unterkiefer, dessen stockendes Auf und Ab einem Spielzeugroboter ähnelt. Sie ist, nein, war ungefähr fünfzehn, trägt eine Zahnspange und einst modische Stiefel. Ohne Halt zu machen stürzt sie auf mich zu, ungerührt von meinem verbissenen Ausdruck oder der Tatsache, dass ich die Klinge über den Kopf hebe. Kaum sinkt sie schlotternd zu Boden, mein Jagdmesser fest verklemmt im Schädeldach, brechen zwei weitere durch das Gebüsch, das den Straßenrand säumt. Sie sind etwas langsamer, tragen die Male der Verwitterung deutlich auf ihren Körpern geschrieben. Das Messer aufgebend umkreise ich sie behände, erschlage den einen noch bevor er reagieren kann von hinten, zertrümmere seinen Hinterkopf mit einem einzigen Schlag. Ein nahezu entrüsteter Schrei folgt auf seinen Niedergang, dann kommt sie auf mich zu, schleudert mir wild fuchtelnd Eiterklumpen und geschwärzten Schorf entgegen. Auch sie geht bald in die Knie, landet ungelenk neben einem Haselstrauch und ihr Gurgeln versiegt, als die Spitze meines stählernen Stabs in ihrer Augenhöhle eindringt.
„Drei“, huste ich, zwinge meinen Atem sogleich zum Innehalten, lausche angespannt. „Es sind noch drei.“ Eine Weile geschieht nichts, außer dem sanften Windrauschen und den Vögeln kann ich kein Treiben im Wald ausmachen, also kehre ich zum Mädchen zurück, um mein Messer aus ihr zu zerren. Ihr Schädel knackt trocken, als wäre er ein gespaltenes Stück Holz.
„Hey!“ Meine Stimme verhallt und ich mache mich bereit meine Aufgabe zu Ende zu bringen. Allerdings entdecke ich noch immer niemanden. „Heeeey!“ Wenn ich weiter so viel Lärm mache, hätte ich gerade so gut auf die Dinger schießen können, denke ich genervt, obschon mir klar ist, dass die Schallwellen eines Schusses bedeutend weiter reisen würden.
Gerade als ich meinen Platz verlassen und mich auf die Suche nach den Bestien machen will, stolpert eine von ihnen durch das Unterholz, sieht mich lüstern an, jedoch gelingt es ihm nicht, sich auf mich zu werfen. Sein Oberschenkelknochen ist an zwei Stellen zerbrochen, sodass er bei jedem Schritt zur Seite kippt, trotzdem verlagert er sein Gewicht ohne Gemütsregung auf das geschundene Bein, humpelt Stück für Stück vorwärts. Ihn zu erledigen ist ein Leichtes. Er ist dermaßen zerfressen von Maden und Fäulnis, dass er meinem Brecheisen kaum Widerstand bietet, es gleitet beinahe durch ihn hindurch.
Ich habe nicht mehr gewartet, sondern war zur Straße zurückgekehrt und habe sie dort vorgefunden, lautlos, im Dreck des Grabens scharrend. Sie endgültig zu töten hatte sich wie Gutmütigkeit angefühlt, denke ich mir, während ich meine Klinge an etwas Gras abstreife. Etwas in uns Menschen verlangt nach Mitleid und Zuneigung, wenn wir kleinen, uralten Frauen gegenüberstehen, selbst wenn sie Zombies sind. Das Adrenalin ebbt allmählich ab, ebenso die rasende Angst, die meinen Geist bislang geschärft und wachgehalten hat und ich beginne mich vor der Erschöpfung zu fürchten. „Einer fehlt noch. Wo ist …“ Da höre ich meinen Sohn rufen.
Instinktiv sprinte ich los und mein Bedürfnis zu meinen Kindern zu gelangen, trägt mich weiter, schneller, als mein Körper im Stande sein könnte, bis ich endlich die Kreuzung erreiche. Devin ist ausgestiegen und schreitet mir mit dem Karabiner zuwinkend entgegen.
„Mum.“ Sein Gang ist locker, entspannt und ich falle erleichtert auf die Knie, lasse mein Kinn auf die Brust fallen.
„Du hast mir einen Schreck eingejagt“, schnaube ich müde, glücklich, bevor ich meinem Jungen zulächle. „Irgendwo ist noch einer.“
„Was? Du hast die anderen erwischt?“, fragt Devin mit neckischem Unglauben, deutet dann auf den Geländewagen und meint: „Finn hatte Angst um dich.“
„Du nicht?“ Ächzend stütze ich mich mit beiden Händen auf dem Asphalt ab und bemühe mich, das Entsetzen aus meinen Knochen zu schütteln.
„Ach was“, erwidert Devin grinsend und streckt mir dann frech die Zunge heraus. „Fahren wir?“ Seine Ungeduld ist genauso gerechtfertigt wie seine Verweigerung in Zeiten der Anspannung unnötige Gefühlsregungen zu zeigen. Letztendlich kann ich seine Paranoia sowie die Freude dennoch spüren.
„Sicher, Schätzchen“, rufe ich über die kurze Distanz, die uns noch trennt und richte mich mühselig weiter auf. „Kannst du fah…“
Ich fühle keinen Schmerz, keine Furcht, nicht einmal die Wärme meines Blutes, das stoßweise aus meiner Halsschlagader pumpt. Das satte Rot scheint auf dem aufgerissenen Asphalt zu blühen, breitet sich wie Mohnblumen darauf aus. Alles, was mich interessiert, ist, dass er regungslos neben mir liegt, das Brecheisen im aufgeblähten Bauch, die Klinge im Nacken. Er kann meinen Kindern kein Leid zufügen.
„Mum! Scheiße, Mum!“ Weit entfernt, so unwahrscheinlich weit entfernt. „Mommy!“ Wo sind sie nur? Grüne Iriden funkeln nahe vor meinen, werden von Tränen weggewaschen, drohen in der Dunkelheit zu verschwinden. „Mum, nein!“ Etwas zieht an meinem Arm, ich kann den Druck durch den royalblauen Stoff hindurch fühlen. „Devin, mach doch etwas!“
„Oh nein, hab keine Angst, sei nicht traurig, denk einfach an etwas Schönes“, will ich sagen. Tue ich es? „Denk an etwas Schönes, an frische Waffeln, Cap und den Teich hinter unserem Haus.“
„Mum, ist es … ist es soweit?“ Wie kann ich es von dir verlangen, wie könnte ich mein geliebtes Kind um diesen scheusslichen Gefallen bitten? „Mum?“ Meine Gedanken drohen zu versickern, entgleiten mir nach und nach. Nur der Wunsch, sie mögen nicht warten, werden mich alleine sterben lassen, bleibt. Jetzt wird alles gut werden, mein Geist kreist alleine darum, das Monster ist geschlagen, die Sicherheit in greifbarer Nähe. Sie müssen nur weggehen, bevor ich selbst zum Monster werde.
„Devin, Schätz …“, meine Kehle ist störrisch, aufgerissen. „Pass auf deinen Bruder auf.“ Ich erzwinge ein Lächeln, glaube ich jedenfalls, er schenkt mir seines, traurig, voller Liebe. Was bisher geschehen war, spielte keine Rolle mehr, denn endlich konnte alles gut werden. Dann setzt er den Karabiner an. Mein Kind, meine Familie, mein Herz, gibt mir Gnade.