Wissen ist Macht | Thors Hammer

Dies ist ein Interludium zur Fortsetzungsgeschichte „Wissen ist Macht“ und spielt zwanzig Jahre vor den Ereignissen der Serie.

Keuchend stolperte der junge Mann in das verlotterte Gartenhäuschen, stieß die Tür zu und setzte sich auf den Boden. Bei seiner Rekrutierung für die Sondereinsatztruppe er sich niemals träumen lassen, jemals in diese Lage zu geraten. Seine Uniform war dreckig, an einigen Stellen zerrissen, sein Gesicht mit Kratzern übersäht, bis auf seine Waffen und die Wasserflasche trug er keine Ausrüstungsgegenstände mehr mit sich.
„Scheiße, das war knapp“, zischte er und begriff im nächsten Moment, dass es keinen guten Grund gab, Selbstgespräche zu führen. Seine Verfolger hatte er höchstwahrscheinlich längst abgehängt, aber das war noch lange kein Grund, unnötige Risiken einzugehen.
Frederique lehnte sich zurück, sah sich in Ruhe um, immerhin musste er nach dem langen Lauf seine Kräfte sammeln. Sein Blick fiel auf ein Legobäumchen, das auf dem staubigen Holzboden lag und an eine andere Epoche erinnerte, in der hier Zivilisation geherrscht hatte. Er hätte es gerne aufgehoben und als Souvenir mitgenommen, wusste allerdings genau, wieso er das nicht durfte: Auch wenn in diesem Landstrich die nukleare Zerstörung Jahre zurücklag, so hatte sich niemand die Mühe gemacht herauszufinden, wie verstrahlt die Gegend noch war. Das Einzige, was zählte, war, dass ein einziger Schlag mit einer Wasserstoffbombe ausreichte, um auch die letzten unabhängigen Gebiete der Dynastie zu unterjochen und letzten Endes einzuverleiben. Natürlich gab es da noch das Problem der separatistischen Widerstandskämpfer, die gegen das Regime kämpften und irgendwann auf die Idee kamen, sich in der Todeszone zu verstecken. Genau dafür gab es die „Tactical Homeland Operations and Reconnaissance“, eine Sondereinheit mit dem vielsagenden Akronym T.H.O.R., die dafür ausgebildet war, solche Situationen zu meistern. Zumindest hatte es sie bis vor kurzem gegeben, denn Frederique war der einzige Überlebende der Einheit. Sie hatten die Gegner unterschätzt, gedacht, dass sie es mit einigen Hippies zu tun hätten, die Plakate klebten und ab und an einen Server der Regierung hochjagten. Aber nein, diese Leute waren paramilitärisch ausgebildet, hatten Waffen und den Willen, bis zum Äußersten zu kämpfen. Er dachte zurück an die Taktiken und Werte, die ihnen beigebracht wurden, alles unter den wachsamen Gesichtern der Regenten auf den Propagandaplakaten, mit dem einen Wort, das nun Milliarden von Menschenleben prägte wie kein anderes.

Smile.

Frederique verdrängte rasch die Bilder der gefallenen Kameraden, der von Landminen zerfetzten Körper, der wimmernden Verwundeten aus seinem Kopf. Dafür war jetzt weder die Zeit noch der Ort, solche Dinge durfte man nur mit der tröstenden Wärme von Whisky und dem damit verbundenen leichten Schwindelgefühl denken, dann, wenn er in seinem sicheren, leeren Apartment war. Er wird es schaffen, es muss ihm einfach gelingen! Er wird wieder in das große Regierungsgebäude mit der scheußlichen Skulptur der Regentenfamilie im Atrium schreiten, in dem T.H.O.R. seinen Sitz hatte, das lange Debriefing überstehen, vielleicht gar eine Medaille angeheftet bekommen. Eine Medaille, nach all dem, ein wertloses Stück Metall, das den Zufall belohnte, dass er nicht nur das jüngste Mitglied, sondern auch der einzige Überlebende seiner Einheit war. Nein, Frederique war kein Held, er hatte einfach nur Glück gehabt. Abwesend musterte er seine Hände, mit Schlamm- und Blutspritzern verkrustet, außen dunkel, innen etwas heller. Mit diesen Händen hatte er schon mehr als zwei Dutzend Staatsfeinde niedergestreckt, Menschen, die ihm im Kampf allesamt unterlegen waren … Halt, so durfte er nicht denken, er musste sich dem Mitleid widersetzten, sich an die einzig wichtige Maxime erinnern, die es zu beachten gab …

Smile.

Die Wolken zogen rasend schnell vom eiskalten Wind getrieben über den grauen Himmel und Frederique bemerkte bereits das Nachlassen des Tageslichts. Neben das Fenster gelehnt starrte er auf die postapokalyptische Einöde, die vor zehn Jahren ein typischer Vorort gewesen war. Noch war die Straßenführung zu erkennen, das Einfamilienhaus, zu dem dieses Gartenhäuschen gehörte, stand an einer Biegung und war zerfallen und angesengt. Frederique glaubte, ein Stück Mahagoni unter den Trümmern hervorragen zu sehen, vermutlich eine Diele des Wohnzimmerbodens, auf den damals jemand mächtig stolz gewesen sein musste. Irgendein Mensch, der längst zu Staub zerfallen war, die Hitze der nuklearen Detonation nicht überstanden hatte. Falsche Gedanken, nein, kein Mitleid, wir sind besser als das, wir sind die harte Hand der Dynastie! Bei dem Gedanken verkrampften sich Frederiques Finger um den Griff seiner Waffe.

Smile.

Ein komisches Geräusch von hüpfendem Kunststoff auf dem Boden, gefolgt von einem Rollen, als Frederique auf eine Fadenspule trat und beinahe hinfiel. „Scheiße!” In dem Halbdunkel war nicht viel zu erkennen, der Kämpfer hatte sich entschieden, bis zur vollständigen Dunkelheit zu warten, damit er sich hoffentlich unerkannt weiter in Richtung der Sicherheit durchschlagen konnte, zu dem bewachten, hohen Zaun, der die Todeszone abgrenzte. Wieso hatte nur dieses Gartenhäuschen die Zerstörung quasi unbeschadet überstanden, fragte er sich und hoffte darauf, dass diese Kuriosität ein Zeichen dafür war, dass der Rand der Zone in greifbarer Nähe war. Ohne Satellitenortung und Cell-Com war ihm seine Position ein Rätsel, würde also seinen Instinkten vertrauen müssen. Er tat das Richtige, war gut trainiert, er hatte es verdient, zu überleben! Er würde nicht für ein borniertes Regime, das Waffen gegen seine eigene Bevölkerung einsetzte … Halt! Es wurde immer schlimmer, die Propagandaplakate, die ewig gleichen Sprüche verblassten in seiner Erinnerung, hier draußen in der Einöde gab es sie nicht. Man konnte sie bestenfalls gerade noch so entziffern, in der hintersten Ecke des Verstandes …

Smile.

Dunkelheit. Nicht die Dunkelheit, wie man sie aus abgelegenen Dörfern kennt, hier gab es gar nichts. Kein Mond, keine Sterne, keine Lampen … Nur die eiskalte Winternacht, als wäre sie etwas Substantielles, das alles umfasste, alles verschluckte, sogar die verbrannte Erde. Frederique hatte keine Chance, so den Weg zu finden, würde in einen Graben stürzen … Insgeheim verfluchte er sich für seinen Plan, er hatte die Lage falsch eingeschätzt. Jugendlicher Leichtsinn? Er musste ausharren, sein Glück in der Morgendämmerung versuchen. Trotz der Gefahr streckte er seinen Arm nach dem Legobäumchen aus, konnte es ertasten, steckte es ein. Wie schlimm konnte die Kontamination schon sein? Hiroshima und Nagasaki waren schließlich auch bewohnt! Wahrscheinlich war die Todeszone nur ein Mahnmal für all jene, die es wagen sollten, sich der Dynastie zu widersetzen … Wieso hatte er sich nur für den Militärdienst entscheiden? Was hatte ihn geritten, wieso hatte er den Worten von Treue, Loyalität und dem Kampf fürs Gute als Teenager geglaubt?

„Keine Bewegung, Kommunistenschwein!“ Der Lichtstrahl blendete ihn, ließ ihn erstarren; sie hatten ihn gefunden. Es war aus, nach all den Jahren, in denen er solche Leute gejagt hatte, rächten sie sich. Zu seinem eigenen Erstaunen blieb Frederique die Ruhe in Person, unerschütterlich. „Bringt es zu Ende, ich habe es verdient. Es tut mir leid.“ Fatalistisch. Kalt. Die Erkenntnis kam zu spät. Der Betäubungsschuss traf ihn, ließ ihn zusammenzucken und er verlor das Bewusstsein.

„Wieso habt ihr mich gefangengenommen?“ Frederiques Stimme war heiser, seine Hände auf dem Rücken gefesselt und die Taschenlampe blendete ihn, sodass er keine Gesichter erkennen konnte. „Was wollt ihr noch von mir? Ich habe eure Kameraden getötet.“
„Ich weiß.“ Der Unbekannte klang traurig, nicht wütend, nicht rachsüchtig, einfach verloren, wie alle Menschen in dieser Welt, die alleine, kaputt und verloren waren. „Deine letzten Worte passten nicht zu einem Schergen von T.H.O.R., sie waren … anders. Was bist du?“
Frederique wusste nicht, was er antworten sollte, er wusste nicht mehr, was er war, wer er war, wohin er gehörte, nur Eines wird er nie vergessen, ganz egal was geschehen mag: Den Namen, den sie ihm auf der Akademie gegeben hatten, dafür gedacht, dem Feind Furcht einzujagen und ihm Zuversicht einzuflößen. „Mein Name ist Frederique, ich bin der Hammer.“

Autorin: Sarah
Setting: Gartenhäuschen
Clues: Legobäumchen, Mahagoni, Wärme, Skulptur, Fadenspule
Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Clue Writing