Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Louis hatte schon ein schlechtes Gefühl gehabt als er vor wenigen Minuten aus seinem Streifenwagen ausgestiegen war, aber mit dem was er hier sah, hätte er niemals gerechnet. Der unterirdische Appellraum, in welchem sich die Arbeiter jeden Tag versammelten bevor sie von den Irrgängen des Bergbauschachts verschluckt wurden, war jetzt vollgestellt mit großen, massiven Kisten, die durch eine kaum sichtbare Tür im Felsen hereingeschoben wurden. Er wusste von der Tür, wusste dass sie der Zugang zu einem Tunnel war, der einzig und alleine dafür geschaffen worden war, Schmuggelware über die nahe gelegene Grenze hier hin zu bringen und er wusste auch von den Männern, die diese Tür zweimal in der Woche öffneten.
Louis vermied es darüber nachzudenken, wie es soweit hatte kommen können, denn als einziger Sohn eines gefeierten Polizeihelden glaube er, es wäre seine Pflicht gewesen, denselben Weg einzuschlagen. Doch schon wenige Wochen nachdem er die Ausbildung begonnen hatte, wurde es unübersehbar, dass er nicht das Zeug dazu hatte eine ebenso glanzvolle Karriere zu realisieren. Er hatte nach und nach seinen Enthusiasmus für den Beruf verloren, seine Ziele aufgegeben und er wurde einer der vielen unbedeutenden Kleinstadtpolizisten, die ihre Dienstjahre mit lächerlichen Nachbarschaftsstreitereien verschwendeten und entweder dem Größenwahn verfielen, oder träge, fett und lethargisch wurden. Es war an einem Mittwochnachmittag gewesen, als ihm ein Mann im Armani Anzug, der ihm so glatt vorkam wie ein frisch gefangener Aal, dieses Geschäft vorgeschlagen hatte. Er würde nur dafür sorgen müssen, dass sich seine Kollegen auf dem Revier nicht darum kümmerten, was in der Mine vor sich ging, nachdem die Arbeiter ihren Heimweg angetreten hätten. Es war einfach und das Geld, das er damit verdiente reichte für ihn aus, um keine weiteren Fragen stellen zu wollen.
Doch heute Abend hatte er erneut einen Anruf von der neugierigen Alten, die in der Villa auf dem Hügel wohnte und sich wohl einen Überwachungsstaat wie im Kommunismus gewünscht hätte, erhalten. Dabei hatte er den Männern doch ausdrücklich gesagt, dass sie die Scheinwerfer an ihrem Pickup ausschalten sollten, bevor sie die kurze Zufahrt hochfahren. Nun stand er also da; inmitten von großen Holzkisten, die wahrscheinlich neben Drogen auch Waffen enthielten, und bemühte sich, den zwei großgewachsenen Männern nicht preiszugeben, wie sehr er sich vor ihnen fürchtete und wie nervös es ihn machte, als einer von ihnen gedankenverloren in einem Fass herumstocherte, welches irgendein gräuliches Granulat enthielt, das offensichtlich zum Bergbau benutzt wurde.
Während sich die zwei namenlosen Männer darüber unterhielten, ob es angebracht wäre ihren Vorgesetzten über Louis‘ Anwesenheit zu informieren, entdeckte dieser hinter einer der Kisten eine zierliche Gestalt. Obwohl er sich nichts Schöneres hätte vorstellen können, als endlich aus diesem beklemmenden, angsteinflößenden Raum zu entkommen, streckte er seinen Hals gerade weit genug nach links, um zu erkennen, dass dort ein kleines Mädchen, nicht älter als zwölf, stand. Sie trug einen dieser billigen Kimonos aus Seidenimitat, wie diejenigen, die er während seinen Ferien in Tokyo in beinahe jedem Souvenirladen gesehen hatte. Ihre Haare waren schmutzig und sie sah ihn ängstlich und flehend an.
„Bitte verschwinden Sie jetzt!“ Louis drehte sich in die Richtung aus der die dunkle Stimme gekommen war, zögerte und haderte mit sich selbst. Er war nie wie sein Vater gewesen, er war kein Held und dennoch wusste er, dass er hätte fragen sollen, warum dieses Mädchen hier unten war, versteckt hinter Kisten. Doch bevor er eine bewusste Entscheidung hätte treffen können, realisierte er, dass seine unförmigen Beine ihn bereits nach draußen trugen. Bald hätte er die kurze Steigung und den Schacht hinter sich gelassen und würde wieder den zarten Duft von Ringelblumen riechen und das Grillenzirpen hören können.
Louis‘ Kiefer verkrampfte sich schmerzhaft als er unter den Holzträgern des Eingangs stehenblieb. Es kostete ihn mehr Überwindung als er sich eingestehen wollte, Verstärkung anzufordern und damit das Risiko einzugehen, nicht nur seinen Job zu verlieren, sondern auch wegen Mittäterschaft im Gefängnis zu landen und er war ein klein wenig stolz auf sich, als er sein Mobiltelefon wieder in der Jackentasche verschwinden ließ.
Er atmete einige Male tief ein, ergriff seine Dienstwaffe und nutze den winzigen Augenblick, in welchem seine Angst kurz verflogen war, und marschierte mit ausladenden Schritten wieder zurück.
Als er erneut den in Fels geschlagenen Raum betrat, sah er wie sich ein weiterer breitschultriger Kerl durch die kleine Tür zwängte und dabei ein offensichtlich benommenes Mädchen mit langen, braunen Locken trug.
„Sie handeln mit Menschen. Das war nicht der Deal.“ Die drei Männer drehten sich blitzartig zu ihm um, offenbar sehr erstaunt darüber ihn heute Abend nochmal zu Gesicht zu bekommen. Einer von ihnen, der im weißen Unterhemd und den Blumenkohlohren, hob seine AK47, richtete sie auf ihn und sagte spöttisch: „Was glaubst du denn woher all die Nutten kommen, die sich um Schlappschwänze wie dich kümmern?“
Louis fühlte wie seine Eingeweide rebellierten, als sich ihm sein muskulöses Gegenüber bedrohlich näherte und sich dessen übelkeitserregender Schweißgeruch in seiner Nase festsetzte. „Marcel, geh nach oben und ruf den Boss an. Sag ihm, dass wir einen neuen Bullen brauchen werden.“ Louis blickte flüchtig zu dem Angesprochenen, welcher etwas angespannt aussah und anscheinend wusste, was nun folgen würde. Er war erstaunt darüber, wie leicht es ihm fiel die aufkommende Panik zu bekämpfen, als er begriff, dass ihm nun nur noch wenige Atemzüge bleiben würden. Beinahe instinktiv richtete er seine Waffe, welche er das letzte Mal beim Wintersportschießen der Polizeiwache benutzt hatte, auf seinen Gegner und traf diesen zielgenau zwischen dessen buschigen Augenbrauen.
Betäubt vom lauten Knall der Waffe in dem beengten Raum und dem darauffolgenden Pfeifen in seinen Ohren, hatte Louis große Mühe sich auf den Beinen zu halten und nicht, wie sein Opponent, auf den Boden zu fallen wie ein geschossenes Reh. Gegen die Orientierungslosigkeit kämpfend versuchte er, die beiden Mädchen zu lokalisieren und fand beide bewusstlos neben einigen Jutesäcken liegend und wurde sogleich von einer Welle von Selbstzufriedenheit überflutet; vielleicht war er seinem Vater doch nicht so unähnlich wie er gedacht hatte.
Aus seinen Gedanken gerissen fiel ihm erschrocken ein, dass die anderen beiden Männer sich mittlerweile sicherlich von dem Schock erholt haben müssten und suchte eilig, aber erfolgslos den Raum nach ihnen ab. Wahrscheinlich hatten sie sich bereits hinter den Holzkisten in Deckung gebracht und warteten darauf, dass er seinen nächsten Schritt tat.
„Wir können das friedlich lösen.“ Louis bemühte sich sehr, das Zittern in seiner Stimme zu verbergen, geriet dadurch aber nur noch mehr ins Stammeln. „Es gibt keinen Grund, das hier noch hässlicher zu machen als es ohnehin schon ist.“
Plötzlich fühlte er etwas Kaltes an seinem Nacken und als er das Klicken der Sicherung hörte, wusste er, dass sein Heldenmut lediglich einen Mann zu Fall gebracht hatte. „Verfluchter Bulle! Du hast keine Ahnung, was du getan hast.“ Eine kräftige Hand riss ihm seine Waffe weg, umklammerte seine Arme hinter dem Rücken und presste ihn gewaltsam gegen den Lauf in seinem Nacken. „Dem Boss wird das überhaupt nicht gefallen. Vermutlich will er jetzt, dass wir die Kinder auch noch erledigen, glaubst du, dass wir das gerne tun?“
Die Nachtluft roch nach Ringelblumen und die Grillen spielten auf ihren Geigen als er ins Freie gestoßen wurde. Sie hatten ihn vermutlich noch im Bergbauschacht heftig auf den Hinterkopf geschlagen um ihn solange ruhig zu stellen, bis der aalglatte Mann im Armani Anzug über sein Schicksal entschieden hatte. Als er die beiden kurz aufeinanderfolgenden Schüsse hörte, welche wahrscheinlich für die Mädchen bestimmt waren, dachte er an die Alte, wie sie in ihrer Villa sitzt und sich darüber freut einen weiteren Grund gefunden zu haben, mitten in der Nacht bei der Polizei anzurufen.
Er war kein Held, er hätte nie einer sein sollen, aber immerhin war seine lähmende Lethargie eine halbe Stunde vor ihm gestorben.