Herzschlag

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Ich kann kaum atmen, etwas lastet schwer auf meiner Brust. Ruhig bleiben, ermahne ich mich, liege reglos auf der weichen Matratze auf dem Rücken, starre in die einsame Dunkelheit. Natürlich beschwert nichts meinen verschwitzten Oberkörper, außer der dünnen Decke, ohne die ich nicht einschlafen kann. Da aber bei diesen Temperaturen Realität etwas wabbelig wird, kann mich bereits ein Milligramm Gewicht fertigmachen. Zwar verstecken sich keine Monster unter dem Bett, aber der schiere Gedanke daran, dass ich hier liege, hier und jetzt existiere, schnürt mir die Kehle zu. Bevor ich mich hinlegte, habe ich geduscht und schon triefe ich wieder vor Schweiß, ach, sind wir Menschen nicht widerlich, stinkend, eklig, klebrig?
Ein leiser Windstoß bauscht den dünnen Vorhang, erreicht knapp meine Zehenspitzen, mit denen ich aufgeregt rhythmisch wackle, ganz so als wolle er mich verspotten, wolle sagen: „Hey du Trottel, ich weiß, dass du dir die Abkühlung eines Gewitters herbeisehnst, ich versichere dir, es wird keines kommen. Und falls doch, dann bestimmt kein erfrischendes, sondern ein feuchtwarmes.“ Ich schließe die Lider, höre ein entferntes Hupen in der schlaflosen Nacht, in der Menschen vor meinem Haus durch die Straßen schlendern, während ich hier liege, dazu verurteilt, weiter um jede Minute Schlaf zu kämpfen oder darauf zu hoffen, dass mir die gnadenlose Affenhitze überhaupt Schlaf zugesteht. Ich mag nicht länger herumliegen, wälze mich hin und her, um den Qualen zu entkommen, die an das grenzen, was ich mir unter einer Angststörung vorstelle. Ob sich Leute, die kurz davor stehen, sich die Augen auszukratzen, ebenso fühlen? Ruckartig, entschlossen richte ich mich auf, blinzle auf die leuchtend roten Ziffern des Weckers: 04:21. Keine schöne Zahlenfolge wie 43:21, die ein Wecker übrigens aus naheliegenden Gründen niemals anzeigen wird. Wenn schon, dann 12:34, das ist eine schöne Zeit: Man hat die Hälfte des Tages hinter sich, die schlechte Hälfte, in der man sich dank der Übermüdung kaum konzentrieren konnte und die Scheißsonne durch die riesigen Bogenfenster strahlte. Außerdem, das ist noch viel wichtiger, ist die Summe von eins, zwei, drei und vier eine schöne, runde Zehn. Linear aufsteigend, zu einer sympathischen Zahl aufaddierbar und jetzt wird es lustig, nach vier kommt bekanntlich fünf. Wenn man fünf von zehn abzieht hat man wieder fünf. Ich habe keine Ahnung mehr, wie ich auf sechs, oder war es fünf, gekommen bin, diese vermaledeite Hitze bringt mich sogar von meinen Ablenkungsversuchen ab!
Draußen ist eine ungewöhnliche, nahezu gruselige Stille eingekehrt, alle Stimmen der Nacht verstummt. Da ist er, unter der rauen Textur der dünnen Tagesdecke: Mein Herzschlag, ein undeutliches, schummriges Tock-Tock-Tock. „Oh nein“, seufze ich laut, wohl wissend, dass ich, wenn ich dieses Ding einmal pochen gehört habe, es nie wieder ignorieren kann. Der drohende Wecker, der in zwei Stunden klingelt, kennt keine Vergebung und wird mich in diesem Fall vermutlich ganz vom Schlafen abhalten, wahrscheinlich ist es eine Utopie, dass ich jemals ein Auge zumachen werde. Ich winde mich nach links und nach rechts, schlage die Decke zurück, zupfe sie zurecht. Dankbarkeit überkommt mich, als in der Ferne das typische Geräusch einer vom Dopplereffekt verzerrten Sirene erklingt – vielleicht würde ich danach den Presslufthammer in meinem Brustkorb vergessen können, endlich Schlaf finden, zwei läppische Stunden des Friedens, als Tropfen auf den heißen Stein nach dieser subtropischen Tortur. Zu früh gefreut, da ist es wieder, diesmal lauter, wie ein Sträfling, der im schwarz-weiß gestreiften Overall Steine klopft. Tock-Tock-Tock, hallo Mindfuck.
So habe ich mir das vorgestellt mit dem späten Aufbleiben der Erwachsenen, das mir als Kind verlockend erschien, denke ich mir sarkastisch. Jetzt bin ich fünfunddreißig, liege schwitzend im Bett, fürchte Asthma, Erstickungstod und zu alledem jetzt auch Nostalgie. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen und einschlafen, schon gar nicht ohne Zeitreisemittelchen wie Benzodiazepine, Barbiturate oder THC, nein! Wir werden alle älter, werden alle sterben, werden alle unsere Versäumnisse am Ende bereuen. Noch immer kein Gewitter, noch immer keine Erlösung, das Pochen ist offenbar zum einzigen Geräusch geworden, nun als das akustische Äquivalent eines Spechtes, der nahe der Schläfe an die Schädeldecke hämmerte. Dazu gehen mir sofort Baumarktwerbungen durch den hohlen, vom Herzschlag mit Widerhall erfüllten Kopf, weshalb sich ein grauenhafter Werbejingle zum infernalischen Puls gesellt. Meine kleine Welt wird zunehmend kleiner, die Wände rücken zusammen, werden mich unter sich begraben. Wie ein Kleinkind will ich trotzige Tobsuchtsanfälle vom Stapel lassen! Ich muss … Nein!

Ich ersticke. Oh, Gott, ich ersticke tatsächlich, rast die Panik durch meine Gedanken. Dann zwinge ich mich zur Bewegung. Schneller, als ich es für menschenmöglich gehalten hätte, sitze ich bolzengrade in meinem Bett, die Lider weit aufgerissen und starre in das lichtdurchflutete Schlafzimmer. Ich bekomme endlich wieder Luft, keuche stoßweise, bemerke zugleich, wie heiß es ist, wie zahllose Schweißperlen auf meiner Stirn stehen. Herzrasen begleitet meinen Adrenalinschub, während langsam die Tatsache zu mir durchsickert, dass ich irgendwann eingedöst sein musste. Um meinen Geist zu beschäftigen, sehe ich auf den Wecker, dessen Ziffern späten Vormittag verkünden, aber an einem Samstag. Eben war doch noch …? Der lange Ärmel meines winterlichen Pyjamaoberteils ist durchgeschwitzt – von wegen Sommer, die Zentralheizung ist die einzige Hitzewelle in diesem Winter und mein hohes Fieber lässt alles schwülwarm erscheinen. Unter der dicken Decke mit der Wärmeflasche grenzte es an ein Wunder, dass ich keinen Kreislaufkollaps davongetragen habe. Heilige Scheiße, dieser verfluchte Traum hätte mir fast einen Herzschlag gegeben! Trotz alledem, eben war Sommer – ich beschließe, die durch Grippemedikamente neu gewonnene Fragilität der Realität voll auszukosten. Ein Herbstspaziergang wäre nett. Und mariniertes Einhornsteak mit Goblin-Fleischbällchen.

Autorin: Sarah
Titelvorgabe: Herzschlag
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