„… und damit wäre der Konzentrationsausgleich erklärt“, beendete der Herr Winter, der Biologielehrer an meinem Gymnasium, seine Ausführungen und machte dann eine kurze Pause. Stefan stupste mich an und flüsterte: „Mir hängt Osmose so zum Hals raus.“
Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern und versuchte den letzten Satz in meinen Notizen fertigzuschreiben, doch er wollte diesmal nicht so einfach aufgeben. „Was hältst du davon?“
Mir war rätselhaft, wieso Stefan sich ausgerechnet den Platz neben mir ausgesucht hatte, denn wir hätten nicht verschiedener sein können. Er war der typische Vertreter der Gattung „Demotivierter Gymnasiast“, während ich ganz und gar dem Lernen und der Höflichkeit verschrieben war und mir ständig vorgehalten wurde, dass ich ein Streber sei. Vielleicht lag es daran, dass ich ähnliche Fernsehserien mochte, was ich einmal in einem kurzen Pausengespräch erfahren hatte, doch damit fanden unsere Gemeinsamkeiten auch schon ein Ende.
„Nicht wirklich, ich finde das Thema eigentlich interessant“, entgegnete ich genauso leise und schrieb hastig meinen Satz zu Ende. Herr Winter kritzelte ein Diagramm an die Tafel und schien sich nicht für unsere Unterhaltung zu interessieren, offenbar war es einer dieser Tage, an denen er die halbe Unterrichtsstunde mit Zeichnen verbringen würde.
Stefan sah mich skeptisch an und raunte: „Ich weiß ja schon, dass du ein Streber bist, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass du nur an deinen Abschluss denkst und daran, was du nachher tun willst. Man findet dich immer nur in der Bibliothek, nie bei den anderen Leuten am Chillen. Sei nicht andauernd ein Bücherwurm, leb mal ein bisschen!“
Ich schnaubte entnervt und ignorierte ihn indem ich vorgab, meine Notizen durchzugehen. Sein ewiges Getue nagte penetrant an meiner Konzentration und ich hätte ihn am liebsten angeschrien, doch ich blieb ruhig. Für mich war es noch nie eine Option gewesen, einen Streit anzufangen, denn ich war immer ein korrekter und netter Mensch, hatte mich zurückgehalten und für mich selbst geschaut. Doch ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, wieso sich Stefan nicht einfach anderswo hinsetzte und mich mit seinen Pseudo-Lebensweisheiten in Ruhe ließ, denn es hatte mehr als genug Platz und niemand zwang ihn, sich neben mich zu setzen. Ich weiß nicht, wie oft ich ihm schon gesagt hatte, dass ich meine Ruhe möchte, dass ich zuhören möchte oder dass er doch bitte ruhig sein möge. Es konnte doch nicht so verdammt schwer sein …
Wieder stupste er mich an und ich zischte ungehalten: „Was?“
„Mich einfach zu ignorieren ist doch keine Art“, sagte er mit breitem Grinsen. „Komm schon.“
„Jetzt lass mich endlich in Ruhe, verfluchte Scheiße“, antwortete ich zu meinem Erstaunen laut genug, sodass mich die ganze Klasse hören konnte und ich sah, wie sich mehrere Gesichter nach mir umdrehten. Normalerweise wäre mir solch eine Situation verdammt unangenehm gewesen und ich hätte mich in Grund und Boden geschämt, doch diesmal hatte ich einfach genug und sprach ungehemmt weiter. „Benimm dich doch nicht so, als müsstest du jede Minute hier absitzen wie ein Knastbruder, immerhin hast du diese Ausbildung gewählt und deine Eltern bezahlen dafür, da könntest du dich ruhig mal ein bisschen anstrengen. Außerdem, hör bitte endlich damit auf, davon auszugehen, dass alles genauso ist, wie du es siehst. Es könnte ja sein, dass es Leute gibt, die zur Schule gehen, weil sie etwas lernen wollen, also such dir bitte einen neuen Platz, damit du jemand anderem auf den Geist gehen kannst.“
Ich schwieg, denn irgendein Teil von mir schien begriffen zu haben, dass ich nun doch gesagt hatte, was ich schon so lange immer geschluckt hatte, es aber nicht klug wäre, weiterzumachen. Ich nahm einen tiefen Atemzug, schaute durch den Klassenraum und sah die verblüfften Blicke meiner Mitschüler und des Lehrers und auch wenn ich wusste, dass ich jetzt endgültig für den Rest meiner Schulzeit als Streber, als Nerd, gelten würde, so war ich mir doch sicher, dass es das wert gewesen war. Manchmal gab es sie, diese Momente in denen es gar nicht so schlecht war, auf die Höflichkeit zu verzichten und einfach mal die Klappe zu halten.