„Tessy ist echt ’ne Nette. Die hat ein Bett für dich frei.“
Ralfs Grinsen ist nicht nur wegen der fortgeschrittenen Stunde verzerrt. Er versucht, mein Freund zu sein. Weil er Glück gehabt hat … Schließlich nicke ich, weil mir nichts anderes übrig bleibt, und kippe den letzten Schluck hinunter.
„Schärfer als deine Ex“, meint Ralf zufrieden. „Billiger als ein Hotelzimmer.“ Er ist schon ziemlich dicht. „Kannst du dir sowieso nicht mehr leisten.“
Das stimmt. Genauso wenig wie den Absacker in meiner Stammkneipe.
„Ihr wollt zu Tessy?“ Das Gesicht meines für mich unbezahlbar gewordenen Lieblingswirtes Greg verschwimmt zu einem teigigen Fladen – typischer Fall von zu viel getrunken und zu wenig gegessen. Aber irgendwann muss ich mich ja um die Auswahl schwerer schottischer Whiskeys kümmern, die sich Greg vor Monaten für mich zugelegt hat. Es ist sowieso das letzte Mal, bevor er merkt, dass ich keinen müden Euro mehr besitze.
„Kennst du sie?“, nuschele ich.
„Du etwa nicht?“, gibt Greg erschöpft zurück.
Ich verzichte darauf, zu verneinen. Bei mir besteht kein gesteigerter Bedarf zu erfahren, was die Whiskeys dann mit meinem Gehirn anstellen.
Für Ralf ist das der dezente Hinweis zum Aufbruch. Er schenkt mir einen Blick, den er wohl für kameradschaftlich hält, knallt ein paar Scheine auf die Theke – „stimmt so!“ – und zieht mich mit. Kleine Demütigungen wie Nadelstiche unter ehemaligen Kollegen.
„Du musst sie kennenlernen. Das wird dir guttun, Freund!“
Ich bin nicht Ralfs Freund. Ich habe jedoch ein schlechtes Gewissen, weil er den ganzen versoffenen Abend finanziert hat, und sooo dicke hat Ralf es als Abteilungsleiter einer mittelständischen Firma auch nicht. Immerhin hat er noch Arbeit. Meine Arbeit.
Wir stolpern durch die feuchte Novembernacht. Ralf redet ununterbrochen auf mich ein; ich habe den Kopf zu voll mit allem, um zuzuhören: Vor einer Woche die Kündigung, weil aus den hellroten Zahlen dunkelrote geworden sind. Heute Morgen hat mir meine Freundin die gepackten Koffer vor die Wohnungstür gestellt, weil sie beschlossen hat, ab sofort einen Typ mit Namen Marius bei sich wohnen zu lassen. Und dann gab mein geliebter Corsa auf dem Weg zu Ralf seinen letzten Schnaufer von sich. Hoffentlich geht es dir bei den gelben Engeln besser, Kumpel!
Innerlich jaule ich „Auld Lang Syne“, während ich meinen geschundenen Körper über Bordsteine hieve. Endlich stehe ich mit Ralf, der als einziger noch etwas mit mir zu tun haben will, in einem schlecht beleuchteten Innenhof, der mal bessere Zeiten gesehen hat. Wir rumpeln gegen undefinierbare Gebilde aus Plastik, Stahl und Müllsäcken. Dazu kracht und klirrt der Sound aus Abfall und fragwürdiger Kunst; ich passe echt gut hierher. Zwischen Gedankenfetzen und Whiskeyschwaden erinnere ich mich düster, hier früher mal gewesen zu sein, weil, weil … „Egal“, murmele ich.
„Wasis?“ Ralf bleibt schnaufend stehen. Mein fehlendes inneres Gleichgewicht sorgt dafür, dass ich vergesse zu bremsen. Wir brauchen eine Weile, bis wir uns aufgerichtet haben und uns wieder halbwegs ins Gesicht sehen können.
„Egal“, wiederhole ich. „Ist doch sowieso alles egal …“
Ralf brummt und lässt mich los. Prompt verliere ich das Gleichgewicht, knalle erneut gegen ein Schrottteil, trudele und schlage ziemlich unsanft hin. Auf die Knie, Nase voraus.
„Verdammte Scheiße!“, brülle ich. „Gottverdammte Kackscheiße!“
Um uns herum erstrahlen die ersten Fenster.
„Halt die Fresse“, brummte Ralf. Er wirkt nach wie vor verunsichert. Weil er mich hat fallenlassen? Weil er auf meinem Arbeitsplatz sitzt und künftig meine Gehaltserhöhung bekommt? „Du musst doch gucken, wo du hin… “
„Scheiße“, sage ich wieder. Ich klinge weinerlich. „Die Hose ist hinüber!“ Umständlich komme ich auf die Beine. Dank der hellen Fenster im Erdgeschoß finde ich relativ rasch den Riss im Stoff. Darunter: meine aufgeschürften, blutigen Knie, als hätte ich sie nach einem Fußball-Match mit der Jugendmannschaft in die Gegenwart transferiert, wobei die Abschürfungen jetzt mein geringstes Problem sind!
„Das war das teure Teil von meinem Bewerbungsdress“, wimmere ich. „Ich hab kein Geld, um mir einen neuen …“
„Ruhe!“ zischt Ralf, „du weckst den ganzen Block auf!“ Seine Schuldgefühle, so er je welche gehabt hat, sind verraucht.
„Ja, und?“ Unwirsch wische ich einen Grashalm von dem, was mal meine gute Hose gewesen ist. „Kann ruhig jeder hören, dass ich ein Scheißleben habe!“
„Es will aber nicht jeder hören!“, schreit Ralf.
Noch mehr Fenster werden hell. Der nächste Anwohner ruft die Polizei, wenn wir so weitermachen.
„Mir egal.“ Trotz Wut geht mir allmählich die Puste aus. Ist eh alles Blödsinn, warum noch mehr Ärger riskieren? Dafür ist mir zum Heulen zumute, als …
„Was ist denn da unten los? Ralf, bist du das?“
Vorsichtig schiele ich hinauf. Der Whiskey dreht eine Extratour in meinem Hirn und ich habe nicht vor, wieder im Dreck landen. Vielleicht ist der Schaden an der Hose ja noch zu beheben.
Ralf fängt an zu glucksen. „Tessy! Ich hab dir jemanden mitgebracht!“, ruft er hinauf, erleichtert, mich bald los zu sein. „Hast du kurz Zeit?“
„Ich komme runter.“ Das, was wohl Tessys Stimme ist, wird vom Schließen eines Holzrahmens begleitet. Holz statt doppelt verglaster Thermopenfenster, denke ich, das kann eine zugige Nacht werden. Doch ein Bett ist ein Bett …
„Siehst du, fast alles in Butter.“ Unsicher klopft Ralf mir auf die Schulter und reißt mich fast um, weil er sich dummerweise an mir festhält. „Gleich hast du ein Bett für die Nacht, wart’s ab.“
„Keine Ahnung, ob ich es noch will.“ Ich stelle mir die Leute hinter den Fenstern vor, die wir aus dem Schlaf gerissen oder vom Fernseher weggeholt haben. Einigen von denen werde ich morgen zwangsläufig begegnen. Und weitere strafende, mitleidige, neugierige Augen, was ein Penner wie ich in ihrem renovierten Altbaublock zu suchen hat, ertrage ich bestimmt auch morgen nicht!
Schritte hallen durch den Innenhof. „Ralf? Wo seid ihr?“ Eine Gestalt schält sich aus der Dunkelheit und stöckelt auf uns zu. Mein erster Gedanke: schwarze Dauerwelle. Von einem pinken Haarband zusammengehalten. Quasi eine Negerkrause mit Warnblinkanlage. Brauche ich das wirklich? Die ganze Frau erscheint mir seltsam. Ein Hotelzimmer kostet fünfzig Öcken Minimum, wispert der Buchhalter in mir. Nimm das Bett! Du kannst gleich morgen früh verschwinden! Und verschwende keinen Gedanken an die Frau!
Ralfs Augen glitzerten, als müsse er sich das Kichern verkneifen. „Tessy!“ Mit ausgebreiteten Armen geht er ihr entgegen, sie taucht im letzten Moment geschickt unter ihnen weg und steuert direkt auf mich zu.
„Hallo, ihr Schlingel. Was hast du mir denn da Schönes mitgebracht?“
Tessys Lächeln lässt den Whiskey mit einem Schlag verdampfen. Plötzlich stocknüchtern, greife ich nach ihrer Hand, die sich in meiner schwitzigen Rechten eckig und etwas klebrig anfühlt. Automatisch ziehe ich sie zurück und wische sie an meiner ramponierten Hose ab.
„Hi“, flüstert Tessy rau. Mir wird heiß. Ihre dunkle Stimme gefällt mir. „Tut mir leid wegen dem Mehl.“ Sie deutet auf meine Hand. „Ich backe Käsekuchen fürs Büro. Für morgen.“
Büro? Sie trägt ihre Dauerwelle also in die Arbeit! Ich habe weder Frisur noch Einkommen. Na toll.
„H-Hi“, stottere ich hollywoodreif. „Ich bin Simon. R-Ralf meint, du …“
„Das ist der Typ aus meiner Firma, der arbeitslos geworden ist“, unterbricht Ralf mich schrecklich sachlich. „Kann er für ein paar Nächte bei dir unterkommen?“
Bist du mein Babysitter, Ralf? Dafür hasse ich dich.
Tessy tritt einen Schritt zurück und mustert mich. „Ist er stubenrein?“, fragt sie neckisch.
Hastig brumme ich zustimmend. Ich, der totale Loser. Der um einen Platz betteln geht. Verdammt, ich brauche dieses Bett, damit ich wieder ein Mensch bin!
Um uns herum erhellen sich mehr und mehr Fenster und ich, der eher schüchterne Typ, heute ganz mutig mit Restalkohol im Blut, stiere diese Superdauerwelle an, als wäre sie die Lösung für meine Probleme …
Tessy schaut mich wohlwollend an. Bis sie meine Knie sieht. Ihre Freundlichkeit fällt in sich zusammen, wie es der Käsekuchen in ihrem Backofen bei meinem Auftauchen ebenfalls tun wird.
„Simon?“ In ihrer Stimme klingelt es zornig. „Etwa Simon Knobloch?“
„Äh … ja“, sage ich vorsichtig und mache mich ganz klein.
„Du bist der Typ, der mich mit Heiko und Bully nach der Schule immer durch den Park gejagt hat.“ Alles Feminine ist mit einem Schlag aus ihrer Stimme verschwunden. Das Timbre schwingt wie ein Vorschlaghammer gegen meine Schläfen, und dann begriff ich es endlich: Ralf hat mich zu Tessy alias Timo Reuter, den Loser aus der letzten Reihe, geschleppt. Verdammte Kacke!
Brüsk wendet Tessy-Timo sich von mir ab. „Deinen dreckigen Kumpel kannste mitnehmen“, sagt sie zu Ralf. „Der und seine Kumpanen haben uns mal einen Feuerwerkskörper in den Briefkasten geworfen. Weil ich für sie schwul war. Der Böller hat die halbe Briefkastenanlage zerfetzt.“
Mir wird schwindelig. Wegen der Briefkästen haben wir Sozialarbeit leisten müssen. Und ich würde vor Scham am liebsten im Boden versinken.
„Du stehst auf Männer, oder?“, platze ich heraus. Als ob die Sache nicht schon peinlich genug wäre!
Tessy schaut mich ein letztes Mal vernichtend an, dann dreht sie sich um und geht davon. „Ich leide unter chronischer Arschloch-Intoleranz. Unten am Bahndamm nehmen sie Verlierer wie dich, wenn du dir die Stundenpreise leisten kannst!“
„Mensch, Tessy!“ Händeringend hält Ralf sie auf, bevor sie im Haus verschwindet. Ich verstehe nicht ganz, mit welchen Worten er sie beschwört, ein Auge zuzudrücken und mich „armen Tropf“ von der Straße zu holen. Doch Tessy-Timo schüttelt die Dauerwelle – und geht.
„Echt super“, lallt Ralf. Scheppernd tritt er gegen einen Mülleimer. „Und was mach ich jetzt mit dir?“
„Hast du vielleicht einen Platz bei dir frei?“, wage ich einen letzten Vorstoß.
Stumm starrt Ralf mich eine Weile an, bis er mich zu sich winkt. Ich tappe auf ihn zu, in Gedanken bereits in seinem gemütlichen Firmenwagen auf dem Weg in eine geheizte Wohnung.
„Meine Schwägerin könnt ich noch fragen“, brumme er. „Und wenn die keinen Platz hat …“ Er zuckt mit den Schultern.
„Hotel?“, frage ich erschlagen.
Er reagiert nicht mal.
Ein Gedanke zu „Gaststory | Lonely Heart Hotel“