Interview | Maria Braig

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Heute wollen wir euch im legendären Clue Writing Interview Maria Braig vorstellen. In ihrem Roman „Amra und Amir“ erzählt sie die Geschichte einer Tochter albanischer Flüchtlinge, welche in Deutschland aufwächst und sich selbst nicht als Migrantin erlebt. Da sie jedoch keinen deutschen Pass hat, droht ihr die Abschiebung. Trotz aller Bemühungen ihres Umfelds muss Amra Deutschland verlassen und landet mit nur hundertdreissig Euro im Kosovo, wo sie bei dem Bruder ihrer Mutter unterkommt. Als dieser jedoch plant, sie gegen ihren Willen zu verheiraten, flüchtet Amra, nimmt als Amir eine männliche Identität an und schlägt sich als Strassenjunge in Pristina durch.

Maria Braig, studierte Germanistin und Kulturwissenschaftlerin mit Lektorats-Erfahrung, arbeitet bis heute als LKW-Fahrerin. Zudem ist sie Texterin und freie Autorin, hat eine anschauliche Zahl an unterschiedlichen Projekten vorzuweisen und betreibt zudem einen eigenen Blog. Von ihr sind insgesamt drei Bücher mit Migrations- und Queer-Themen erschienen.

Liebe Maria,
in unserer Einstiegsfrage wollen wir uns auf einen Aspekt deiner Geschichte konzentrieren, der erst auf den zweiten Blick auffällt, nämlich wie unterschiedlich das Leben an verschiedenen Orten in Deutschland sein kann. Was bevorzugst du, Grossstadt oder Provinznest?

Autorin_Maria_BraigGlücklicherweise gibt es ja nie nur ein entweder oder. Es gibt sowohl als auch und vor allem noch was zwischendrin.
Geboren bin ich in einer Kleinstadt im Allgäu, dort habe ich meine ersten 19 Jahre erlebt. Später habe ich in München und Tübingen studiert, einige Jahre auf der Schwäbischen Alb in einem richtigen Nest mit ca. 700 Einwohner*innen gelebt und nun bin ich in Osnabrück angekommen. Ich muss sagen, die Größenordnung Osnabrücks liegt mir am besten. Wirkliche Großstädte wie München oder Berlin sind mir auf Dauer zu groß, aber zwischendurch ganz schön – jedenfalls habe ich das bisher so erlebt. Das Dorfleben war für einige Jahre eine gute Wahl. Mit Pferden und Hund in der Natur und doch in 20 Minuten in Tübingen. Auch nicht schlecht, aber jetzt genieße ich das Leben am Stadtrand und doch in geringer Fahrradnähe zur Stadtmitte. Vor dem Haus der Stadtbus und dahinter der Blick ins Grüne, wo jetzt eben großer Betrieb bei der (noch) winterlichen Vogelfütterung herrscht.

Du arbeitest schon seit langem hauptberuflich als LKW-Fahrerin und man gewinnt den Eindruck, dass du deinen Job wirklich magst. Aber wie verschlägt es eine Akademikerin in diese Branche?

Das ist der ganz normale Weg, den viele Akademiker*innen genommen haben. Ich gehöre einem der geburtenstarken Jahrgänge an mit der Folge einer hohen Akademikerarbeitslosigkeit. Und da mir Arbeitslosigkeit nun mal auf Dauer zu wenig Einkünfte brachte, musste ich neue Wege erschließen. Während meines Studiums gab es den „tröstlichen“ Spruch: ‚Straßenkehrer können wir ja immer noch werden.’ Das waren damals die orangenen Menschen mit dem Hexenbesen. Dass es diesen Beruf einige Jahre später nicht mehr geben würde, war mir damals nicht bewusst. Allerdings ist der LKW auch die bessere Lösung.
Schon während des Studiums und noch einige Jahre im Anschluss habe ich zunächst berufsnahe in einem kleinen Verlag gearbeitet. Als Lektorin und Herstellerin, noch mit Druckerfahnen und viel Tippex. Aber damals wie heute hatten es Kleinverlage nicht leicht (ich möchte meinen, damals war es noch schwerer, da nicht wie heute Bücher in Kleinstmengen nach Bedarf gedruckt werden konnten) und so ging ich dann eben mit dem Verlag gemeinsam unter. Örtlich fühlte ich mich gebunden, große Verlage gab es nur in einigen Großstädten und so suchte ich neue Wege. Selbständigkeit, Jobben im Bioladen und in der Schokoladenfabrik und irgendwann landete ich auf der Straße. Dort fing ich mir den Kutschervirus ein und wer den erstmal hat, kommt nicht mehr los.

Nichtsdestotrotz hat das Schreiben in deinem Leben einen wichtigen Platz, sei in Form der von dir verfassten Bücher und herausgegebener Anthologie oder bei deiner Tätigkeit als Lektorin. Würdest du sagen, dass sich das geschriebene Wort als roter Faden durch dein Leben zieht?

So würde ich das nicht sagen. Ich habe zwar immer schon hin und wieder mal Gebrauchstexte verfasst für Flyer oder Broschüren, aber das war im Großen Ganzen doch eher selten.
Wirklich begonnen habe ich mit dem Schreiben erst vor wenigen Jahren. Man konnte plötzlich über Internetbörsen Werbetexte verkaufen und das wollte ich mal ausprobieren. Spannende Texte über Reisen durch Australien und alle möglichen Länder dieser Erde, weniger spannende über Pflanzen und entsetzlich langweilige über Kosmetika und Lattenroste. Gleichzeitig erkannte ich die Chance, die das Internet bot, wieder ins Lektorat einzusteigen. Als freie Lektorin für diesen und jenen Verlag, für Autor*innen und wenn es sein musste auch mal für Bachelorarbeiten u.ä. fand ich zum Verlag 3.0 und nutzte die Chance schamlos aus, um auch selbst zu veröffentlichen.

Von dir sind im Verlag 3.0 bereits drei Bücher erschienen. Nebst „Amra und Amir“, auf das wir gleich mehr eingehen werden auch „Nennen wir sie Eugenie“ und die Anthologie „Jetzt bin ich hier“. Sie alle behandeln die Thematik von Flucht vor Krieg oder Repression sowie Heimatlosigkeit. Wie kam es dazu, dass du dich gerade mit diesen Themen befasst?

Frontcover_Amra_und_AmirIch bin seit den 80er Jahren mal mehr mal weniger intensiv in der Flüchtlingsarbeit engagiert. Daher rührt meine Nähe zum Thema. Wie die Idee zur Anthologie, die mein erstes Buch wurde, entstanden ist, kann ich gar nicht genau sagen. Plötzlich war sie da und als der Verlag 3.0 mir sofort grünes Licht gab, begann ich Texte zu sammeln.
„Nennen wir sie Eugenie“ ist eigentlich zufällig entstanden. Ich wollte weg von den Werbetexten und hin zu bezahlten Artikeln in Zeitschriften, was leider nicht geklappt hat. Aber ich hatte einen ersten Auftrag für ein Lesbenmagazin bekommen, über „Lesbische Flüchtlinge im deutschsprachigen Raum“ zu schreiben. Schon nach kurzer Zeit schmiss ich den Auftrag hin, weil sich die Chefredaktion in meine Recherchearbeit einmischte. Der Artikel entstand dann trotzdem und wurde in der Graswurzelrevolution veröffentlich. Im Zuge der Recherche war mir Eugenies Geschichte untergekommen und sie hatte mich mehr gepackt, als es in einem kurzen Artikel zu verarbeiten war. So entstand dann mein erster Roman.

In „Amra und Amir“ wird die junge Amra, die als Tochter einer vor dem Balkankrieg geflüchteten Mutter in Deutschland aufgewachsen ist, aufgrund widriger Umstände in den Kosovo ausgeschafft und muss sich in dieser ihr fremden Welt zurechtfinden. Wie bist du bei deinen Recherchen zur albanischen Kultur vorgegangen?

Ziemlich unprofessionell vermutlich. Ich habe ein grundsätzliches Problem nicht nur, aber auch beim Schreiben: Ich kenne das Wort ‚Geduld’ nicht. Eigentlich würde ich gerne ein Buch in zwei Tagen schreiben und am dritten soll es im Buchhandel sein. Da habe ich viel gelernt und mich in den letzten Jahren sehr im Geduld haben geübt. Zwei Jahre brauche ich zumindest für ein Buch. Aber das beeinflusst auch die Recherche, fürchte ich. Das Internet und persönliche Kontakte müssen ausreichen.
Ich habe viele Berichte von Abgeschobenen gelesen, darüber wie es ihnen nun geht, welche Möglichkeiten sich ihnen bieten. Viele dieser Geschichten spielten im Kosovo. Daher der Bezug zu Albanien. Der nächste Schritt war, über Albanien zu lesen, wobei das bei mir eher umgekehrt funktioniert: Ich schreibe etwas und kläre dann ab, ob es auch wirklich so ist und bearbeite dann entsprechend.

In „Amra und Amir“ schreibst du Kapitel aus verschiedenen Perspektiven und wechselst zwischen erster und dritter Person. Welche Vorteile bietet eine solche, doch eher unübliche, Erzählweise?

Ist das unüblich? Ich kenne das aus verschiedenen Büchern. So wirklich bewusst ist auch diese Entscheidung nicht gefallen. Die verschiedenen Protagonistinnen wollten wohl einfach mitreden. Praktisch ermöglicht der Perspektivwechsel aber natürlich auch, die Problematik durch unterschiedliche Blickwinkel besser zu beleuchten. Denn nichts ist ja nur einseitig zu betrachten und vieles erkennt die betroffene Person selbst zunächst gar nicht, was Außenstehenden ins Auge fällt.

Im Nachwort zu „Amra und Amir“ verweist du darauf, dass die Geschichte auf Elementen mehrerer wahrer Geschehnisse basiert. Sind Fälle, in welchen in Deutschland aufgewachsene Teenager, welche mit der Herkunftskultur ihrer Eltern kaum vertraut sind, ausgeschafft werden, häufig?

Leider in letzter Zeit wieder vermehrt. Seit die Balkanländer zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt wurden, gibt es häufig Abschiebungen von Familien (vor allem Roma), die schon über 20 Jahre hier leben. Und in dieser Zeit sind natürlich auch Kinder geboren worden, die nur Deutschland kennen und die hier zu Hause sind.
Bis 2011 waren Geschichten wie die von Amra an der Tagesordnung. Minderjährige hatten ein Aufenthaltsrecht, das gebunden war an das der Eltern. Diese hatten vielleicht als politisch Verfolgte Asyl erhalten oder durften aus medizinischen Gründen bleiben. Das betraf ja aber die Kinder nicht. Sobald diese 18 Jahre alt waren, mussten sie ein eigenes Asylverfahren beantragen mit kaum Aussicht auf Erfolg, da sie ja weder krank/traumatisiert waren, noch politische Verfolgung in einem Land nachweisen konnten, in dem sie nie gewesen waren. Viele wurden deshalb abgeschoben.
2011 gab es hier eine Verbesserung der Gesetzeslage, die sogar Anfang 2015 noch einmal nachgebessert wurde: Jugendliche und junge Erwachsene, die in Deutschland mindestens vier Jahre gelebt haben und bestimmte Voraussetzungen erfüllen, dürfen bleiben. Seit Beginn 2016 scheint das nicht mehr zu gelten, jedenfalls werden wieder häufig junge Menschen mit ihren Familien in die Balkanstaaten abgeschoben. Wie das rechtlich begründet wird, habe ich bisher noch nicht herausgefunden.

Amras Freunde, allen voran Nina und Stefan, setzen sich gemeinsam mit ihrem Lehrmeister für sie gegen ihre Abschiebung ein und suchen rechtlichen Beistand, jedoch ohne Erfolg. Obwohl für die zuständigen Stellen klar ersichtlich sein muss, dass Amra gut integriert ist, wird sie ausgeschafft. Ist dies gängige Praxis oder ein Ausnahmefall?

Leider finden sich diese Fälle immer wieder. Seit 2011 nicht mehr so häufig, aber es ist leider auch nicht ausgeschlossen. Oft liest und hört man auch von rechtswidrigen Abschiebungen, die dann im Nachhinein wieder aufgehoben werden. Das kann aber auch schon mal sieben oder acht Jahre dauern und bis dahin verbleiben die Betroffenen eben im Abschiebeland.

An einer Stelle kam ich bei der Lektüre ins Stocken: Amra wird von den Polizeibeamten zur Abschiebung abgeholt, als die ihr von den Behörden kommunizierte Ausreisefrist noch gar nicht verstrichen ist. Ist ein solches Vorgehen legal oder handelt es sich dabei um eine erzählerische Entscheidung deinerseits?

Dass es legal ist, würde ich persönlich bezweifeln. Aber da es häufig vorkommt, scheint es doch juristisch haltbar zu sein.
Leider geschieht das sehr häufig. Vermutlich um sicherzugehen, dass die Menschen auch zu Hause sind und sich nicht woanders aufhalten, um sich der Abschiebung zu entziehen. Das führt dann zu solchen Aufrufen auf Facebook, wie sie in letzter Zeit vermehrt zu finden sind:

„WACH BLEINEN!!! Sammelabschiebung.10.02.2015
Wie wir soeben erfahren haben, soll es morgen im Laufe des Tages zu einer Charterabschiebung vom Flughafen Hannover-Langenhagen kommen. Somit wäre heute Nacht mit Festnahmen in ganz Niedersachsen zu rechnen. Die Abschiebung soll vermutlich in einen der Balkan-Staaten erfolgen, was darauf Hindeuten kann, dass hauptsächlich Roma betroffen sein werden.
Genauere Informationen sind nicht bekannt.“

Ein weiterer wichtiger Aspekt deiner Geschichte ist Freundschaft – Die Unterstützung, welche Amra/Amir von ihrem/seinem Umfeld erfährt ist gross. Ohne hier allzu viel zu verraten, kann gesagt werden, dass die Freunde auch bereit sind, für Amir grosse Risiken einzugehen. Ist eine solche Loyalität unter Freunden typisch für die Berichte zu dem Thema, welche du kennst?

Typisch vielleicht nicht gerade. Diese Geschichte habe ich frei erfunden. Aber ich glaube doch, sie könnte so geschehen sein und mit einiger Wahrscheinlichkeit, gibt es auch solche Beispiele, von denen man naturgemäß nichts erfährt. Ich habe mir einfach die Frage gestellt: Was gibt es für Möglichkeiten, was würde ich machen, wenn meine Freundin plötzlich in einer Situation wie Amra wäre. Ich denke doch, dass enge Freundschaften auch Risikobereitschaft beinhalten.

Da es Amra nicht möglich ist, als Frau in der ihr fremden Kultur alleine klarzukommen, ohne verheiratet zu werden, entscheidet sie sich dazu, künftig als Amir aufzutreten und eine männliche Rolle anzunehmen. Der junge Mann schlägt sich im Kosovo mehr schlecht als recht als Strassenjunge durch. Ist Obdachlosigkeit ein gängiges Problem unter aus Deutschland ausgeschafften Menschen?

Es scheint leider sehr häufig vorzukommen. Die deutschen Behörden schieben die Verantwortung den Ländern zu, in die abgeschoben wird, die kümmern sich aber nicht darum. „Es ist Aufgabe des jeweiligen Staates für die Unterbringung seiner Landsleute zu sorgen“ (Sprecher der Ausländerbehörde)
Manche haben noch Familie, wo sie wenigstens zeitweise unterkommen können. Andere werden von Freunden in Deutschland unterstützt, die dafür Geld sammeln, dass sie sich eine notdürftige Behausung leisten können. Aber wer diese Hilfen nicht hat, dem bleibt nichts als die Straße.

Amir wird in seiner neuen Identität mit Problemen konfrontiert, die vor allem von den Lebensgeschichten transsexueller Menschen bekannt sind, beispielsweise den Bemühungen um ein gutes Passing, also in der neuen Rolle nicht aufzufallen. Wie werden abweichende Geschlechtsidentitäten in einer Kultur wie der albanischen behandelt?

Transsexuelle, Lesben und Schwule erleben im Kosovo große Diskriminierung. Die Verfassung ist zwar relativ fortschrittlich, aber in der Bevölkerung gibt es nach wie vor eine große Ablehnung.
Aber es gibt in Bezug auf Geschlechtsidentität eine Besonderheit in Albanien: Die sogenannten Schwurjungfrauen, die Burreshnas. Frauen können auf Lebenszeit wie Männer leben und werden auch als solche akzeptiert, wenn sie sich zu lebenslänglicher Jungfräulichkeit verpflichten (ob das auch Sexualität unter Frauen betrifft konnte ich nicht herausfinden). Es gibt Mädchen, die das irgendwann selbst entscheiden, es gibt aber auch Eltern ohne Söhne, die beschließen, eine Tochter zur Burreshna zu machen. Die Burreshna ersetzt beim Tod des Vaters das Familienoberhaupt, trägt Männerkleidung, verrichtet Männerarbeit und wird als Mann respektiert. Dies entspringt einer mittlelalterlichen Gesetzgebung und geschieht heute nur noch in seltenen Fällen.

Doch Amir ist nicht ein Transmann im klassischen Sinn, genauso wenig wie Amra einfach lesbisch war. Manche Identitäten sind komplexer, beinhalten mehr Aspekte und lassen sich nicht derart schwarz-weiss als stereotyp männlich oder weiblich zuordnen. Wie würdest du Amir bezeichnen?

Eine bestimmte Bezeichnung fällt mir dafür nicht ein. Ich glaube auch nicht, dass man wirklich jede „Abweichung“ vom Üblichen in eine neue Form pressen muss und kann.
Ich lasse Amir einfach selbst sprechen:
„Ich heiße jetzt Amal. „Amal heißt auf Arabisch Hoffnung oder Sehnsucht. Das passt. Und es ist ein Name für Männer und Frauen. Ich bin Amal. Ich bin einfach nur ich und die anderen sollen mich eben selbst einordnen, wenn sie das unbedingt brauchen.“

Amir ist in einer unmöglichen Lage, weit weg von zu Hause und muss sich in einem fremden Land durchschlagen, wird von den Deutschen Behörden als Kosovo-Albanerin und von den Menschen in Pristina als Deutscher gesehen. Sein Rollenwechsel hatte jedoch, zumindest zu Beginn, in erster Linie pragmatische Gründe. Würdest du sagen, dass sein tolerantes Umfeld hier eine wichtige Rolle dabei spielte, dass er schliesslich seine Identität leben kann?

Ich glaube nicht, dass es in erster Linie am Umfeld liegt, wie ein Mensch seine Identität lebt (außer natürlich in solchen Ausnahmesituationen, in denen Geschlechterrollen zum eigenen Schutz dienen, wie es Amra erlebt, oder in Ländern, in denen jede Abweichung bestraft wird). Eher am Selbstwertgefühl und an der eigenen Stärke. Aber Amir lebt einfach, er macht sich keine Gedanken darum, wie er von wem zugeordnet wird – er hat ganz andere Sorgen. Er hat letztendlich kein Umfeld, er hat nur seine engsten Freunde. Und er hat natürlich den Vorteil, auch wenn man das nicht wirklich als Vorteil bezeichnen kann, dass er im luftleeren Raum lebt. Er ist illegal, muss sich nach nichts und niemandem richten, nur sehen, wie er überlebt.

Bereits Amra hatte starke Gefühle für ihre langjährige Freundin Nina, hat sich jedoch die meiste Zeit über verhältnismässig wenige Gedanken zu Homosexualität gemacht. Erst als Amir entspannt sich eine Beziehung zwischen den beiden, trotz aller Widrigkeiten und der Distanz. Trotzdem schaffst du es, dass nicht der Eindruck entsteht, dass Amirs neue Identität hierzu nötig gewesen wäre. Würdest du sagen, dass Begrifflichkeiten wie beispielsweise „Homo-“, „Bi-“ oder „Heterosexualität“ nicht mehr ausreichend sind?

Die Beziehung zwischen den beiden hätte sich ja auch in Deutschland entwickeln können, wäre Amra nicht abgeschoben worden. Sie waren gerade an dem Punkt der „Erkenntnis“ angekommen, oder jedenfalls fast, als Amra in den Kosovo verbannt wird.
Ich denke grundsätzlich sind diese Begrifflichkeiten für manche Menschen wichtig, für andere nicht. Vor allem zu Beginn der eigenen Erkenntnis, so habe ich das jedenfalls erlebt, hängt man sich gerne an den Begrifflichkeiten auf. Und solange Heterosexualität die gesellschaftliche Norm ist, brauchen wir sie vermutlich auch noch.
Grundsätzlich ist es aber natürlich wünschenswert und das muss m. E. auch unser Ziel sein, endlich davon abweichen zu können. Und zwar nicht in erster Linie von den Begrifflichkeiten Homo-, Bi- und Heterosexualität, sondern vor allem von der zwanghaften binären Geschlechterdefinition, die diese Begriffe überhaupt erst bedingt.

Die Verbindung von Queer- sowie Migrationsthemen beschäftigt dich auch in „Nennen wir sie Eugenie“, wo eine lesbische Frau aus dem Senegal, wo Homosexualität unter Strafe steht, nach Deutschland flüchtet. Bist du der Ansicht, dass die Verfolgung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität in der Öffentlichkeit und den Medien zu selten thematisiert wird?

nennen wir sie eugenie Cover VLB 2015Auf jeden Fall. Das zeigt auch die derzeitige Entwicklung um die „sicheren Herkunftsländer“. In fast all diesen Ländern besteht eine starke Diskriminierung gegenüber sexuellen Minderheiten und das wird noch nicht einmal in die Überlegungen mit einbezogen.
Wir haben ein paar Fortschritte gemacht, was das Asylrecht in Bezug auf Homosexualität als Asylgrund angeht. Es muss z.B. nicht mehr per Gutachten eine Unmöglichkeit der Umkehrbarkeit der sexuellen Orientierung nachgewiesen werden, wie das noch vor kurzer Zeit der Fall war. Aber immer noch gibt es Richter, die meinen, man könne doch im Herkunftsland einfach insgeheim seine sexuelle Orientierung leben. Es zählt auch nicht Diskriminierung per se, sondern Haft- und Todesstrafe muss schon gegeben sein.
Der dritte Punkt ist die Problematik in den Flüchtlingsunterkünften. Auch hier sind die Betroffenen wieder Übergriffen und Diskriminierung ausgesetzt. Und zwar nicht nur von anderen Geflüchteten, sondern auch vom Personal und von Ehrenamtlichen. Wir benötigen dringend ein Schutzkonzept für LGBTI-Flüchtlinge und dafür ist die öffentliche Thematisierung eine Grundvoraussetzung.

Viele Menschen, welche aufgrund einer Notlage nach Deutschland flüchten, können sich im Gegensatz zu Auswanderern nicht entsprechend vorbereiten und müssen die Deutsche Sprache von Grund auf nach ihrer Ankunft erlernen. War es deswegen schwerer, Schreibende zu finden, welche sich an der Anthologie „Jetzt bin ich hier“ beteiligen wollten?

jetzt bin ich hier_cover_102014Die Sprache ist hier natürlich ein Problem, obwohl natürlich auch eine Übersetzung möglich gewesen wäre. Die Texte stammen aber fast alle von Menschen, die schön länger in Deutschland leben. Geflüchtete gibt es ja nicht erst sein ein paar Jahren. Lediglich die Texte aus einer Schreibwerkstatt sind von jungen Menschen, die noch nicht so lange hier sind.

Liebe Maria, wir langen langsam aber sicher am Ende an, haben aber noch Platz für eine letzte Frage: Wann können deine Leser mit deinem nächsten Werk rechnen und magst du schon etwas zum Thema verraten?

Das nächste Buch ist schon fast fertig. Nachdem ich den Grafiker lange genervt habe, weil ich mal mit dem und mal mit jenem nicht zufrieden war, hat er jetzt ein wunderschönes Cover erstellt. Der Lektor arbeitet am letzten Schliff und ich hoffe, wir können im März oder spätestens im April ein greifbares Ergebnis in Händen halten.
„Spanische Dörfer – Wege zur Freiheit“, heißt mein dritter Roman, in dem es wieder um Flucht und Transsexualität geht, in dem aber noch ein drittes Thema dazukommt: Das Down-Syndrom und unsere falschen Vorstellungen über die Betroffenen.

Drei junge Menschen mit dem gleichen Ziel: Freiheit und Akzeptanz. Manso ist aus unerträglichen Verhältnissen nach Europa geflohen. Der Spanier Enrique, der als Henriqua geboren wurde, lebt in München, weil er in seiner Heimat keine Arbeit findet. Sein Freund Leon hat das Down-Syndrom und möchte Lehrer werden. Gemeinsam suchen sie einen Weg, wie Manso der Abschiebung entkommen kann und sie alle ohne Diskriminierung leben können. Leon hat schließlich eine verrückte Idee …

Wir von Clue Writing möchten Maria unseren Dank aussprechen, dass sie sich die Zeit genommen hat, unsere Fragen zu beantworten. „Amra und Amir“ ist eine Erzählung, welche eine Kombination mehrerer aktueller Themen aufgreift und diese anhand einer Lebensgeschichte behandelt. Maria entführt ihre Charaktere in schwere Situationen voller Machtlosigkeit, jedoch auch Hoffnung und lässt ihre Leser mit Amra/Amir mitfiebern. Marias Engagement für „ihre“ Themen wird aus dem Text klar ersichtlich und sie spricht in einem Nachwort die Leserschaft konkret auf die aktuelle Lage an.
Wir wünschen Maria weiterhin erfolgreiches Schreiben und freuen uns auf ihre nächste Publikation.

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Vielen lieben Dank an Maria und an unsere werten Leser
Eure Clue Writer
Rahel und Sarah

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Dieses Interview wurde von Sarah geführt.

Ein Gedanke zu „Interview | Maria Braig“

  1. “Nennen wir sie Eugenie” gibt es jetzt in einer neuen erweiterten Auflage im MAIN-Verlag.
    Notwendig geworden ist diese Überarbeitung durch die Veränderungen im Asylverfahren seit dem Erscheinen der 1. Auflage. Der Infoteil wurde aktualisiert und ist auch wesentlich ausführlicher geworden. Dahzugekommen ist ein umfangreicher Infoteil zum Thema “Queer Refugees”, da sich auf diesem Gebiet in den letzten Jahren sehr viel entwickelt hat.

    http://main-verlag.de/buecher/lesbian/nennen-wir-sie-eugenie/

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