Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Sie hatten ihm gesagt, dass er das ständige Summen nach einigen Tagen nicht mehr wahrnehmen würde. Das war eine Lüge gewesen, denn selbst wenn er sich in seinem Modul schlafen legte, inklusive Wollsocken und schallunterdrückenden Kopfhörern, dröhnte das mechanische Surren in seinem Kopf fröhlich weiter. Aber man konnte sich ja mit beinahe allem abfinden, zumal die Aussicht einem für beinahe jede Unannehmlichkeit entschädigte, aber eben nur beinahe. Doch dazu kommen wir später.
Karen und Tim hatten ihr tägliches Trainingsprogramm bereits hinter sich gebracht und schienen eine kurze Pause zu genießen, bevor es wieder zur Sache ging und sie ihre mit Klettverschluss befestigten Experimentutensilien von der Wand klaubten. Er grüßte sie im Vorbeischweben mit einem freundlichen Nicken und einem etwas weniger freundlichen, doch von Herzen kommenden Gähnen, bevor er sich am Handlauf weiterzog. „Hey“, rief ihm Karen hell hinterher und grinste ihn breit an. Ihre halblangen, blonden Haare folgten ihren Bewegungen scheinbar zeitverzögert und erinnerten ihn an diese kitschigen Troll-Figuren, mit denen seine Schwester als Kind immer gespielt hatte. Eines Tages, dachte er sich diebisch, würde er irgendetwas klebrig-filziges darin verstecken, nur um sie zu ärgern und sich dafür zu rächen, dass sie ihm ständig seine Kartoffelchips aus der Luft wegfraß. „Sag bloß, du willst schon wieder kein Frühstück?“ Zur Antwort schüttelte er lediglich den Kopf und hastete rasch weiter, noch ehe die Mikrobiologin ihn wieder bemuttern konnte. Er mochte Karen, aber ihre Obsession mit gesundem Essen hatte hier oben, im Land der vakuumierten Tacos und abgepackten Erdnussbutter, wirklich etwas Absurdes.
Mike lief kopfüber, wenn es hier denn so etwas wie oben oder unten gäbe, und bemerkte ihn erst, als er begann sich auf das Laufband direkt daneben zu schnallen. Sie wechselten kurz einige Belanglosigkeiten, klärten die heutige Belegung des Melters und einigten sich danach wortlos darauf, in ihr Training in Ruhe zu absolvieren. Mike war nie ein sonderlich begeisterter Gesprächspartner gewesen und zog es meist vor, sich aus den sozialen Angelegenheiten der Weltraumwohngemeinschaft rauszuhalten. Bis heute wusste niemand so genau, wie er hier gelandet war. Natürlich gab es eine offizielle Version, doch es gab so einige Gerüchte, dass der stoische Mann in der Armee gedient hatte. Ihm war das allerdings egal, solange Mike kein Serienmörder war, der es auf Astronauten abgesehen hatte, war ihm dessen Schweigsamkeit nur recht.
Ohne die ersten Takte abzuwarten, klickte er sich durch die ersten Songs auf seiner Playliste. Zu Beginn hatte er nicht genug von „Rocket Man“ bekommen können, doch mit jedem Tag, den er hier in dieser stets surrenden und sich bewegenden Sardinendose verbracht hatte, verschwand seine Gier nach heroischen Astronauten-Songs ein wenig mehr. Seine Euphorie blieb jedoch ungeschmälert, nur hatte sie einen etwas anderen, weniger vorhersehbaren Soundtrack bekommen.
General Takeshi, wie ihn alle scherzhaft nannten, kam ihm aus einem der Waschräume entgegen und sah mit seinem Handtuchturban ein wenig wie eine alte Frau aus. „Guten Tag die Dame“, begrüßte er seinen Weltraumkameraden, bevor er ihm sachte auf die Schulter klopfte. Der Angesprochene sah ihn erst verwirrt an, adjustierte danach schmunzelnd sein Handtuch und erwiderte: „Wir können uns nach deiner Dusche ja zum Teekränzchen treffen.“ Takeshi war knapp vierzig Jahre alt und schien nie länger als drei Stunden am Stück zu schlafen, sah aber noch immer aus wie ein Lausebengel, so dass man irgendwie immer darauf wartete, dass er einem die Zunge rausstreckte. Ihre Unterhaltung fiel wie meistens eher kurz aus und beschränkte sich neben den üblichen Neckereien auf Organisatorisches. In einigen Tagen, wenn sein aktuelles Experiment in die kritische Phase kommen würde, würde er sich einige Messinstrumente von den Japanern ausleihen können, weil ihre eigenen doppelt besetzt waren. Der Ausblick war nicht das einzige hier oben, dass die Erinnerung an Grenzen verblassen ließ.
„Super, ich komme dann später zu euch rüber um den Rest zu klären. Haltet schon mal den Tee warm.“ Takeshi lachte laut auf und zwinkerte ihm zu, leider aber ohne die Zunge rauszustrecken. „Klar, du bringst den Kuchen.“
Es gab Momente, vor allem, wenn alle anderen gerade außer Sichtweite waren, da kam es ihm so vor, als würde er im Bauch eines seltsamen Metall-Gummi-Monsters hausen. Jede Bewegung löste weitere aus und hielt für das an Luftwiederstand gewöhnte Auge unnatürlich lange an, so dass sich ständig alles wand und krümmte. Schwenkarme schaukelten, Schläuche schlängelten, Bänder tanzten und Menschen flogen, so als gäbe es die Schwerkraft nur in seiner Phantasie. Mit einer sachten Geste stupste er an eine Greifstange und drehte sich mit angezogenen Beinen um die eigene Achse. Irgendetwas hatte gepiepst und er war sich nicht sicher, ob sich die dämliche Software wieder aufgehängt hatte, oder ob nur irgendwo jemand vor der Mikrowelle auf sein Käsesandwich wartete.
„Ach“, sagte er mehr zu sich selbst als zu Iwan, der bereits die Nase rümpfte, noch ehe der ekelhafte Geruch von Martins Essen zu ihnen gezogen war. Wären sie zuhause, auf dem blauglitzernden Ball, der da draußen so friedlich vor sich hindrehte, dann hätte er als erstes sämtliche Essensrationen in die Mülltonne geworfen, insbesondere Karens grässliche Frühstückwaffeln.
Einer der mit Sprühfarbe aufgemalten Pfeile zeigte in die falsche Richtung, oder? Er wirbelte einige Male hin und her und war heimlich noch immer ein wenig stolz darauf, dass er nur noch ein-, zweimal pro Tag das Gefühl hatte, sein Magen würde ihm durch die Speiseröhre aus dem Mund klettern wollen. „Ich glaube das Ding ist falsch“, stellte er noch immer verunsichert über seine zu Recht beeinträchtigte Orientierungsfähigkeit fest. Karen zog sich neugierig zu ihm rüber und suchte mit forschendem Blick die Laborwand vor ihm ab, so als würde sie ein Bilderrätsel lösen wollen. „Wo?“, fragte sie schließlich.
„Das da“, antwortete er und deutete auf eines der Fächer, hinter dem er einen kleinen Werkzeugkasten vermutete. Unbekümmert riss Karen am Griff und öffnete den vermeintlich falschrum eingebauten Schrank mit einem groben Ruck. Wenn sie wieder festen Boden unter den Füssen hatte, überlegte er sich amüsiert, würde sie sicher so einiges fallen lassen.
Die Klappe öffnete sich richtig und dahinter war tatsächlich ein kleines Plastikkästchen, auf dessen Mitte ein Sticker mit einem beinahe niedlichen Hammer klebte. „Hmmm.“ Karens Finger versuchten vergeblich ihr dichtes Haar nach hinten zu kämmen, als sie nachdenklich auf den roten Pfeil starrte. „Der Pfeil ist falsch rum“, erklärte sie das Offensichtliche, zuckte gleichgültig mit den Schultern und schwebte wieder zu ihrem Rechner.
Der Tag, oder wie auch immer man die Zeitspanne von vierundzwanzig Stunden nennen wollte, war bis auf die Pfeilverwirrung mehr oder weniger ereignislos vergangen. Wie abgemacht war er während einer Zwangspause, als er auf die Ergebnisse seiner Untersuchung warten musste, ins japanische Modul geglitten und hatte dort doch tatsächlich Tee bekommen. Die anderen hatten ihn später zu einem Kartenspiel eigeladen, doch er wollte die Gelegenheit nutzen und einige Zeit alleine in der Cupola verbringen. Der gläserne Dom, in welchen gerade mal zwei Astronauten passten und das auch nur, wenn sie sich genügend mochten, um sich auf so engem Raum nicht zu lynchen, war wohl für alle der schönste Platz in der ganzen ISS und deshalb nur selten leer. Heute jedoch hatte er Glück.
Aurora Borealis schillerte in Pastellfarben über der Antarktis und wenn er seine Augen zusammenkniff, so konnte er all die elektrischen Lichter für einige Minuten komplett ausblenden, so als wären sie die letzten Menschen über dem Planeten, den sie Heimat nannten. Die Psychologen hatten vor seinem Flug davon gesprochen, doch obwohl er ihnen jedes Wort geglaubt hatte, etwas, dass er bei Psychologen nur selten tat, hatte er sich nicht vorstellen können, wie sehr ihn diese Aussicht verändern würde. Hier oben, weit weg von Schwerkraft und dem, was er als Realität zu akzeptieren gelernt hatte, schien alles so unglaublich winzig und unendlich grandios zugleich. Er würde die Welt, und daran hatte er absolut keinen Zweifel, nie wieder als etwas Absolutes erleben, sondern als die grenzenlose Schönheit, die sie war.
Er war gerade erst eingeschlafen, als ihn ein ohrenbetäubender Alarm weckte. Die übliche Desorientierung, als er die Luke seines Schlafmoduls öffnete, verflog ungewöhnlich schnell und zu seinem Erstaunen dauerte es nicht lange, bis er das nervtötende Geräusch zuordnen konnte. Die Warnleuchte der Todesmaschine, so wie sie den Backupcomputer für die Belüftungssysteme nannten, blinkte nervös und schien mit irgendetwas ganz und gar nicht zufrieden zu sein. Panik schwellte in ihm auf, doch er kämpfte sie rasch zurück, stieß sich aus seinem Modul und machte sich eilig auf den Weg zum Rechner. Er wollte sofort nachsehen, was das Problem war und wie er es so schnell wie möglich beseitigen konnte, doch Karen kam ihm zuvor. Von weitem sah er, wie sie den Bildschirm beäugte und danach beinahe gelangweilt, ja, gelangweilt, auf der Tastatur herumtippte. Der Alarm verstummte sofort.
„Was ist passiert?“, wollte er wissen. Karen, deren gelassener Ausdruck nun langsam einer angepissten Grimasse wich, schob sich an ihm vorbei und murmelte: „Ich habe da eine Ahnung.“
„Martin!“ Er zuckte unwillkürlich zusammen, als sie laut losschrie und sah ihr verwundert hinterher. „Du eitler Bastard, wenn du schon wieder deine verfluchte Hornhaut neben dem Ventilator raffelst, bring ich dich um!“
Ihm war nicht ganz klar, ob er lachen oder sich unheimlich aufregen sollte, doch wer im Orbit herumgondelt muss irgendwann akzeptieren, dass auch die lächerlichsten Alltagsprobleme alles andere als alltägliche Konsequenzen haben können. Doch wie schon gesagt, die Aussicht entschädigt einem sogar dafür, dass man von einer Pediküre aus dem Schlaf gerissen wird, nur für den scheußlichen Kaffee reicht sie nicht ganz aus.