Dies ist der 2. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Vier Jahre“.
Kathrin starrt nachdenklich auf ihre wie immer perfekt mit dunkelrotem Nagellack manikürten Finger. Offenbar hat sie einen jener Momente, in denen sie das Geschehen um sich herum ausblenden kann. Ich frage mich, ob ich in der Stimmung, in der sie sein muss, noch etwas so unwichtiges zustande brächte wie die Nägel zu lackieren (nicht, dass ich mir die Nägel lackiere, versteht sich). Ich folge ihrem Blick, vorbei an ihren schönen Händen und auf den regennassen Boden, in dem sich das gelbe Neonschild des „The Clue“ zwischen den unzähligen Schuhen der Wartenden spiegelt.
„Hey, Anton, träumst du oder was?“, stupst mich Nadine an, ehe sie schäkert: „Komm schon, ist doch halb so schlimm, du hast nur eine Prüfung versiebt, du alter Hippie. Dauert bloß ein Jahr länger.“
Sie hat gut reden, ist meine erste, leicht eifersüchtige, wenn auch mehrheitlich humorvolle Überlegung. Als Philosoph der einzige unserer Gruppe zu sein, der seine Zeit an der Uni verlängern muss, kratzt etwas an meinem Ego – am Ende beschäftigt mich allerdings etwas anderes mehr.
Mit einem leisen Glucksen entgegne ich, bevor ich überlegen kann: „Offen gesagt habe ich mir gerade Sorgen um Kathrin gemacht, ich meine, so wie sie dieser Arsch sitzengelassen hat. Das ist jenseits von okay.“ Ich weiß nicht, wieso ich ihr das sage. Geht es darum, in den Augen meiner Freunde ein bisschen weniger auf mein Versagen reduziert zu werden oder ist es wirklich spontane Ehrlichkeit? Na ja, zwinge ich mich zur Ruhe, wir sind hier um Spaß zu haben, komme, was wolle! Nur hat sich Kathrin nun umgewandt und schaut mich aus ihren großen Rehaugen erstaunt an, als hätte ich sie durch die Nennung ihres Namens aus einer Gedankenwelt gerissen. „Oh“, macht sie und schüttelt verwirrt den Kopf. „Nein, ist schon gut, heute feiern wir. Ich will nicht an den Trottel denken.“
Endlich bewegt sich die Schlage voran, bald sollten wir eingelassen werden und sogar Mika, dieser Träumer, unterhält sich mit uns.
„Wow, die haben sogar einen DJ, dieser Laden hebt echt mit jedem Jahr mehr ab“, schreit uns Nadine fröhlich über den Lärm hinweg zu. „Jetzt kannst du sogar mit Stil hinfallen!“
„Danke“, erwidere ich beschämt und nehme einen letzten, kleinen Schluck von meinem Bier. Einen solchen Patzer wie die betrunkene Slapstick-Einlage des letzten Jahres will ich mir keinesfalls nochmal leisten, schließlich reicht es mir, wegen eines Fauxpas‘ aufgezogen zu werden. Zugegebenermaßen ist es mir peinlich, das würde ich aber nicht einmal meinen besten Freunden gegenüber eingestehen. Ich versuche über die Menschenmenge, die wesentlich dichter ist als bei der letzten Jubiläumsparty, auszumachen, ob Mika, der zukünftige verrückte Wissenschaftler, bald mit dem Getränkenachschub da sein wird. Natürlich bleibt er in dem Meer aus Leuten verschollen. Dafür fällt mir erneut Kathrin auf, die auf dem neuen, ausgebauten Dancefloor abfeiert, als gäbe es kein Morgen. Ihr zierlicher Körper tanzt, nein, gleitet durch die Dampfschwaden, blinkende Lichter erhellen die vom hübschen Kleid freigelassene Haut ihrer Arme. Ihre Bewegungen wirken auf mich hypnotisch. Vor knapp zwei Tagen war sie weinend auf meiner Couch gesessen und ich habe sie getröstet, weil sie dieser Tunichtgut verlassen hatte. „Na, eine tolle Frau wie du hat etwas Besseres verdient“, habe ich ihr gut zugeredet, ohne den nächsten Satz zu äußern. Ich werde mich wohl nie trauen, diese Worte auszusprechen. Nun stehe ich einfach blöd da und …
„Hey“, ruft Mika, der es geschafft hat, vier Getränke quer durch den Raum zu balancieren, wie es nur ein Physiker kann. „Magst du dir dein Bier nehmen, statt deine heimliche Flamme anzuglotzen?“
„Sie ist …“ Ich unterbreche mich, greife mir die Flasche. „Danke. Und gratuliere. Wie ich höre, bist du auf der Schnellstraße, Doktor zu werden!“
„Doktor wer?“, erkundigt er sich mit einem bengelhaften Grinsen. „Los, wink mal Kathrin zu uns herüber, du bist grösser als ich, vielleicht sieht sie dich in dem Chaos.“ Damit wendet er sich Nadine zu und reicht ihr einen unidentifizierbaren Drink, was sie sprechen verstehe ich nicht. Ich widme meine Aufmerksamkeit wieder der angehenden Kunsthistorikerin und Single-Frau meiner Träume, die wie ein Wirbelwind herumtanzt. Eine Weile später, winke ich ihr frenetisch zu. Tatsächlich sieht sie mich nach einigen Anläufen, hüpft zu mir und lacht mit einer Ausgelassenheit, die sie jede Verletzung vergessen lassen muss: „Tanz mit mir!“
„Mika hat grad die Drinks gebracht und nach dem, was ich letztes Jahr geboten habe, möchte ich keinesfalls nochmals zur Lachnummer werden“, will ich sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Leider wirkungslos, denn Kathrin schwankt dank dem frischen Beziehungsaus zwischen Apathie und Euphorie. Klein und schmal, wie sie ist, pflanzt sie sich vor mich hin, packt mich am Handgelenk, bevor sie ungestüm an mir zerrt und meint: „Ach, trinken können wir später!“
Ich kann den Schweiß unter meinem Shirt spüren, unangenehm, aber das war es wert. Heimlich bin ich froh, ist es mir diesmal gelungen, aufrecht stehenzubleiben. Durch die Maßen drängeln wir uns zu unseren Freunden zurück, die mittlerweile an der Bar Platz gefunden haben. Ich bin ein wenig wehmütig, weil der Laden vom Geheimtipp zur In-Location mutiert und aus allen Nähten platzt. Eigentlich freue ich mich über das Weiterbestehen des „The Clue“, selbst wenn sich durch seinen Erfolg alles verändert. Hier hat alles seinen Anfang genommen, viele gemeinsame Erinnerungen sind entstanden und ich bin zuversichtlich, dass sie auch auf überfüllten Tanzflächen weiterbestehen.
Wir mussten uns zwar beinahe mit Macheten vorwärtskämpfen, doch endlich haben wir es geschafft. Nadine johlt dem eher ruhigen Mika eben dermaßen laut zu, dass sogar ich es hören kann: „Wieder zwei Semester überstanden, wie verrückt ist das denn?“
Sie versucht, mit einem Freudensprung aufzustehen und wie in Zeitlupe kann ich beobachten, wie ihr Bleistiftabsatz die metallene Stange vor der Theke trifft, abrutscht und Nadine mitsamt Drink, Handtasche sowie Jacke auf den Dielen landet. „Flitzekacke!“, zischt sie, als wir drei nahezu zeitgleich neben ihr anlangen, um ihr aufzuhelfen, wobei keiner von uns das Lachen ganz kaschieren kann. Mit einigen weiteren, für sie untypischen, Flüchen und Mikas Hilfe rappelt sie sich wieder auf. Nach dem ersten Schrecken kann ich mich nicht mehr zurückhalten, ergreife Nadines Hand, um sie möglichst ernsthaft zu schütteln: „Willkommen im Club der Tollpatsche.“