Nach sechs Tagen endlich wieder dieser eine Moment, in dem alle Sinnesorgane jubilieren. Wilfried atmet tief durch, zieht die Luft gierig durch die Nase. Diese strömt vorbei an den Millionen von Sinneszellen seiner Nasenschleimhaut. Die Härchen auf den Sinneszellen strecken sich zitternd und voller Vorfreude den Aromastoffen entgegen, die durch den Duschraum wirbeln. Ein lautes „Beeil dich, andere wollen auch duschen“ unterbricht abrupt diesen Glücksmoment. Egal, er stellt das Duschthermostat heißer ein und lässt sich nicht stören. Der Brustkorb hebt und senkt sich. Harry trommelt gegen die Duschkabine. „Willi, mach hin, sonst hole ich dich da raus!“ „Nur zu – wenn du das Echo erträgst.“ Vor Harry hat er keine Angst. Harry ist ein Großmaul, mehr nicht. „Wilfried!“, mahnt Hannes, der Leiter des Tagestreffs. „Ist ja gut.“ Wilfried dreht das Wasser ab und zieht sich an. Er war froh, den Tagestreff für sich entdeckt zu haben, denn die letzten Tage waren ziemlich beschissen gewesen, was sein Fortkommen anging. Kaum eine Spende von vorbeieilenden Passanten, also ebenso keine Busfahrkarte, kaum ein Autofahrer, der ihn als Anhalter mitnahm. Es hatte schon deutlich bessere Zeiten gegeben. Die Sinneshärchen ziehen sich beleidigt zurück, als das frische Duscharoma nach und nach durch den säuerlichen Geruch von Wilfrieds Kleidung verdrängt wird. Klar benutzt er routiniert Waschmaschine und Trockner des Tagestreffs, doch das Leben auf der Straße hat seinen ganz eigenen Geruch, der nie ganz aus den Klamotten verschwindet. Schuld ist die dauernde Feuchtigkeit draußen in der Nacht, die sich mit verschüttetem Alkohol, Zigarettenrauch, Staub und Schweiß vermischt. Wilfried trinkt noch einen Kaffee, bevor er seinen Weg in die Fußgängerzone antritt. Hannes verabschiedet ihn herzlich, so wie jeden Berber, der im Tagestreff Station macht. „Mach´s gut, Willi. Und pass in der Fußgängerzone auf, halte dich abends von der Gerbergasse fern. Letzte Woche haben ein paar Nazis Heinz vermöbelt.“ „Diese Schweine“, brummelt Wilfried, schultert seine Habe und macht einen Schritt vor die Tür.
Das kann jetzt nicht wahr sein. Ein sintflutartiger Regen hat eingesetzt, wer kann, der flüchtet ins nächste Gebäude. Da ist ihm die Dusche vorhin tausendmal lieber gewesen. Aber Wilfried ist keiner, der jammert. Außerdem muss er los, denn wenn er zu spät in der Fußgängerzone ankommt, sind die besten Plätze bereits belegt. Er kennt die kleine Stadt, kommt hier regelmäßig durch. Es gibt nur einige Plätze, an denen man schnorren kann, ohne gleich von den Geschäftsleuten vertrieben zu werden und an denen man am Ende des Tages dennoch ordentlich Geld im Beutel hat. Jemand tippt ihm auf die Schulter. „Moin Willi, Schirm wäre fein, was?“ Johann zeigt seinen Schirm und grinst ihn an. „Ich hätte noch Platz unter dem Regenschirm.“ Der Tag wird offensichtlich nicht schöner. „Womit habe ich das verdient?“, denkt sich Wilfried. Er hätte wissen müssen, dass er Johann über den Weg läuft. Johann ist bekannt wie ein bunter Hund. Er geht allen auf den Nerv, weil er unentwegt drauflos quatscht. Auch Wilfried kennt seine Plattitüden. Hilft ja alles nichts, ehe er patschnass wird, nimmt er das Angebot an und stiefelt gemeinsam mit Johann unter dem Regenschirm los. Der Regen prasselt auf den Schirm und veranstaltet einen Höllenlärm. Nutzlos, Johann unterhält sich gern – auch brüllend. Das weiß jeder und so nimmt das Gespräch seinen Lauf. Es ist mehr ein Monolog als eine Unterhaltung. Die erste Plattitüde Johanns: „Der Winter ist hart, wenn du auf der Straße lebst.“ So weit, so gut, Wilfried schätzt die Zeit auf maximal zwei Minuten, bis Johann mit seinem Lieblingsthema loslegt. Keine fünfzig Sekunden später: „Habe ich dir schon erzählt, dass bald Umzug ist?“ Natürlich hat er ihm davon berichtet, jedem, ob der das nun hören will oder nicht. Es ist ein Running Gag in den Kreisen rund um den Tagestreff: „Hast du gehört? Johann zieht bald um.“ „Ach ehrlich?“ Schallendes Gelächter, Schmunzeln, wenn Johann in die Nähe kommt. Wilfried setzt ein freundliches Gesicht auf, schließlich ist es Johanns Regenschirm, der ihn davor bewahrt, den Rest des Tages völlig durchnässt zu verbringen. „Ne, hast du nicht. Du ziehst bald um? Klasse, erzähl mal.“ Johann labert sofort los wie ein Wasserfall. Von oben regnet es Bindfäden, unter dem Schirm Spuckefäden. Wilfried hat ein hervorragendes Gedächtnis und nimmt es als Denksportaufgabe, penibel auf Johanns Worte zu achten. Das hält seinen Kopf fit. Er merkt sofort, wenn Johanns Redeschwall bloß einen Hauch von den früheren Versionen abweicht. Überhaupt hat er ein phänomenales Gedächtnis und sich einen gewissen Ruf in der Berberszene erworben. „Frag den Willi“, heißt es oft. Einmal, vor sieben Jahren, war es Wilfried zu verdanken gewesen, dass die Polizei zwei üble rechte Schläger hinter Gitter bringen konnte. Diese Typen hatten es sich zum Sport gemacht, Berber nachts an ihren Schlafplätzen zu überfallen und zu misshandeln. Die haben sogar eine fette Haftstrafe bekommen, anstelle einer Bewährungsstrafe wie sonst oft. Die unmittelbare Nähe zu Johann hat durchaus etwas von einer Bewährungsstrafe, findet Wilfried. Während Johann brabbelt und brabbelt, Wilfried zuhört und irgendwie doch seinen Gedanken nachhängt, merken sie nicht, dass sie mittlerweile auf einem Radweg gehen. Ein Radfahrer donnert knapp an beiden vorbei. „Hey, ihr Penner, passt gefälligst auf!“ Dazu zeigt der Typ einen Vogel. „Pass doch selbst auf“, will Wilfried hinterherbrüllen, aber er lässt es bleiben. Das ist meistens die sinnvollere Lösung. Johann nimmt das alles nicht wahr. Mit leuchtenden Augen kommt er zum Höhepunkt der Geschichte: „Diesmal klappt es mit dem Umzug, da bin ich mir sicher, garantiert. Dann muss ich nicht mehr in der Obdachlosenunterkunft pennen. Eigentlich gehöre ich da gar nicht hin, ist nämlich was für heruntergekommene Typen, nicht für mich. Hätte ich mich damals nur gegen die Kündigung des Drecksvermieters gewehrt … Ich war einfach zu blöd, so eine Scheiße. Wie mich der Schlafsaal anödet, wenn die anderen Jungs halb besoffen schnarchen. Keine Ruhe, verdammt. Halt mal den Schirm.“ Er drückt Wilfried den Schirm in die Hand und kramt in seiner Jackentasche. Wilfried wird langsam ungeduldig. Die Hälfte der Strecke haben sie geschafft, trotzdem müssen sie sich beeilen, sonst sind die guten Plätze weg. „Hier!“ Johann zeigt Wilfried den Schnipsel, den er aus der Tageszeitung rausgerissen hat: 2-Zimmer-Wohnung, 56 qm, 480 Euro kalt. Wilfried würde ihn jetzt am liebsten anpaulen, was er denn für einen Blödsinn von sich gibt und wie er sich einbilden könne, er bekäme so eine Wohnung. „Das Amt muss mir das zahlen, die können nicht anders.“ „Du weiß schon, dass sechsundfünfzig Quadratmeter für eine Person ein bisschen viel sind? Die haben ihre Vorgaben im Amt.“ „Die kleineren Wohnungen sind auch nicht billiger.“ Johann steckt den Schnipsel wieder ein und nimmt den Regenschirm zurück. „Praktisch, so ein Schirm, oder?“ Wilfried nickt stumm. Sie gehen weiter. So sehr Johann nervt, irgendwie hat Wilfried Respekt vor ihm. Johann lässt sich nie unterkriegen, obwohl es nicht leicht ist in diesem Milieu. Johanns Sabbelei ist zwar schwer zu ertragen, nichtsdestoweniger tausendmal angenehmer als das aggressive Gebrüll von Typen, die durch das Saufen bereits einen andauernden, aggressiven Schwebezustand erreicht haben. Ab und an kursieren Gerüchte über Saufgelage, bei denen einer im Suff seinen Kumpel erschlagen hat. Man braucht keine Tageszeitung, um davon zu erfahren. Das spricht sich automatisch im Milieu herum. So verkneift sich Wilfried weitere Kommentare. Vielleicht weiß Johann sowieso selbst am besten, dass er keine Chance hat. Sobald ein Vermieter nach seiner Adresse fragt und Johann naiv Tulpenweg 6 angibt, ist das Rennen ohnehin gelaufen. Wilfried kommt zu dem Entschluss, Johann wüsste eigentlich Bescheid und erzählt die Geschichte vom bevorstehenden Umzug allein deshalb, um sich nicht ganz aufzugeben. Er kann sich lediglich einen Grund vorstellen, aus dem Johann die Geschichte nicht mehr ständig wiederholen würde: Johanns Tod. „Schau mal, da hinten wird es hell“, stellt Johann fest. „Ich glaube, es wird noch ein schöner Tag für mich“, freut sich Wilfried. „Der Platz vor Rossmann ist frei, das sehe ich von hier. Komm, wir beeilen uns.“ Sie beschleunigen das Tempo. Exakt in dem Augenblick, in dem sie die Fußgängerzone erreichen, hört es auf zu regnen. „Nicht schlecht, der zweite positive Moment an diesem Tag“, jauchzt Wilfried. Johann schüttelt den Regenschirm, schließt diesen und schaut Wilfried breit grienend an. „Und? Wie fandst du meine Eskorte? Ohne mich wärst du aufgeschmissen gewesen, oder?“ „Danke Johann. Super Sache. Treffen wir uns abends am Back-Shop? Wenn ich genug Geld zusammenhabe, gebe ich dir einen Kaffee aus. Das Wetter bessert sich, könnte klappen.“ Johann überlegt kurz. Bevor er antworten kann, sieht er in einiger Entfernung seinen Kumpel Ralle. „Ey, da hinten ist Ralle. Den habe ich seit Tagen nicht gesehen. Der weiß garantiert noch nichts von meinem Umzug. Ich muss los. Mach´s gut, Willi.“ Johann stapft los. Wilfried ruft: „Johann, warte.“ Der hält an, dreht sich um. „Ich muss zu Ralle. Was ist denn?“ „Ich wünsche dir alles Gute für deinen Umzug, Johann.“ Johann lächelt. „Danke, Willi.“
Eine der schönsten Geschichten von Peter die mich berührt hat.
Ein reines Vergnügen war es, diese zu vertonen.
Lg Alex