Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Gerichtssaal zwei des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, fünfzehn Minuten nach vier Uhr nachmittags, am Dienstag, den 20. Februar 2018. Einige Pressemitglieder tauschen sich im Flüsterton über die Verzögerung des Verhandlungsbeginns aus, andere machen sich still Notizen, bis einer der Reporter sich erhebt und sich lautstark zu Wort meldet.
Reporter #1: Darf die Presse erfahren, welchen Grund die Verzögerung hat? Was sollen wir der Öffentlichkeit und unseren Kollegen draußen auf dem Rasenteppich berichten?
Das Murmeln im Saal wird lauter, bis ein Gerichtsdiener die geladenen Pressemitglieder zur Ruhe anhält, welche dank dem ungeduldigen Blick der Obersten Richterin Folge leisten. Eine Weile verhalten sich alle Anwesenden zurückhaltend, bis das hole Klacken der Eingangstür zu hören ist und sich alle neugierig umdrehen. Ein anderer Gerichtsdiener streckt seinen Kopf durch den schmalen Spalt, wechselt einige nicht vernehmbare Worte mit jemandem vor dem Saal, nimmt etwas entgegen und hastet dann mit seiner mysteriösen Ausbeute zur Richterin.
Gerichtsdiener: (Händigt ihr einen Umschlag aus.) Frau Vorsitzende, der Angeklagte ist soeben eingetroffen. Seine Anwälte haben aber nicht bestätigt, dass er verhandlungsfähig ist.
Richterin: Schickt sie herein, wir wollen endlich weitermachen. (Seufzt gerade laut genug, dass der Gerichtdiener es hören kann, behält aber ihren neutralen, würdevollen Ausdruck bei.)
Gerichtsdiener: (Nickt in Richtung der Eingangstür und bedeutet dem Wachmann damit, dass der Angeklagte hereingeführt werden kann.) Ich bitte die werten Herrschaften der Presse darum, nun zur Ruhe zu kommen. Es scheint, dass wir beginnen können.
Der Angeklagte, ein kleiner, untersetzter Mann mit rundem Gesicht und pechschwarzem Haar, stolziert über den Mittelgang des Gerichtsaals, begleitet von mehreren Anwälten und Leibwächtern, welche in der vordersten Reihe, direkt hinter dem Anklagepult, Platz nehmen. Im Publikum verhalten sich alle ruhig, bis auf eine Person, die beim Auftritt des Angeklagten ehrfurchtsvoll aufsteht, woraufhin einige andere Mitglieder der Presse ihre Empörung kundtun.
Richterin: Ruhe im Saal! Und Sie, (Deutet auf die stehende Person im Publikum) setzen sich sofort hin. Ich verbitte mir jegliche Störung in meinem Gericht, Zuwiderhandlungen werden mit sofortigem Ausschluss sanktioniert.
(An die Herrschaften auf der Anklagebank gerichtet.) Werter Herr K**, fühlen Sie sich in der Lage, ihre Verhandlung fortzuführen?
Anwalt #1: (Stellt sich vor die Anklagebank, richtet seine Krawatte und wirft einen Seitenblick auf seinen Mandanten, der mit erhobenem Haupt dahinter stehen bleibt.) Wir möchten eine weitere Vertagung beantragen. Wie Sie sehen, ist mein Mandant aus gesundheitlichen Gründen nicht im vollumfänglichen Besitz seiner Kräfte und sollte daher …
Richterin: (Fällt ihm ins Wort.) Ich bitte Sie, das weiter auszuführen. Ich wurde im Vorfeld nicht über allfällige Vertagungsgründe in Kenntnis gesetzt und die mir vorliegenden Berichte der konsultierten Ärzte geben keinerlei Grund dazu.
Anwalt #1: (Schlägt die Hacken seiner Anzugsschuhe zusammen, so dass einer der Presseleute zusammenzuckt und sein Baguette fallen lässt.) Mein Mandant wurde heute Morgen zum Ziel eines hinterhältigen Anschlags und trug einige Verletzungen davon. Wir bitten Sie deswegen um Vertagung, bis er genesen ist.
Richterin: Wie? (Sichtbar verwirrt beginnt sie den ihr ausgehändigten Umschlag aufzureißen.) Weshalb wurde mir das nicht früher berichtet? (Blickt zum Gerichtsdiener zu ihrer Rechten, welcher etwas zu lapidar mit den Schultern zuckt.) Beschreiben Sie mir den Vorfall.
Anwalt #1: (Räuspert sich theatralisch.) Trotz den bestmöglichen Sicherheitsmaßnahmen hat ein fanatischer Gegner meines Mandanten, vermutlich aufgehetzt von liberaler Fehlberichterstattung … (Ein Raunen geht durch den Gerichtssaal.)
Anwalt #2: (Unterbricht seinen Kollegen rabiat und stellt sich mit einer unterwürfigen Geste zwischen ihn und die Richterin.) Werte Frau Vorsitzende, entschuldigen Sie meinen Kollegen, er ist noch nicht gänzlich vertraut mit den hiesigen Vorschriften.
Richterin: (Zieht missbilligend eine Augenbraue nach oben, winkt dann aber in Richtung des zweiten Anwalts und bedeutet ihm, fortzufahren.) Dann übernehmen Sie besser das Reden, bevor ich Ihren Kollegen noch rauswerfen muss.
Der erste Anwalt setzt sich auf mehrfaches Bitten seiner Kollegen mit gesenktem Haupt bockgerade hin und faltet die Hände im Schoß. Der Angeklagte hat sich in der ganzen Zeit nicht einmal bewegt und starrt mit wachen Augen auf die Beisitzenden der Verhandlung, währendem sein zweiter Anwalt, der einzige seiner Gefolgschaft, der akzentfreies Englisch spricht, einige Papiere aus seiner Aktentasche fischt.
Anwalt #2: Vielen Dank, ehrenwerte Vorsitzende. (Marschiert zur Richterin.) Wie Sie dem beiliegenden Bericht entnehmen können, wurde mein Mandant heute früh, beim Verlassen der Verwahrungseinrichtung, brutal angegriffen und schwer verletzt.
Richterin: (Legt den Umschlag vor sich auf das Richterpult und lehnt sich etwas nach vorne.) Nun reden Sie doch endlich Klartext, wir haben nicht ewig Zeit. Was genau ist vorgefallen? Ist das wieder eine Verzögerungstaktik wie die Geschichte mit dem Granatwerfer?
Anwalt #2: Nein, nichts dergleichen. (Hüstelt verlegen.) Mein Mandant wurde von einem … (Pausiert.) Gegner tätlich angegriffen und trug eine tiefe Fleischwunde davon. Er benötigt dringend ärztliche Aufmerksamkeit und sollte schnellstmöglich in eine Klinik eingewiesen werden.
Richterin: Ja, soweit waren wir schon. Lassen Sie es mich so formulieren: Um was für eine Fleischwunde handelt es sich? Ich kann nämlich keine Verletzung erkennen.
Die Herren am Anklagepult wechseln besorgte Blicke und Gebärden aus, währendem der Angeklagte weiter ungerührt hinter seinem Stuhl stehen bleibt.
Anwalt #2: Werte Frau Vorsitzende, auf Grund der sensiblen Natur der Verletzung möchte mein Mandant diese nicht im Beisein der Öffentlichkeit offenlegen und bittet um Diskretion. Können wir Sie im Richterzimmer sprechen?
Richterin: Werte Herren der Verteidigung, Herr K**, das Gericht wünscht sich keine weiteren Verzögerungen. Selbstverständlich können Sie auf eine private Besprechung bestehen, aber angesichts der Tatsache, dass Ihr Mandant der mehrfachen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und teilweise bereits überführt wurde, können Sie davon ausgehen, dass die Öffentlichkeit die Umstände des Vorfalls ohnehin erfahren wird. (Lehnt sich wieder in ihrem Sessel zurück.) Bestehen Sie wirklich auf die Audienz?
Eine rege Unterhaltung am Anklagepult folgt, während die Übersetzerin fleißig alles was gesagt wird dokumentiert und unprofessionell zu grinsen beginnt.
Anwalt #2: (Tritt wieder vor die Richterin.) Mein Mandant hat sich dazu bereiterklärt, die Geschehnisse von heute Morgen offenzulegen.
Richterin: (Fasst sich an die Nasenwurzel.) Es ist ja nicht so, als hätte er eine andere Wahl, aber gut. Fahren Sie fort.
Anwalt #2: Die Fleischwunde befindet sich südlich des Rückgrades, an der rechtsseitigen Glutealregion. (Hält die Faust vor den Mund um ein erneutes Hüsteln zu kaschieren und klingt dabei wie ein zur Kopulation gezwungener Schimpanse.)
Richterin: Sie … (Pausiert und sieht sich fragend im Saal um, wo sie einige schmunzelnde Gesichter entdeckt.) Sie meinen, Ihr Mandant wurde am Hintern verletzt?
Mehrere der Anwesenden beginnen unterdrückt zu lachen, so dass ein kollektives Glucksen und Grunzen durch den weitläufigen Gerichtssaal raunt und die Richterin abermals um Ruhe bitten muss.
Anwalt #2: Das ist korrekt, ehrenwerte Vorsitzende. Ist es nun möglich, die Verhandlung zu vertagen? Sie sehen, mein Mandant kann sich nicht einmal hinsetzen. (Deutet mit einer ausladenden Handbewegung auf den steif dastehenden Herr K**.)
Richterin: (Nach einer kurzen Denkpause.) Ich bin geneigt, Ihrer Bitte nachzugeben. Aber zuerst möchte das Gericht erfahren, wie es zu dieser unglücklichen Verletzung gekommen ist.
Anwalt #2: Es ist geschehen, als das Wachpersonal meinen Mandanten von der Institution in den Gefangenentransport geführt hat. Einer der Wachhunde hat sich losgerissen und meinen Mandanten angegriffen. Weitere Untersuchungen sind notwendig, aber wir ziehen in Erwägung, die Institution wegen Missachtung der Sorgfaltspflicht zu verklagen.
Die Richterin schaut den Anwalt ungläubig an, bevor sie schlussendlich den Inhalt des Umschlags vor sich ausbreitet und die darin befindlichen Papiere und Fotos studiert. Eine Weile später hebt sie die Hand, um die Anwesenden zum Schweigen zu bringen, schiebt die Unterlagen zurück in das Covert und ist nicht mehr in der Lage, ihr Amüsement zu unterdrücken.
Richterin: Hier steht, Ihr Mandant wurde von einer ausgebildeten Polizeihündin Namens „Karma“ in den Allerwertesten gebissen. (Lautes Gelächter bricht im Saal aus und es dauert einige Sekunden, bis sie darauf reagieren kann.) Ruhe bitte! Ihrem Gesuch um Vertagung wird stattgegeben … (Pausiert um sich zu fangen.) Und ich verlange, dass der Hund einen Knochen bekommt!