Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Ach komm schon!“, rief Hugh aus und schlug, für seine Verhältnisse ungewöhnlich leise, auf den Tisch, um den Kellner auf sich aufmerksam zu machen. „Noch ne Runde!“
In der brütenden Nachmittagshitze war jede Erfrischung willkommen, doch Drews skeptische Miene legte nahe, dass er das fünfte Stout nicht unbedingt für die beste Idee hielt. Natürlich sagte er nichts und machte wie immer, wenn die beiden Männer im Biergarten saßen und etwas feierten, trotzdem mit. Das feuchtwarme Klima setzte ihm zu und auch der Schatten der stämmigen, dicht belaubten Bäume schienen daran nichts ändern zu können. Drew seufzte laut während er sich fragte, wie er nach Hause kommen sollte; den Wagen zu nehmen wäre keine kluge Idee, so betrunken wie er mittlerweile war. „Jetzt reg dich nicht auf, Mann“, erklärte Hugh gelassen. Wie üblich schien der untersetzte Kerl die Ruhe in Person zu sein. „Bis jetzt haben wir noch jedes Mal gefeiert, wenn du den Flugsimulator geschlagen hast. Du bist gerade im übelsten Gewitter gelandet, dass dieser Staat je gesehen hat.“
„Geschlagen?“, fragte Drew erstaunt und fügte dann hinzu: „Ich will doch bloß meine Lizenz machen.“
„Damit du dann in deiner Cessna durch die Gegend tuckern kannst?“, fragte Hugh lachend. „Ich verstehe noch immer nicht, wieso du dazu in einem Simulator übst, das ist doch nicht realistisch. Tu etwas richtig oder nicht, das ist die Devise!“
„Hey, du musst erst meine Maschine reparieren, bevor ich wieder richtig damit fliegen kann“, antwortete Drew schmollend. Seit er mit seiner Cessna einen kleinen Unfall – einen verfluchten Parkschaden! – gehabt hatte, frotzelte ihn sein Kumpel und Mechaniker immer damit, dass er jetzt an seinem Computer mit einem Flugsimulator spielte um nicht aus der Übung zu kommen. Denn auch wenn das Computerprogramm nicht annähernd realistisch war und die geflogenen Stunden niemals angerechnet werden konnten, so fand Drew doch, dass es besser war als nichts. „Das ist wie bei Immanuel Kant, weißt du“, antwortete er, während die Kellnerin zwei neue Bierkrüge vor sie hinstellte.
Hugh lachte. „Du meinst dieser Typ, der gesagt hat, man soll nur das tun, was auch noch gut wäre, wenn es alle tun würden?“
Etwas erstaunt, dass sein nicht besonders belesener Freund den kategorischen Imperativ vereinfacht wiedergab antwortete er: „Ja, so ziemlich. Und ich will nicht komplett aus der Übung kommen, damit ich nicht zu einem dieser Vollposten werde, die nicht wissen was sie tun wenn ich mein Papier von der FAA bekomme.“
„Und darum spielst du zuhause mit dem Computer“, rief Hugh lachend aus. „Du bist echt eine Klasse für dich, Mann. Der gute alte Klugscheißer Drew und seine Sturheit. Ja, darüber müsste man Bücher schreiben.“
„Ist doch so“, gab Drew zurück. „Seitdem ich dieses Buch von Kant gelesen habe, versuche ich danach zu leben. Darum werde ich nachher auch nicht betrunken nach Hause fahren, obwohl ich es sicher könnte. Der Typ hatte wirklich was auf dem Kasten gehabt.“
„Du bist nicht betrunken, du bist sternhagelvoll“, gab Hugh prustend von sich und schlug sich dabei so stark auf die Knie, dass man glauben konnte, der Hüne würde einen Bluterguss davontragen. Drew seufzte schon wieder, wohl wissend, dass sein Kamerad Recht hatte – er war wirklich mehr als nur ein bisschen angetrunken. Schließlich fragte er: „Hey, wann wird eigentlich meine Maschine fertig?“
„Morgen, großes Ehrenwort“, antwortete Hugh und blickte auf die staubige alte Hauptstraße hinaus, die sich vor dem Patio erstreckte. „Viel fehlt nicht mehr, ich muss bloß noch etwas über die Kratzer lackieren, dann sieht sie aus wie neu.“
„Na, wenn das kein Wort ist“, verkündete Drew feierlich und hob seinen Bierkrug. „Auf Hugh, den besten Mechaniker auf dem ganzen verfluchten Flugplatz!“
Eben als der Angesprochene etwas entgegnen wollte, weiteten sich seine Augen und er deutete auf die Straße hinter Drews Rücken, bloß eine Sekunde später schrie er laut „Scheiße“, ließ den Bierkrug fallen und warf sich mit aller Kraft zu Seite. Der große Lastzug pflügte sich wie ein Schlachtschiff durch den Patio, man konnte das Brechen von Holz, das Splittern der Terrakottatöpfe und die panischen Schreie von Menschen hören. Tische wurden weggeschleudert, Dachziegel flogen durch die Luft als sich das Vordach wie eine Ziehharmonika zusammenfaltete und Drew wandte sich gerade im rechten Moment um, um zu erkennen wie der Kühlergrill des gewaltigen von der Straße abgekommenen Trucks nur wenige Inches hinter seinem Rücken zum Stillstand kam. Der Biergarten glich einem Kriegsgebiet nach einem Bombardement und Drew war vom Schrecken gelähmt und atmete zugleich auf, als er begriff wie knapp er eben dem Tod entkommen war. Mit dem durch den Alkohol verstärkten Hochgefühl erhob er sich rasch, rief sich dann jedoch zur Ordnung, weil er nach dem Fernfahrer sehen musste; schließlich hatte er den Erste-Hilfe-Kurs noch gut im Gedächtnis. Just als er bei der Fahrerkabine angelangt war, traf ihn eine herunterfallende Schindel des zerstörten Patios auf den Hinterkopf und ihm wurde schwarz vor Augen. Sein letzter Gedanke galt der Tatsache, dass er wahrscheinlich gerade das Opfer eines Unfalls geworden war, der nie geschehen wäre, wenn bloß alle so konsequent handeln würden wie er. Drew war schon tot, als Hugh sich aus dem Trümmerhaufen hervorgrub und ihn in dem Trümmerfeld suchen wollte, während der betrunkene Fernfahrer eben aus seinem Truck kletterte. Was Drew nicht mehr wissen konnte war, dass Hugh auf seiner Grabrede sagen würde: „Er ist so gestorben, wie er gelebt hat. Es ist gut.“
Und das bei einer Story, die gar nicht zu Horror-Genre gehört ;)
Trotzdem viel Spass beim Lesen,
Sarah
Ich fands damals im Studium grausam, schon beim Titel bekomm ich ne Gänsehaut ;)