Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Kurzgeschichte erschien im Rahmen der vierten Clue Writing Challenge.
Dies ist die Geschichte, wie ich ein Leben rettete.
Alles begann vor einigen Jahren. Ich hatte gerade erst meine Polizeiausbildung abgeschlossen und war stolz darauf, mit meinen Kollegen auf den Straßen Baltimores meine Pflicht erfüllen zu dürfen. Es waren schöne Zeiten für mich, meine Liebste war schwanger mit unserem ersten Sohn, der Umzug in unser gemeinsames Haus war ohne Zwischenfälle vonstattengegangen, sogar unsere Schulden waren, ihren Eltern sei Dank, mehrheitlich abbezahlt. Ich konnte mein Glück kaum fassen, nahm es keineswegs als selbstverständlich hin, all die Probleme meines Landes unbeschadet von der Seitenlinie her betrachten zu können. Es hätte anders kommen können und eine Weile hatte es so ausgesehen, als müsste ich die Lebensgeschichte meines Vaters wiederholen. Alles schien perfekt, besser, als ich es mir jemals zu träumen gewagt hatte.
Am Abend des vierundzwanzigsten Junis saß Bethany, meine erste und letzte große Liebe, auf der Couch. Sie war erst im vierten Monat, dennoch genauso abenteuerlustig wie damals, als wir uns vom Campus geschlichen haben, um durch die Stadt zu ziehen. Die Langeweile stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie sah sich im Wohnzimmer um, offenbar auf der Suche nach einem vergessenen Eck, das man streichen, dekorieren oder vielleicht komplett neu renovieren könnte. „Burt“, rief sie mich aus der Küche zu sich. „Burt, lass den Abwasch liegen, ich muss mal wieder unter Leute.“ Ich lächelte, räumte das letzte Glas in den Geschirrspüler und ging zu ihr. „Alles erledigt, Schatz. Wie wär’s mit Kino?“ Ich wusste nicht, dass dieser unschuldige Satz, diese alltägliche Entscheidung der Anfang vom Ende sein würde …
„Wollen wir den hier sehen?“, fragte Bethany auf ein Poster irgendeines Superheldenfilms zeigend. Ihre Vorliebe für starke Männer des Gesetzes machte vor Filmen keinen Halt. Ich schmunzelte, nickte und reihte mich in Schlange vor der Kasse ein. „Was grinst du so blöd?“ Sie hielt ihren kleinen Bauch mit beiden Armen fest umschlungen, als wollte sie unser Ungeborenes in den Schlaf wiegen.
„Ach, ich wundere mich bloß, wie ich eine so großartige Frau verdient habe“, gab ich zurück und entlockte ihr damit ein verlegenes Augenrollen.
„So langsam verstehe ich, weshalb alle sagen, auch die Männer würden bei einer Schwangerschaft verrücktspielen.“ Kichernd hakte Bethany bei mir ein und lehnte ihren Kopf gegen meine Brust.
„Superhelden-Film, huh?“, erkundigte ich mich. Mir war es egal, welchen Streifen wir uns ansahen, aber ich wollte einfach ihrer Stimme lauschen.
„Klar“, erwiderte sie hell. „Die einzige Option heute, es sei denn, du willst dir diesen Seniorenfilm da ansehen.“ Mit dem Ellenbogen deutete sie auf ein anderes Poster, ließ dabei weder von mir noch von unserem Baby ab. Sogleich ertönte hinter uns ein konsterniertes Räuspern. Eine ältere Dame blickte uns erst erzürnt funkelnd, dann erheitert an.
„Oh Gott“, stieß meine herrlich vorlaute Frau aus. „Bitte entschuldigen Sie!“
Die Fremde und ich begannen gleichzeitig lauthals loszulachen. „Ich wollte Sie nur ärgern, Liebes“, meinte sie schließlich, ihre blasse Hand auf Bethanys Unterarm gelegt. „Und nur damit Sie’s wissen: Ich gehe mir ebenfalls den Superheldenfilm ansehen. Für so Seniorenzeugs werde ich wohl nie betagt genug werden. Zudem“, fuhr sie sichtlich erfreut über die Unterhaltung mit uns beiden fort, „finde ich es toll, Leuten dabei zuzusehen, wie sie für Recht und Ordnung sorgen.“
Vermutlich war sie alleine da, zumindest konnte ich keinen Begleiter an ihrer Seite entdecken. Bethany löste sich von mir, um sich der Alten zuzuwenden und stieg auf das Gespräch ein. Sie würde eine wundervolle Mutter werden, dachte ich, sie war so ein positiver Mensch, hatte ein offenes Ohr für alle und war stets darum bemüht, anderen eine Freude zu bereiten. „Dann müssen Sie meinen Mann, Burt, mögen“, holte Bethany aus, ehe sie mich näher heranzog. „Er ist Polizist.“ Der Stolz sprudelte nur so aus ihren Worten. Zum wiederholten Male an diesem Abend dankte ich Jesus für den Segen, gemeinsam mit Bethany meine Tage auf Erden verbringen zu dürfen.
„Tatsächlich“, sagte die Dame beeindruckt. „Dann muss ich Ihnen ein Eis kaufen!“ Wiederrede wurde nicht geduldet und als ich anbot, für die beiden Frauen Leckereien für die Vorführung zu besorgen, wurde ich sofort überstimmt.
„So ein Quatsch“, tadelte mich die Fremde. „Sie bleiben hier und geben gut Acht auf diese reizende Lady. Also, Burt, Schokolade oder Vanille?“
„Sie lassen nicht locker, was? Vanille“, gab ich schlussendlich nach. Ein wenig peinlich berührt war ich zwar, das musste ich zugeben. Trotzdem, von einer anderen Kinogängerin mit Süßigkeiten belohnt zu werden, dass ich meinen Job tat, hatte durchaus etwas Schönes an sich. Ich wurde geschätzt, meine Arbeit wurde mit Respekt honoriert – was konnte man daran schon aussetzen?
„Vanille“, bestätigte sie zwinkernd, beauftragte Bethany, ihr den Platz in der Schlange freizuhalten, bevor sie in Richtung des kleinen Kiosks von dannen zog.
„Na, mein Held kriegt ein Eis“, wurde ich liebevoll geneckt. „Wenn du dich weiter so brav aufführst, bekommst du später von mir noch mehr Nachtisch.“
Heute wünsche ich mir sehnlichst, dieser Abend hätte genau an dieser Stelle geendet. Meine liebende Ehefrau neben mir, eine freundliche Rentnerin, die uns mit Nettigkeiten verwöhnte und die Aussicht auf eine wilde Nacht, um unsere wachsende Familie zu zelebrieren. Leider sollte es nicht dabei bleiben.
„Burt!“ Niemals zuvor hatte ich Bethany so laut kreischen gehört. Energisch riss sie mich von der Kinokasse weg und machte mich auf das Geschehen beim Kiosk aufmerksam. „Bitte, Burt, tu was!“ Ohne lange nachzudenken ließ ich Bethanys Jacke sowie meine Geldbörse fallen, drängte mich durch die anderen Kinobesucher und sprintete los. Mit einem Sprung stürzte ich mich auf den dunkelhäutigen Mann, der eben die alte Dame zu Boden gestoßen hatte und mit ihrer Handtasche zu fliehen versuchte. Wir beide kamen auf dem klebrigen Teppich des Foyers zu liegen. Während ich nach seinen Armen greifen wollte, erwischte er mich mit dem Fuß, trat mir kräftig in die Rippen – da sah ich es. In seinem Gürtel steckte ein Messer. Instinktiv rutschte ich beiseite, ertastete meine Dienstwaffe und richtete sie, so wie ich es gelernt hatte, auf ihn. „Hände über den Kopf!“, brüllte ich. Er ignorierte mich, stützte sich mit beiden Händen ab, kniete sich hin und … Als wäre die Welt eingefroren, spielte sich ein Film vor mir ab, der so gar nichts mit Superhelden zu tun hatte. Der Mann schoss nach vorne, rammte mir die Klinge in die Kehle, ich verblutete an Ort und Stelle, Menschen schrien wild durcheinander, meine Frau kam herangerannt, warf sich vor meiner leblosen Hülle nieder, brach in herzzerreißendes Schluchzen aus. Mein Sohn würde niemals einen Vater haben. Das durfte nicht geschehen! Ich feuerte.
Als der Dunkelhäutige in sich zusammensackte, entglitt die Waffe meinen zitternden Fingern. Um uns herum brach das Chaos aus, mir war, als könnte ich Bethanys Rufe durch die Menge ausmachen. Kurz darauf fiel sie mir um den Hals, umarmte mich fest. Da dämmerte mir, was geschehen war, was ich getan hatte. Vor mir lag der leblose Körper eines Jungen, ein Kindes! „Oh Gott“, flüsterte ich immer und immer wieder, „Oh Gott, oh Gott!“
Ich hätte schwören können, dass er nach dem Messer gegriffen hatte. Ehrlich, ich hätte mein Leben darauf verwettet – oder besser gesagt, ich hatte mich geweigert, mein Leben darauf zu verwetten. Die Überwachungskameras des Kinos zeigten ein anderes Bild, seine Hände kamen nicht einmal in die Nähe des Messers. Er wollte sich ergeben, meinem Befehl Folge leisten, doch ich habe ihn erschossen. Die folgenden Wochen, Monate waren für uns nur schwer zu ertragen. Jede Untersuchung ergab dasselbe: Ich hatte vollkommen grundlos einen Zwanzigjährigen getötet. Sicher, er hatte die Tasche der netten Dame gestohlen, sie war in der Hitze des Gefechts ins Taumeln gekommen und hintenüber gefallen. Aber er hatte sie nicht verletzt, ihr keinerlei Schaden zugefügt. Während den Verhandlungen wurde er mehrfach als Gangster bezeichnet, gestohlen habe er schon als Kind, wurde behauptet. Wahrscheinlich stimmte das. Er stammte aus einer armen Gegend, hatte keinen Vater, die Mutter war Drogenabhängig, sein Bruder gerademal in der Grundschule. Er trug die Verantwortung, obwohl es anders hätte sein sollen, war er derjenige, auf den seine Familie zählte. Ohne Ausbildung, Job oder nur den Hauch einer Perspektive tat er eben das, was er glaubte tun zu müssen. Alleine diesem Umstand verdanke ich es, heute noch meine Freiheit genießen zu dürfen, denn meine ehemaligen Kollegen stellten sicher, dem Richter jeden Fleck auf der Weste dieses Jungen aufzuzeigen – wie ich mich schäme, froh darüber zu sein. Sein Name war Jamal und er verdiente Respekt, Unterstützung, ganz bestimmt keine Kugel zwischen die Augen. Was ich verdiene, nun, das ist eine Frage, vor deren Antwort es mir graut, wann immer ich mit meinem Sohn einen neuen Meilenstein feiern darf.
Es sollte die Geschichte werden, wie ich ein Leben rettete. Stattdessen ist dies die Geschichte, wie ich ein Leben nahm.