Erfüllt von Wonne blickte Manfred zur Schwarzen Madonna hoch und seufzte zufrieden. Ein weiterer langer und strenger Tag ging dem Ende zu, während sich der Himmel über dem Kloster von Einsiedeln dunkel färbte. Der in eine Mönchskutte gekleidete Mann in mittleren Jahren verließ die Kapelle und schritt ruhig und zufrieden in die Richtung seiner bescheidenen Schlafgemächer, in denen der einzige Gegenstand aus seinem früheren Leben eine Kuckucksuhr war, die er von seinem Großvater geerbt hatte. Mit einem schwachen Lächeln erinnerte er sich daran, wie viel Überzeugungsarbeit es damals gebraucht hatte, den Abt dazu zu bewegen, ihm die monströse Uhr im Zimmer zu gewähren. Ja, Manfred mochte das Mönchsleben – besonders, weil der strikte Lebensstil für Ausgeglichenheit und inneren Frieden sorgte.
Der Tunnel unter der Schafweide war eng und feucht, manchmal tropfte Wasser durch das alte Mauerwerk nach unten. Lilly schob sich robbend über den Boden und fragte sich, warum sie das Gefühl hatte, dass ihr jederzeit eine hochmotivierte Ratte die Nase abbeißen könnte. Lilly führte zweifelsohne ein spannendes Leben, das ganz im Zeichen von dem Adrenalinschub stand, den sie bei jedem ihrer Einbrüche erlebte. Sie konnte vor sich ein erschrockenes Aufatmen hören, gefolgt von der Stimme ihres Partners bei dem Job: „Wir sind jetzt beim Brunnenschacht, dann müssen wir tauchen.“
„Fröhliches Barotrauma wünsche ich“, entgegnete Lilly trocken, während sie die Sauerstofflasche anzog. Sie wusste, dass der Mann, den sie unter dem Namen John kannte, den Fachbegriff nicht verstehen würde, doch weil sie ihn nicht leiden konnte, hatte sie ihren Spaß daran, ihn zu nerven. Seine Aufgabe war es eigentlich nur, das Gitter aufzuschweißen und dann auf sie zu warten, bis sie zurückkehrte. Heutzutage war es in England wirklich schwer, Profis anzuheuern, die noch nicht von der Interpol gesucht wurden und daher auch unerkannt reisen konnten. Sie ignorierte Johns Schimpfen und ließ sich in den tiefen und längst vergessenen Brunnenschacht fallen.
Manfred war sich sicher, seine Nachtruhe verdient zu haben, schließlich hatte er heute mehr gebetet, als je zuvor. Nicht, weil er sich schämte, sondern bloß, weil ihm danach gewesen war. Doch er konnte partout nicht einschlafen, das Ticken der Kuckucksuhr erschien ihm quälend laut und er konnte Ratten in der alten Kanalisation unter ihm hören; der Fluch daran, im Erdgeschoß zu leben. Doch als Mönch fand er es falsch, sich darüber aufzuregen; anders als sein früheres Ich, das die ganze Zeit mit einem Smartphone in der Hand durch die Metropolen der Welt gerannt und seinen Geschäften nachgegangen war. Er streckte sich auf dem harten Bett und schlief letztendlich doch ein, weil ihn die Erschöpfung des langen Tages überkam.
Lilly hatte eben John hinter sich gelassen, der brav im Taucheranzug an der Stelle wartete, an welcher er das Gitter durchtrennt hatte, damit sie einsteigen konnte. Sie fand sich nun im Inneren des Klosters wieder, und brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren. Nachdem sie einen kurzen Blick um sich geworfen hatte, wusste sie, wo sie war. Während sie möglichst leise den Gang langschritt, zählte sie die Türen ab und gelangte schließlich bei der richtigen an. Völlig geräuschlos zog sie die Tür auf, zuckte jedoch zusammen, als ihr ein in der Besenkammer verstautes Bügelbrett entgegenfiel. Geistesgegenwärtig fing sie es auf, bevor es scheppernd zu Boden fallen konnte. Eines war klar: Dies war die falsche Tür gewesen. „Versager“, murmelte sie genervt, ihre Informationen waren falsch, doch so leicht würde sie nicht aufgeben.
Einige Minuten später erreichte Lilly schließlich den Ort, wo sie ursprünglich hin wollte. Leise schlich sie sich ins Zimmer des schlafenden Mönches mit der mehr als bloß zwielichtigen Vergangenheit, der im Moment leise vor sich hin schnarchte. Sie schob das kleine Päckchen, welches sie bei sich getragen hatte, unter sein Bett und wandte sich dann wieder dem Ausgang zu.
Während sie auf ihrem Rückweg durch die leeren Gänge des alten Baus schlich, fragte sie sich, was einen früheren Agenten ihres Geheimdienstes dazu bewegen mochte, sich in ein Kloster zurückzuziehen. Nicht, dass dies ein Problem gewesen wäre, wären da nicht seine Reue und seine Schuldgefühle gewesen. Es gab Dinge, die man besser nicht weitererzählte, auch nicht im Beichtstuhl – erst recht nicht, wenn dieser verwanzt war. Während sie in den Brunnen einstieg, murmelte Lilly, die in Gedanken noch immer bei ihrem früheren Berufskollegen war: „So ein Trottel.“
Manfred wachte schweißgebadet auf, konnte sich aber nicht mehr erinnern, was er geträumt hatte. Seine erste Bewegung war ein routinierter Griff unters Kopfkissen, bevor er begriff, wo er war. Er atmete einige Male tief durch und lauschte dem beruhigenden, gleichmäßigen Ticken der Kuckucksuhr. Als er sich etwas gefasst hatte, setzte er sich aufrecht aufs Bett und faltete seine Hände zu Gebet. „Herr, hilf mir diesen Albtraum hinter mir zu lassen. Ich bitte um Vergebung für das, was ich getan habe.“
Lilly kletterte mühsam aus der Kanalisation und sah sich auf der Schafweide um, auf der sie nun angelangt war. Sie konnte das Blöken der Schafe hören und das Zirpen der Grillen, während der Wind durch die Baumwipfel des etwas weiter entfernten Waldes rauschte und Wetterleuchten den Himmel erhellte. Sie atmete tief durch, während sie einen Blick zum Kloster zurückwarf. Lilly tat diese Arbeit schon lange genug um zu wissen, dass es niemals einfacher wurde. Ein gedämpfter Knall war zu hören, als hinter einem der Fenster eine kleine Explosion aufblitzte; sie war instinktiv zusammengezuckt. Ihr war sehr wohl klar, dass eines Tages sie an der Stelle des redseligen Agenten sein könnte. „Besser du als ich“, murmelte sie, während sie sich abwandte und gemächlich auf die Baumgrenze zu schritt.