Ein Wagen rollte die steile Einfahrt herab auf den Hofladen zu, der sich im Erdgeschoß des alten Bauernhauses befand. Schon aus dieser Entfernung war der alte, blaue VW Passat zu sehen, der durch die Scheibe mitten in den Laden gekracht war. Im Inneren des verglasten Raumes standen ein paar Kunden, sowie eine ältere Frau, welche, ihrer grünen Schürze nach zu urteilen, die Inhaberin des Ladens war.
Das Auto hielt im Hof und ein großer Mann stieg aus. Er hatte dunkelbraune Haare, die in einen Dreitagebart übergingen, was sein Gesicht nichtsdestotrotz freundlich aussehen ließ. Mit langen Schritten betrat er den Laden durch das Loch der kaputten Scheibe, wobei er seinen schwarzen Mantel beiseite zog.
Sofort fiel sein Blick auf den Unfallwagen und die Sense, welche durch die Windschutzscheibe geschlagen worden sein musste, da sie in der Brust des jungen Fahrers steckte. Es war grausig anzusehen und jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
Nachdem er seine Augen hatte losreißen können, stellte er sich allen Anwesenden vor. „Guten Tag, Kobra mein Name. Ich bin jetzt für diesen Fall zuständig. Ach ja“, bemerkte er mit einem Zeig über die Schulter, „und das ist Herr Wagner, mein Assistent.“ Der Erwähnte drückte sich gerade ebenfalls durch den Spalt zwischen Unfall und angrenzendem Fensterrahmen. Der Kommissar machte keinerlei Anstalten sich auch nur einen Schritt zur Seite zu bewegen, damit sein Kollege besser durchkam.
Die beiden Beamten, die bereits vor Ort waren und mit den Kunden, sowie Frau Braun, der Bäuerin, gesprochen hatten, begrüßten die Neuankömmlinge und schilderten das Tatgeschehen so gut sie es vermochten. Kommissar Kobra hörte geduldig zu, unterbrach sie nur ab und zu, um genauer nachzuhaken und einen vollständigen Eindruck zu bekommen. Nachdem sie fertig waren brummte er etwas, woraufhin er sich Frau Braun zuwandte: „Alle Personen hier auf dem Hof befinden sich nun in diesem Raum, richtig? Außer uns ist niemand mehr im Haus oder auf Ihrem Acker dahinter?“
“Nein, mein Mann ist bereits auf den Feldern außerhalb der Stadt und sonst ist niemand hier.“
“Gut“, kam es nachdenklich von Kobra. “Untersuch schon mal die Sense und das Auto auf Spuren, Fritz“, wandte er sich an seinen Gehilfen, Herrn Wagner. Er selbst verließ den Laden, überquerte den Hof und untersuchte den Weg von der Einfahrt zum Haus nach Spuren.
Laut den Angaben von Frau Braun, war der Wagen in die Einfahrt gefahren und auf das Haus zugerollt. Als sie dann zum zweiten Mal in den Hof sah, war er bereits außer Kontrolle und die Sense steckte in der Scheibe.
Offensichtlich hatte Kobra etwas gefunden, denn er eilte in den Laden zurück und teilte den Anwesenden seine Entdeckung mit: “Ich habe soeben einen Glassplitter gefunden, vermutlich stammt er von der Scheibe. Der Fundort deutet darauf hin, dass der Täter nur in Richtung des Hauses verschwunden sein kann, wäre er in eine andere Richtung geflüchtet, hätte er zu lange gebraucht, man hätte ihn entdeckt.“ Nach dieser Schlussfolgerung fuhr er sich erst einmal durch die Haare und begann neuerlich zu grübeln. “Das heißt, der Täter befindet sich noch hier auf dem Hof und somit unter den Anwesenden. Sie, Frau Braun, scheiden eigentlich aus, denn ihr Fehlen wäre auf jeden Fall bemerkt worden. Ich nehme einmal an, sie war die ganze Zeit hinter der Theke?“, wandte er sich an die fünf umstehenden Kunden, welche seine Annahme mit einem stummen Kopfnicken bestätigten. “Nun gut“, fuhr er fort, “dann haben wir ja unsere Verdächtigen, nämlich sie.“ Er deutete auf jeden einzelnen der Kunden. Erschrocken starrten sie ihn an und zwei setzten zu einem “Unerhört“ an, wurden jedoch von einem lauten Rumpeln unterbrochen.
Der Kommissar drehte sich um und wollte soeben seinen Assistenten Fritz anfauchen, was er denn nun wieder angestellt habe, als dieser den Kopf zur Beifahrertüre herausstreckte und sich erkundigte: “Haben Sie das gehört, Kobra?“ Verdutzt antwortete er: “Ja, aber wir waren das nicht.“
“Wer war es dann?“, hakte Fritz nach. “Die Fragen stelle hier immer noch ich, Fritz, und jetzt kümmern Sie sich lieber um das Auto und den Sensenmann neben Ihnen!“, entgegnete Kobra schnippisch und wandte sich nochmals den anderen im Raum zu. Erneut war ein lautes Rumpeln zu hören und Fritz Wagner sprang vom Beifahrersitz. “Das kam nicht aus dem Erdgeschoß, sondern von oben“, stellte Kobra fest, “los Fritz, sehen Sie nach wer sich da herumtreibt.“
Der Assistent zögerte keine Sekunde und zog seine Pistole. Er verließ den Laden und betrat den Wohnbereich. Vorsichtig erklomm er die Stufen der alten Holztreppe, gefolgt von den Blicken Kobras. Oben verschwand er durch die Türe und man hörte nur noch das leise Tappen seiner Schuhe.
Alle lauschten gespannt und schreckten zusammen, als Fritz oben rief: “Bleiben Sie stehen und die Hände hoch, ich will Ihre Hände sehen.“ Eine kindlich-weinerliche Stimme antwortete: “Bitte nicht schießen, bitte, sehen Sie, hier meine Hände.“ Im gleichen Moment als die Stimme verklang stieß Frau Braun aufgebracht hervor: “Herr Kommissar, das ist mein Sohn, bitte, er hat nichts damit zu tun. Ich weiß nicht einmal wieso er überhaupt hier ist, er sollte eigentlich bei seiner Betreuerin in der Stadt sein.“ Kobra nahm es zur Kenntnis und rief nach oben, dass Fritz mit dem Jungen nach unten kommen sollte. Als die beiden dann die Treppe herunterkamen, erschrak Kobra, denn wie fälschlicherweise angenommen, handelte es sich nicht um ein Kind, dass in Begleitung Wagners die Treppe herunter kam, sondern um einen ausgewachsenen Mann. Frau Braun hatte die Verwirrung des Beamten bemerkt und erklärte: “Er hat Infantilismus, das heißt, körperlich ist er 32, geistig doch auf dem Niveau eines sieben jährigen Kindes zurückgeblieben.“
“Das wusste ich nicht, danke für die Erklärung“, merkte er an.
Mittlerweile waren die beiden unten angekommen, er wies Fritz an, sich erneut oben umzusehen. Dieser verstand die Mimik des Kommissars sofort und ging wieder nach oben, während er die Waffe im Halfter verschwinden ließ. Kobra misstraute der Situation und vermutete mehr hinter dem plötzlichen Auftauchen des Jungen. “Wie heißt du denn?“, richtete er seine Frage direkt an ihn und mustere sein Gegenüber währenddessen genau. “Ich heiße Tobi“, entgegnete der Junge, “und bin schon sieben.“ Als er sein Alter nannte, streckte er beide Hände nach oben und zeigte sieben Finger. Das kindliche Verhalten ignorierend machte Kobra mit der Befragung weiter: “Und wieso bist du nicht bei deiner Betreuerin, sondern hier?“
“Sie hat gesagt, dass sie viel zu tun hat und ich heimgehen soll“, bekam er als Antwort. Mit einem leise gebrummten “Hm“, fing er an zu grübeln und zupfte an seinem Bart herum. Als er eine weitere Frage stellen wollte, kam Fritz die Stufen ins Erdgeschoß herunter gepoltert, in der Hand hielt er einen zerknitterten Zettel mit einer Nachricht darauf. “Das lag im Mülleimer des Jungen“, erklärte er etwas außer Atem. “Was steht darauf?“, wollte Kobra wissen. “Nur ‘Blauer VW Passat‘ in einer sehr kindlichen Handschrift“, sagte Fritz. Der Kommissar drehte sich mit strengem Ausdruck zu Tobi um und wollte von dem Jungen wissen: “Tobi, warst du das, der den Zettel geschrieben hat?“ Dieser schüttelte sofort den Kopf, seine Mutter legte schützend den Arm um ihn und fuhr den Kommissar empört an: “Er kann doch nicht einmal schreiben, was erlauben Sie sich?“
“Es tut mir leid Frau Braun, aber ich muss jeder Spur nachgehen“, entschuldigte er sich und fuhr dann fort, „Also Tobi, weißt du woher dieser Zettel kommt?“
“Nein, ich weiß es nicht“, er klang nun erneut weinerlich. Der Kommissar atmete laut aus. Ihm kam die ganze Situation noch immer komisch vor und er wurde das Gefühl nicht los, dass der Junge etwas mit dem Mord zu tun hatte. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und ging in Gedanken noch einmal alles durch was er wusste. Seine Aufmerksamkeit auf dem Wagen ruhend, erkundigte er sich bei seinem Assistenten: “Im Wagen ist dir nichts Sonderbares aufgefallen, oder?“
“Nein, gar nichts, bis auf den fehlenden linken Scheibenwischer, aber der kann ja bei einem Modell dieses Alters überall abhandengekommen sein“, meinte Fritz. Kobra nickte bestätigend und hielt dann plötzlich inne. “Es sei denn“, begann er, langsam begreifend, “der Scheibenwischer ist mutwillig entfernt worden.“ Er nahm Fritz beiseite und flüsterte leise: “Ich denke es war Tobi, der Kerl ist nicht so unschuldig wie er tut. Irgendetwas verschweigt er uns. Kleine Kinder verstecken geheime Dinge doch oft unter ihrer Matratze, vielleicht sollten wir dort nachsehen.“
Sofort eilte der kleinere Mann los und spurtete die Treppe nach oben. Alle Anwesenden sahen den Kommissar gespannt an, der süffisant lächelnd verkündete, dass sie den Fall vielleicht gleich geklärt hätten.
Aus dem ersten Stock war ein leises Poltern zu hören, dann hektische Schritte und schon kamen die Schuhspitzen Wagners auf der Treppe in Sicht. Schnell lief er hinab ins Erdgeschoß und kam vor Kobra zum Stehen. Unter seinem Arm zog er grinsend den fehlenden Scheibenwischer hervor und reichte ihn dem Kommissar. Dieser inspizierte ihn genau und lief zu dem Fahrzeug um ihn an die Bruchstelle zu halten. Die beiden Teile fügten sich perfekt zusammen und ließen keinen Zweifel, dass der Wischer abgebrochen worden war. Jetzt wo sich der Verdacht erhärtete, dass Tobi der Täter war, nahm Kommissar Kobra kein Blatt mehr vor den Mund. Laut fuhr er den Jungen an: “Du warst das. Aber wieso? Was hat dir dieser junge Mann getan?“ Überfordert von der Situation fing Tobi an zu weinen und Tränen rannen ihm über die Wangen. Nach einigen Augenblicken, in denen der Kommissar nicht so recht wusste was er tun sollte, hörte er auf zu weinen und ein merkwürdiger Ausdruck trat auf das Gesicht des Jungen. “Er hat mich jeden Tag gehänselt, jedes Mal wenn ich auf dem Weg zu meiner Betreuerin war, hat er mir aufgelauert und mich geärgert“, lenkte der Junge mit deutlich tieferer und erwachsenerer Stimme ein. “Jetzt spreche ich aber gerade nicht mehr mit Tobi, oder?“, stellte Kobra fest, dem allmählich ein Licht aufgegangen war. “Oh nein, Tobi braucht Ruhe, ihm ist das einfach zu viel geworden. Ich heiße Marco“, erwiderte sein Gegenüber. “Hallo Marco“, sagte der Kommissar zu dem Jungen mit der gespaltenen Persönlichkeit, “trotzdem müssen wir dich jetzt mit aufs Revier nehmen. Frau Braun, lassen Sie bitte Ihren Sohn los. Sie fahren natürlich mit uns um die Aufsichtsplicht für Ihren Sohn zu gewährleisten.“ Verwirrt und ängstlich nahm die alte Frau den Arm von ihrem Sohn und Fritz legte ihm Handschellen an. Widerstandlos ließ er sich abführen. Kommissar Kobra und sein Assistent Fritz Wagner fuhren mit dem ungewöhnlichen Mörder und seiner Mutter davon.