Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Mit einem lauten Seufzer ließ sich Han auf einen verwitterten Gartenstuhl fallen und schaute sich in der Abenddämmerung um. „Na?“
„Mir ist nicht wohl“, murmelte Carmen, die es sich auf der anderen Seite vom Balkon gemütlich gemacht hatte und auf die verwaiste Stadt herunterstarrte. Auf einer ehemaligen Kreuzung hatte sich ein kleiner Weiher gebildet, der Wind trug Grillenzirpen zu ihnen. Das Hinterrad eines rostenden Fahrrads ragte zwischen einigen Haselstauden und einen Stopp-Schild aus der Wasseroberfläche. Nach kurzem Schweigen ergänzte sie: „Zu viele dunkle Ecken.“
„Hm“, brummte Han desinteressiert. „Wo will man sonst hin? Ist ja nicht so, als hätten wir Optionen, seit auf dem Land der Proviant ausgegangen ist. Du bist bloß unnötig skeptisch.“
„Ich weiß, ich weiß“, stöhnte sie und fuhr sich mit der Hand durchs strähnige Haar. „Aber wenn ich an die U-Bahn denke … unzählige Tunnel.“
„Hast du es gesehen oder herausgefunden, wo es lebt?“, erwiderte er demonstrativ gelassen, erhob sich und lehnte sich an ein rostiges Gitter.
„Natürlich nicht.“ Carmen schüttelte den Kopf, niemand hatte es je zu Gesicht bekommen. Es, was es auch war, holte sich seine Opfer mitten in der Nacht und hatte im Laufe der letzten Jahre keine Zeugen zurückgelassen, bis kaum jemand übrig war. „Trotzdem … in der Stadt gibt es reichlich Verstecke, Tunnel, Nischen, Garagen …“
Er unterbrach seine Weggefährtin und hob einen moosigen Bierdeckel auf, den er in den Abgrund unter ihnen schleuderte. „Wir sind zehn Stockwerke weit oben. Sei unbesorgt.“
„Das waren die Menschen, die hier gelebt haben, ebenfalls“, wandte Carmen ein. „Und wieso hast du das getan? Das könnte Lärm machen!“
„In meiner Nähe herrscht striktes Bierdeckelverbot“, scherzte Han und setzte sich wieder. „Wenn es uns holt, ist unsere Zeit gekommen, das war schon immer so. Gegen das Schicksal sind wir machtlos, können lediglich das Beste aus der Situation herausholen. Erinnerst du dich an Maria?“
„Du meinst Maria aus dem Dorf, die ihre Kefen und Brokkoli-Sprossen aus dem Garten gegen Munition getauscht hat?“
„Genau die. War nachts nie draußen, hat sich eingesperrt und dann war sie eines Morgens plötzlich weg. Puff, verschwunden. Wenn es für uns kommt, kommt es für uns. Wände, Bunker, alles sinnlos.“
Carmen verdrehte die Augen, hatte sich mit der fatalistischen Art ihres Partners abgefunden und wechselte das Thema: „Ich hoffe, ich sehe es, wenn es für mich kommt. Ich möchte nach all den Jahren wissen, was es ist, das mich holt. Ist das zu viel verlangt?“
Han streckte sich wohlig und meinte nonchalant: „Sei vorsichtig, was du dir wünschst, es könnte eine ganze Menge Leid mit sich bringen. Ich hoffe, wenn ich an der Reihe bin, geht es so schnell, dass ich es weder kommen sehe noch spüre.“
Da sie den Rest des Abends mit positiven Gedanken verbringen wollte, ignorierte sie seinen Einwand und deutete vor ihre Füße: „Du, liegt es an mir oder ist der Balkon ziemlich schief?“
„Bin ich ein Statiker, der stets ein Senkblei in der Tasche hat?“, lachte Han, woraufhin Carmen die Nase krauste und laut überlegte: „Bräuchtest du dafür nicht eher eine Wasserwage? Na ja, egal, solange es hält. Das wäre ja echt peinlich, würden wir in dieser Scheißwelt wegen einem einstürzenden Haus sterben.“
Da ihr Gefährte nur mit den Schultern zuckte, schloss wortlos die Lider und gähnte.
Carmen konnte das Geräusch, das sie weckte, unmöglich beschreiben. Es war tief, gespenstisch und unnatürlich, es jagte ihr Schauer den Rücken hinunter, bevor sie überhaupt begriff, wo sie war.
„Shit, es kommt!“ Han war bereits aufgesprungen, suchte den vom Mond beleuchteten Balkon ab und rannte schließlich in das zerfallende Wohnzimmer. Nun alleine draußen, versuchte Carmen sich zu orientieren. Der sichelförmige Trabant brachte die Dächer der Wohnblocks zum Erstrahlen, doch weiter unten dehnte sich absolute Schwärze aus. Und mit einem Mal entdeckte sie, wie sich die Schwärze den Gebäuden entlang hochfraß, außen wie innen, sie breitete sich aus, kroch auf sie zu. Gebannt verharrte sie, beobachtete das … das materielose Ding, während Han drinnen unterdrückt fluchte. Sie wollte es kommen sehen, wissen, ja, verstehen, was es war, dieses Wesen, das sich den Großteil der Menschheit geholt hatte. Ihr Magen verkrampfte sich, ihr Puls raste, sie bildete sich ein, das Adrenalin regelrecht durch ihre Adern pumpen zu fühlen. Entgegen all ihren Instinkten zwang sie sich, ruhig durchzuatmen. Es hatte das Stockwerk unter ihrem erreicht, wirkte wie ein schwarzer Schemen, Nebel, überall und undefinierbar. Da empfand Carmen unerwartete Enttäuschung. Das war es also, das Ende und die Antworten auf ihre Fragen blieben aus. Das Universum hatte ihr längst alles genommen und erfüllte ihr jetzt nicht einmal diesen einen Wunsch. Es war einfach ungerecht! Die Schwärze drang ins Wohnzimmer und verschlang den panisch schreienden Han. Danach verstummte er für immer. Carmen stand weiterhin da, die Hände auf dem Geländer, als die Wolke sie umgab, das Mondlicht verschluckte, bis nur scheinbar noch sie, der Balkon und das Ding existierten.
„Zeig dich, du vermaledeiter Feigling!“, brüllte sie frustriert. „Zeig mir wenigstens, was du bist, das habe ich verdient!“
Ein gleißend heller Riss, oder war es ein Mund, öffnete sich, bot Carmen die Aussicht auf das, was unter der Oberfläche lag, was Unendlichkeit bedeutete. Sie japste nach Luft, glaubte zu ersticken und verlor ihren Anker zur Realität. Es dauerte eine Ewigkeit, dennoch war es nach einem Wimpernschlag schon vorbei. Genauso abrupt, wie es erschienen war, erlosch das Licht wieder, der Schatten zog sich zurück, glitt langsam in die Tiefe.
Sie hatte sich getäuscht, sich gewünscht, was niemand sich wünschen sollte. Die Wahrheit war für einen Menschen nicht zu verarbeiten. Sie hatte in eine endlose Dimension aus Grauen geblickt, war dem Wahnsinn verfallen. Weinend, keuchend und zitternd kniete die letzte Überlebende in der Stadt auf dem Balkon und wünschte sich inständig, alles, was sie hatte sehen wollen, ungesehen zu machen.