Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Gespalten, aufgeplatzt, zerrissen, aufgegangen wie die Blütenblätter einer Amaryllis. Die Zeit spielt Streiche, verlangsamt sich bis zum Stillstand, verharrt, nimmt Anlauf und beginnt schlussendlich einen rasenden Wettlauf mit sich selbst.
Das Pfeifen in meinen Ohren klingt ab, das dumpfe Pochen verschwindet, Rubéns Schreie werden realer. Franco liegt neben mir, die Arme vor sein Gesicht gepresst murmelt er frenetisch ein Gebet und ich begreife: Es reicht nicht. Ich muss handeln! Meine Beine wollen nachgeben, doch ich zwinge sie, mein Gewicht zu tragen. Ich habe keine Ahnung, was mit mir geschieht, es kommt mir so vor, als fiele ein Großteil meines Geistes in einen tiefen Schlaf. Jemand hat die Maschinen heruntergefahren, die Notbeleuchtung eingeschaltet und alles, all meine Bewegungen, laufen automatisch, ohne mein Zutun.
Ich taste nach der Hand meiner Mutter. Sie trägt ihren breitkrempigen Strohhut, singt berührt eine Hymne und reicht mir ein fruchtiges Bonbon. Zweimal schlafen bis ich fünf werde und zum ersten Mal mit dem Riesenrad fahren und Zuckerwatte essen darf.
„Franco, gib mir deine Jacke“, höre ich mich rufen. Irgendwo auf diesem Weizenfeld, da knie ich neben Rubén, berühre ihn erst zaghaft, dann entschlossen, suche verzweifelt nach seinem Puls. Eine sinnlose Handlung, der rhythmische Blutschwall, welcher aus seinen Beinarterien pumpt, verrät mehr als deutlich, dass das Herz meines Freundes noch schlägt. „Franco.“ Dieser reagiert ebenso wenig wie Rubén, der in Ohnmacht gefallen ist. Mein Atem wird flach, panisch. Vor wenigen Minuten haben wir uns über die Belanglosigkeiten des Alltags ausgetauscht; was es zu Mittag gab, wer beim Fußballtraining gut war, was wir am Wochenende unternehmen wollen. Einen Besuch bei Florence wollten wir machen, ihr Wildblumen und Federn bringen, weil sie trotz ihrer Blindheit Farben so liebt. Aber unser Bild von dem, was wichtig ist, hatte sich schlagartig verzerrt.
Ich rieche Großmutters Kuchen. Sie hat ihre Perücke ab- und ihre Schürze angelegt, pfeift ein friedliches Lied und schneidet das Gebäck in Stücke. Morgen ist Schule und die Lehrerin wird böse mit mir sein, weil ich meine Hausaufgaben nicht gelöst habe.
„Franco, deine Jacke!“, versuche ich es erneut und mein Drängen zeigt Wirkung, er löst sich aus seiner Starre, kriecht über die aufgebrochene Erde, macht Halt und friert sogleich wieder ein, direkt vor einem Klumpen Fleisch, einem Klumpen Rubéns. Meine Muskeln übernehmen die Kontrolle, ziehen mich hoch, hin zu Franco und ich befreie ihn unsanft aus seiner Kleidung. Er sieht zu Rubén, mit dem leeren Gesichtsausdruck einer Moräne gafft er dorthin, wo dessen Waden sein sollten. Ich halte die Trainerjacke in Händen und lasse von meinem unnützen Kollegen ab, wende mich dem anderen zu. Wie in Trance presse ich den Stoff auf das blutige Chaos, bemühe mich, großflächig Druck auf die zerfleischten Stellen zu bringen. Vergeblich. Ich kämpfe gegen Windmühlen, schießt es mir durch den Kopf, selbst wenn ich mich mit meinem ganzen Körper auf Rubéns Unterleib legte, fände das Blut seinen Weg.
Ich schmecke Honig in Marias Küssen. Sie hat sich an meine Schulter gelehnt, folgt dem Film und spricht die Stellen, die sie gut kennt, leise mit. Wir kennen uns seit der ersten Klasse und bald, ja, bald, werde ich sie heiraten, für immer an ihrer Seite bleibe.
„Hilfe“, krächzte ich viel zu leise. „Hilfe.“ Einige Kordillerenzeisige flattern auf, ein Habicht schlägt unerwartet einen Haken in seinem Gleitflug. „Hilfe!“, brülle ich schließlich kraftvoll und weise Franco an: „Reiß dein T-Shirt in Streifen!“ Er gehorcht, Gott sei Dank, reicht mir Fetzten um Fetzen, die ich sorgsam zu einer Schlinge verknote. „Wir müssen die …“ Ich habe keine Zeit zum Zögern, schelte ich mich gedanklich, also bringe ich das Wort über die Lippen: „Beine abbinden.“ Da sind keine, nur zersplitterte, fragmentierte Reste vermischt mit zerschundenen Gewebefetzen, eine Kloake aus verbranntem Mensch; meinem Freund Rubén. Ich vernehme ein saftiges Geräusch, als ich ihn zu mir hindrehe und greife ohne Scheu unter seinem Leib hindurch, um die improvisierte Aderpresse anzubringen.
Ich höre eine Symphonie an Marias Hochzeit. Sie hat sie Mozart gewünscht und einen anderen Mann. Ich weiß nicht, weshalb ich hergekommen bin, vielleicht wollte ich unsere Verbindung feiern, denn wir werden diesen Tag, ihr glücklichster und mein unglücklichster, auf ewig teilen.
Franco heult, hilft mir allerdings klaglos, die Blutung zu stoppen. Ich nehme kaum wahr, dass ich unentwegt auf meinen bewusstlosen Kumpel einrede, ihm verbiete, aufzugeben. In dem Moment als Rubén auf die Landmine trat, ist die Zeit für uns stehengeblieben. „Bleib bei uns, Rubén, hörst du mich? Bleib bei uns!“ Jede Sekunde scheint unendlich anzuhalten und wenn sie vorbei ist, sehne ich sie mir zurück. „Es hat aufgehört“, flüstert Franco zwischen zwei Schluchzern. Ich halte inne. Tatsächlich, der Blutfluss ist abgeebbt. Das ist gut, oder? Das muss gut sein, denke ich aufgeregt, während ich zu Rubéns Kopf krieche, ihn auf meinen Schoß ziehe. „Das ist gut, das muss gut sein!“, sage ich nun laut und läute damit Francos Hilfeschreie ein. „Hilfe! Wir brauchen Hilfe!“
Ich sehe meine besten Freunde. Sie rennen neben mir über das Feld, jagen den Ball sowie ihre Jugend. Heute ist beinahe so wundervoll wie gestern, ich sprühe vor Optimismus und Freude. Später wollen wir Florence besuchen, ihr Blumen und Gesellschaft schenken.
Es ist mir unmöglich zu erraten, wie lange wir schon gewartet haben. Endlich kommen Leute über das Weizenfeld gelaufen. Eine Frau im sonnengelben Trägertop bleibt auf halber Strecke stehen, bedeutet einer anderen etwas, bevor sie kehrt macht; vermutlich will sie ins Dorf zum einzigen Telefon, um den Arzt in der Stadt zu informieren, zumindest hoffe ich das. „Hierher!“, kreischt Franco und ich werde ruhig, beobachte, wie sich Rubéns Brust kaum merklich hebt und senkt, gebe Acht, keinen seiner Atemzüge zu verpassen. Zuerst trifft der Sohn des Bauers ein, danach sein Vater mit der Schwester. Sie sinken neben uns nieder, die Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben, doch mich kümmert sie nicht. „Bleib bei uns, Rubén, bleib bei uns.“
Ich ertaste, rieche, schmecke, höre und sehe mein Leben, Glück wie Leid. Die Zeit läuft so schnell, dass all die Jahre verschwimmen, dennoch erkenne ich jeden Augenblick klar, als sähe ich einen ungeschnittenen Film. Jemand ruft meinen Namen, fleht mich an zu bleiben, aber plötzlich blendet mich ein gleißendes Licht und ich verstehe; ich werde sterben. Den Himmel begrüßend, falle ich ins ewige Nichts.