Lara bemühte sich ihre juckende Uniform zu ignorieren und musterte die dunkle Stadt, die unter einer dichten Hochnebeldecke lag. Von ihrem Posten im Museumseingang an der Rückseite des Gebäudes hatte sie eine gute Aussicht auf den Verkehr. Sie konnte die Tramlinie Drei und die Buslinie Fünfundzwanzig kreuzen sehen sowie all die Menschen, die durch die Haltestelle wuselten. Seit Lara vor einem halben Jahr den Job als Wächterin beim Kunstmuseum angetreten war, hatte sie keine Existenzangst mehr. Ja, sie war dankbar dafür, trotzdem war es nicht zu leugnen, dass der Job sie langweilte. Das Bedrohlichste an ihrem Tag waren die Gespräche mit dem Museumsdirektor, der einmal zu oft ihre rotgefärbten Haare angesprochen hatte, um nicht anzüglich zu wirken. Da war noch ihr abenteuerlicher Einsatz mit dem Fünfjährigen, der mit einem verbotenen Eis durchs Museum getingelt war und den sie mit viel Quengelei seinerseits, und vor allem seitens der Mutter, in die Cafeteria abgeführt hatte. Raubüberfälle wie in Hollywood-Filmen, mit Laser-Grids und Dieben, die sich von der Decke abseilten und für Unterhaltung sorgten, kamen keine vor.
Der Herbststurm fegte Ahornblätter in den Eingangsbereich und es knirschte, als sie mit ihrem Uniformstiefel auf eine Petiole trat. Die Tür hinter ihr ging auf, der Museumsdirektor kam mit einem Mäppchen unter dem Arm heraus und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Hey, Lara, wir schließen gleich. Bald kannst du rein, da ist es gemütlicher. Ich muss leider schon nach Hause, sonst hätte ich dich auf einen Kaffee eingeladen.“ Zwinkernd verabschiedete er sich, rannte durch den Sturm auf seinen Wagen zu und Lara unterdrückte ein Lachen, als ihm nach wenigen Metern eine Böe die Mappe weggewehte. Sie konnte den Schleimbeutel nicht leiden, war bereits unzähligen Avancen des verheirateten Vaters ausgewichen. Zum Glück bekam sie ihn nicht oft zu Gesicht, aber wenn musste sie sich beherrschen, ihm nicht die Faust in die Magengegend zu donnern.
Die Nachwächterin steckte eine Zigarette an. Zwar war Rauchen gegen die Vorschrift, allerdings kam eh niemand zum Seiteneingang raus. Das Museum hatte vor einer Minute geschlossen, ihre Kollegen begleiteten wohl gerade die letzten Besucher durch den Haupteingang auf die Straße. Die RGB-Beleuchtung an der Bar gegenüber hatte eben von Rot auf Orange gewechselt, der Schriftzug spiegelte sich in einer Pfütze und Lara hätte sich jetzt auf ein Bier in der Kneipe gefreut. Gedankenverloren beobachtete sie das Treiben der nachhause marschierenden Pendler, als unerwartet die Tür aufgestoßen wurde. Sie ließ die Kippe fallen und drehte sich um, in der Hoffnung, ihr Glimmstängel bliebe unentdeckt. Statt von einem Mitarbeiter gerügt zu werden, sprintete jemand an ihr vorbei. Ein Mann im Trenchcoat hastete die Stufen hinunter, rutschte auf den Ahornblättern aus und klatschte der Länge nach auf den Asphalt, dabei segelte ihm ein mittelgroßer Bilderrahmen davon. Geistesgegenwärtig schaffte Lara es, den Rahmen aufzufangen und starrte perplex auf den Picasso. Der Dieb rappelte sich derweil auf und humpelte von Dannen. Er überquerte die Tramgleise der Linie Drei, ohne nach links oder rechts zu sehen, ein verheerender Fehler. Noch bevor Lara begriff, was geschah, klingelte die Tramglocke und sie schaute zu, wie ein Straßenbahnwagen den Unbekannten rammte und er gepeinigt schreiend unter die Räder geriet. Die letzten Sekunden im Leben des Diebes brannten sich für immer in ihr Gedächtnis ein. Sogleich versuchten herbeieilende Passanten erste Hilfe zu leisten, gaben jedoch rasch auf, nachdem sie den Zustand des Leichnams als eindeutig katastrophal erkannten. Lara hielt wie eingefroren den Picasso, zitterte im Schock. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie in der Lage war sich abzuwenden, um das Bild wieder reinzubringen und die Polizei zu rufen. Als sie nach dem Schlüsselbund in ihrer Hosentasche kramte, stellte sie mit Schrecken fest, ihn verloren zu haben. „Scheiße“, fluchte sie leise. Ihr dämmerte, sie würde mit dem unfassbar wertvollen Bild einmal rund ums Haus gehen und vor dem verschlossenen Haupteingang auf ihre Kollegen warten müssen. Derweil erklangen Sirenen in der Ferne und wie durch einen Nebel hörte sie jemanden raunen: „Ich glaube, die Wächterin hat ihn geschubst.“ Lara drückte das unschätzbare Werk fest an ihre Brust, klammerte sich regelrecht daran. „Was hat die da? Ist das ein Bild?“ Sie hatte sich gewünscht, ihr Job wäre interessanter, dass etwas Spannendes passierte, nur das hatte sie damit sicher nicht gemeint.