Er ärgerte sich ein klein wenig darüber, dass sein Körper auf seichten Alternativrock reagiert hatte, als er das Wippen seines Fußes endlich bemerkt hatte und verdrehte kurz die Augen, bevor er einen weiteren Schluck seines Americanos trank. Leonardo wartete seit geschlagenen vierzig Minuten auf jemanden und hatte sich bisher die Zeit damit vertrieben, alte Ninja-Turtle Folgen auf seinem iPad anzusehen, doch das Ding hatte mittlerweile den Geist aufgegeben und einen einfachen Akkuwechsel konnte man von diesem Mistgerät natürlich nicht verlangen. Also hatte er sich einen weiteren Kaffee geholt und vergeblich versucht, das lakonisch dreinschauende Mädchen hinter dem Tresen in ein Gespräch zu verwickeln, bevor er sich mit einem Blaubeermuffin, welchen er nicht zu essen plante, wieder auf den abgewetzten Ledersessel fallen ließ. Natürlich war er etwas genervt, immerhin hätte er diesen Dienstagvormittag sinnvoller nutzen können, als hier herumzusitzen und darauf zu warten, dass irgendein Typ auftauchte, doch wenigstens fühlte er sich nicht ängstlich oder aufgeregt, so wie es ihm oft erging, wenn er sich in der Öffentlichkeit aufhielt. Man konnte über die wohlbekannte Starbucks–Ironie schmunzeln soviel man mochte, die Tatsache, dass jedes Lokal einheitlich gestaltet war und von denselben Pseudoindividualisten besucht wurde, vermittelte ein stetiges Gefühl von Heimat, egal wo man sich befand.
Weitere zehn Minuten waren verstrichen und es fiel Leonardo immer schwerer, nicht einfach seine Aktentasche zu greifen und sich auf den beschwerlichen Heimweg zu machen. Doch er kannte die Sitten der Familie, war er doch in ihren Kreisen aufgewachsen, und wusste, dass er geduldig bleiben musste, wenn er sie um solch einen Gefallen bitten wollte. Vermutlich wurde er just in diesem Augenblick von jemandem beobachtet und währendem er mit dem Fuß zu schrecklicher Musik wippend hier saß, wurde im Hintergrund darüber diskutiert, ob seinem Vorschlag zugestimmt werden sollte.
Mehr, weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte und nicht aus Unsicherheit darüber, ob er an alles gedacht hatte, kramte er seine Papiere hervor und sah sich jedes einzelne Schriftstück nochmals genau durch. Er seufzte ausgiebig, als er wehmütig auf die Umsatzdiagramme starrte und fragte sich zum wiederholten Mal, wie er so blind hatte sein können. Es war seit langem klar gewesen, dass seine Karriere als Fotograf nie ins Rollen kommen würde und es hatte nicht an Leuten gemangelt, die ihm das deutlich vorgehalten hatten. Seine Kollegen, ja selbst seine Frau, die immer hinter ihm gestanden war, hatten ihn gewarnt. Doch er wollte es einfach nicht wahrhaben und war weiter seinem Traum nachgejagt, selbst dann noch, als ihn Maria für einen anderen Mann mit einem richtigen Job verlassen hatte. Doch irgendwann, als die Rechnungen sich stapelten und sein Equipment gepfändet worden war, hatte selbst Leonardo es einsehen müssen und nachdem die ersten Depressionen verflogen waren, hatte er das Telefon in die Hand genommen und sich dazu entschlossen, sein längst vergessenes Leben wieder aufzunehmen.
Es war gefährlich, das war ihm absolut bewusst, doch was hätte er denn sonst tun sollen? Vor nun über zehn Jahren hatten ihn die Agenten in einem lächerlich auffälligen Van aus der Stadt gefahren, ihm einen neuen Pass in die Hand gedrückt und ihn am Gate ein letztes Mal eindringlich genau davor gewarnt, was er jetzt gerade im Begriff war zu tun. Es war wirklich schwierig gewesen den richtigen Kontakt zu finden, was ihn nicht erstaunt hatte, denn die Familie war schon immer auf Diskretion bedacht gewesen. Natürlich hatte jeder, vom Polizeichef bis zum letzten Kleinkind im Viertel, gewusst, wer sie waren und was sie taten, doch hatte man sie bisher noch nie dafür belangen können. Nicht einmal Leonardos Geständnis und all das Insiderwissen, welches er gegen seine Freilassung eingetauscht hatte, konnten daran etwas ändern.
Er war nun bei der letzten Seite seines Dossiers angekommen, einer Kopie seines alten Ausweises komplett mit Sozialversicherungsnummer und unvorteilhaftem Passbild. Doch ehe er sich beim Anblick seines ehemaligen Nachnamens hätte darüber aufregen können, was für ein unheimlicher Holzkopf er doch gewesen war, und drauf und dran war wieder zu werden, wurde er auf die Blicke einer jungen Frau aufmerksam.
Sie saß in der rechten Ecke eines Sofas und fixierte ihn unverhohlen mit tiefblauen Augen, die durch das Violett ihrer Bluse zu leuchten schienen. „Kann ich ihnen helfen?“, erkundigte er sich leicht irritiert und klang dabei schüchterner als er gewollt hatte. Die Angesprochene reagierte erst nicht und verharrte in ihrer unbequem wirkenden Position, so dass Leonardo davon ausging, dass sie ihn nicht gehört haben musste, doch gerade als er seine Frage wiederholen wollte, beugte sie sich etwas in seine Richtung und flüsterte: „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Natürlich hatte er ihre Bitte freundlich abgelehnt, denn auch wenn er sich gerne mit der hübschen Lady unterhalten hätte, so hatte er doch weitaus wichtigere Pläne und wollte die Gefahr nicht eingehen, den Mittelsmann mit der Anwesenheit einer Drittperson zu verärgern. Doch anstelle davon, sich wieder hinter ihren stark gesüßten Soja-Latte zu setzen, winkte sie seine Worte mit einer beiläufigen Geste ab, ließ sich auf den Hocker vor ihm fallen und erklärte ruhig, dass sie diejenige war, auf welche er schon seit geraumer Zeit gewartet hatte. Leonardo räusperte sich erschrocken und entschuldigte sich etwas zu oft bei seinem Gegenüber, bevor er mit zitternden Fingern seine Papiere auf dem warmbraunen Holztisch herumschob. Es war ihm unheimlich unangenehm, dass er ohne zu überlegen von einer männlichen Kontaktperson ausgegangen war und schämte sich dafür, dass das Echo seines sexistischen Vaters noch immer in ihm wiederzuhallen schien. Ihr schien das Ganze jedoch nichts auszumachen und sie nickte seine Entschuldigungen nur desinteressiert ab, bevor sie einen Bissen von seinem Muffin nahm und das Gesicht etwas verzog. „Ugh!“, stieß sie angewidert aus und spuckte das halb zerkaute Gebäck in eine Serviette. „Da esse ich ja lieber ein Pellet Pferdefutter.“
Die Unterredung war trotz den anfänglichen Schwierigkeiten erstaunlich gut verlaufen, dachte sich Leonardo und war froh darüber, dass die Familie Leonie zu ihm geschickt hatte und nicht einen ihrer Schläger, so wie es früher einmal üblich gewesen war. Sie hatte ihm erst ausdruckslos zugehört und nicht ein Wort gesprochen, was ihn ein wenig beunruhigt hatte, doch immerhin schien sie seinen Vorschlag in Betracht zu ziehen. Irgendwann aber, gerade als er die Liste, mit den Namen aller am Zeugenschutzprogramm beteiligten Agenten hervorgekramt hatte, legte sie ihre zierliche Hand auf die seine und sagte: „Gut, ich glaube wir kommen ins Geschäft.“ Leonardo lächelte erfreut und obwohl noch viele Fragen offen waren, bedankte er sich überschwänglich bei der jungen Mafiosa. „Schon gut“, sagte sie dann und erhob sich um zwei weitere Kaffees zu holen, um das Geschäft mit Koffein statt Alkohol zu begießen.
Kurze Zeit später stellte sie einen großen Kaffeebecher mit Sojamilch vor ihm auf den klebrigen Tisch und nach dem ersten Schlucken überlegte er kurz, ob er aufstehen und sich etwas Karamellsirup holen sollte, um das Gesöff erträglicher zu machen, entschied sich aber aus Höflichkeit dagegen.
Sie schlürften einige Zeit schweigsam, bis Leonardos Neugier ihn schließlich übermannte und er fragte: „Es hat sich vieles geändert seit ich weggegangen bin, nicht wahr?“ Leonie blickte nicht von ihrer Tasse auf und schien intensiv nachzudenken, bevor sie leise murmelnd verneinte und etwas aus der Tasche ihres Blazers zog.
Die kleine Ampulle war leer und unbeschriftet, doch Leonardo erkannte sie dennoch sofort, denn schon zu seiner Zeit hatte die Familie diese Methode gewählt um Leute loszuwerden, deren Ableben keine Fragen aufwerfen sollte. „Es hat sich nicht vieles verändert, aber…“, begann Leonie mit einem kaum erkennbaren Grinsen auf den rot geschminkten Lippen, „wir benutzen jetzt eine nichtnachweisbare Substanz, die zwar ein wenig streng schmeckt, aber dafür gibt es ja Sirup.“
Leonardo schluckte den Kloß in seinem Hals herunter und verkrampfte sich augenblicklich so sehr, dass er die beinahe leere Tasse fallen ließ. Sie hatten keinen Kontaktmann geschickt, sondern einen Cleaner und er hatte diesem gerade eben bereitwillig alle Informationen gegeben, auf die sie aus waren. Wie konnte er nur so dumm sein, fragte er sich, doch ehe er vollends in Panik geraten konnte, wurde seine Aufmerksamkeit auf Leonies lautes Husten gelenkt. Er hatte es vorhin nicht bemerkt, doch ihre Haut war aschfahl geworden und kleine Schweisströpfchen bildeten sich auf ihrer Stirn und Oberlippe, als sie ihn plötzlich verunsichert ansah.
Beide starrten sich mit geweiteten Augen an uns warteten darauf, dass ihr gemeinsamer Verdacht bestätigt wurde und als Leonie schlussendlich von heftigen Muskelkrämpfen geschüttelt wurde, packte Leonardo seine Unterlagen hastig zusammen.