Dies ist der 1. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Wissen ist Macht“.
„Und hier, liebe Freunde, sehen wir das Skelett eines Dinosauriers, eines sogenannten Parasaurolophus. Diese Spezies lebte vor …“
Ich hörte nicht mehr länger zu, denn auch wenn unser aalglatter und viel zu freundlicher Führer die Wahrheit erzählen mochte, ich konnte einem Mitglied vom Wissenskorps nicht trauen, nicht nach allem, was vorgefallen war. Die Welt war nicht mehr dieselbe, doch wo meine Geschichte begonnen hatte, spielt jetzt keine Rolle. Man kann sich jedoch die Frage erlauben, was man als Beginn sehen möchte, meine Geburt oder der Augenblick vor zwei Monaten, als ich zum ersten Mal in meinem Leben, im Alter von dreißig Jahren, in einem dunklen Keller ein Buch aufgeschlagen hatte. Während ich an diese zugleich unheil- und wundervolle Stunde zurückdachte, durchquerte unsere Gruppe einen langen Gang, um in die Halle der Menschheitsgeschichte zu gelangen. Ich hörte wieder mit halbem Ohr zu um nicht aufzufallen und versuchte mich daran zu erinnern, was ich gelesen hatte, versuchte Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Man durfte das Museum der Naturwissenschaften nur mit einer geführten Gruppe betreten und der Führer musste natürlich vom Wissenskorps stammen. Lange hatte ich die Männer und Frauen in ihren eleganten Anzügen mit ihren edel metallen glänzenden Abzeichen bewundert, sie waren für mich ein Symbol der Erkenntnis gewesen, ein Leuchtfeuer in einer ansonsten dunkeln Welt. Doch jetzt fiel mein Blick immer wieder auf seine Drosselrinne und ich wünschte, dass ich den Willen hätte, einmal fest zuzudrücken bis …
„Ada, kommen Sie …?“, rief der Führer freundlich und ich realisierte, dass ich vor dem Stammbaum der Regenten stehengeblieben war und die Ahnenreihen der Übermenschen mit einem etwas zu skeptischen Blick betrachtet hatte. Rasch wandte ich mich ab, lächelte dem Führer zu und schloss mich wieder der kleinen Gruppe an. Bloß nicht auffallen, jedenfalls nicht jetzt, denn noch war es nicht an der Zeit etwas zu tun.
„… und da sehen wir, dass unsere edlen Anführer von einer Linie abstammen, die direkt auf …“, fuhr der Herr vom Wissenskorps fort und ich blendete sein Gelaber möglichst rasch wieder aus, denn es war verdammt hart, nicht einen sarkastischen Kommentar vom Stapel zu lassen. Doch da Sarkasmus verboten war, ein Ideologieverbrechen der Stufe zwei, würde jemand in dem Raum, der wie alle Winkel unserer Stadt mit Kameras und Mikrofonen überwacht wurde, Alarm schlagen. Das durfte aber nicht geschehen, denn die Ideologieermittler waren hart und konnten einem viele Geheimnisse entlocken. Wir mussten vorgeben die perfekten Bürger zu sein, an unsere Anführer glauben und alles um ein Vielfaches besser tun, als es von uns verlangt wurde, denn unser Plan benötigte viel Zeit. Erst, wenn wir in den Schlüsselpositionen waren, die wir innehaben mussten, könnten wir zuschlagen, keine Minute zuvor. Das mochte noch Jahre dauern, doch ich hatte gelernt geduldig zu sein. Ich hatte nicht unbedingt eine einfache Wahl getroffen, denn ich würde mich in eine hohe Position im Wissenskorps hocharbeiten müssen, doch mit allem, was ich mittlerweile wusste, konnte ich nicht mehr anders, als diese Organisation auf den Tod zu hassen.
Unsere Gruppe verließ die Halle der Halbwahrheiten, pardon, Menschheitsgeschichte und gelangte in einen überdachten Innenhof, um eine kurze Pause einzulegen, eine Tasse Kaffee zu trinken und das Gesehene mit dem Führer zu besprechen. Als wir den Platz überquerten und sich die Gruppe etwas verteilte, starrte ich auf das Kopfsteinpflaster und dachte an meine kleine Schwester, die jetzt auf der Insel war, weil sie zu viel gedacht und gesagt hatte. Diejenigen, die vom Erholungsjahr auf der Insel zurückkehrten, waren nicht mehr dieselben, doch sie alle lächelten. Denn Lächeln war alles, lächeln war die Essenz des Lebens und der Menschheit, wie jedes der großen Plakate verkündete, die an jeder Wand prangten: „Smile.“
„Lebwohl, Charlene“, dachte ich und musste mich wieder zusammennehmen, um es nicht leise vor mich hinzumurmeln. Doch das konnte, durfte unter keinen Umständen geschehen, denn ich wusste nicht, wo überall Wanzen und Kameras versteckt waren. Seit ich eines schönen Morgens beim Beziehen des Bettes an der Unterseite meines Bettgestells einen neuen, unauffälligen Hubbel entdeckt hatte, wurde mir bewusst, wie weit das Ohr des Staates reichte. Also lächelte ich weiter, tagein, tagaus, bis es an der Zeit sein würde, nicht mehr zu lächeln, sondern zu kämpfen. Bevor es aber so weit war musste ich perfekt sein, besser als diejenigen, die tatsächlich die gequirlte Scheiße glaubten, die ihnen Tag für Tag vorgesetzt wurde. Denn in nicht allzu ferner Zukunft wäre ich diejenige, die ihnen genau denselben Unsinn servieren musste, bis …
„Lovelace?“, flüsterte mir jemand ins Ohr und ich bekam sofort Gänsehaut; es war soweit. Ich hatte zwar gewusst, dass mich heute im Museum jemand mit meinem Codenamen ansprechen würde, doch ich hatte keine Ahnung gehabt, wer oder wann. Ich nickte kaum merklich und lächelte weiter, während ich mich halb dem Sprecher zuwandte. Der Platz war eine logische Wahl, denn hier, im offenen Raum wäre es schwieriger, unser Gespräch zu belauschen, was aber nicht bedeutete, dass wir nicht gesehen werden konnten. Als ich meinen Kontakt erkennen konnte, brauchte ich einen Augenblick, um mich wieder zu fassen, denn es war unser Führer, immerhin ein Vermittler des sechsten Levels vom Wissenskorps. „Sie …?“, flüsterte ich und er nickte, eine der wenigen unauffälligen Bewegungen, die man vor den Kameras tun konnte, bevor er entgegnete: „Ich bin Newton, freut mich.“ Unauffällig steckte er mir einen Holochip zu und fuhr fort: „Das sind die Musterantworten zu den Rekrutierungstests, damit sollten Sie sich rasch hocharbeiten können, wenn Sie sich etwas bemühen. Hier wird mehr auf die Einstellung als auf Fleiß geachtet.“
„Danke, ich …“, begann ich, doch er unterbrach mich. „Sie können heute Abend um zwanzig Uhr Galileo am Hafenkran treffen, er gibt Ihnen weitere Instruktionen.“
„Ich werde da sein“, entgegnete ich und steckte die Dokumente unter meine Jackentasche.
„Das Universum ist groß“, flüsterte Newton den Abschiedsgruß des Widerstandes, bevor er sich wieder mit seiner perfekten Stimme an die Gruppe wandte. Jeder musste seine Rolle spielen und lächeln, doch manchmal gab es sie, die Momente in denen auch ich ehrlich lächelte, weil nicht alles so war, wie es schien. Und da begann ich etwas zu begreifen, das ich zwar schon gewusst, doch noch nicht richtig verstanden hatte, jedenfalls nicht in jeder Dimension: Jeder halbwegs vernünftige Mensch, der noch übrig war, würde denselben Hass auf mich verspüren, den ich Newton entgegengebracht hatte, bevor er sich mir zu erkennen gegeben hatte. Nein, noch mehr, denn ich war ausgewählt worden, in die Führungsriege des Wissenskorps aufzusteigen. Ich würde Dinge tun müssen, für die ich mich selbst verabscheuen würde, Dinge, an die ich nicht einmal denken wollte, und zu alledem würde ich lächeln müssen wie eine wahre Gläubige, die sich durch nichts aus der Fassung bringen ließ. Ich würde Bücher verbrennen, Datenbanken umschreiben und Leuten über die großen Vorfahren unserer Regenten erzählen und mir graute vor dem Tag, an dem ich in dem Apartments eines anderen Widerständlers stehen würde, in voller Uniform, nur um den Befehl zu geben, alles zu vernichten und den Gedankenverbrecher zur Insel zu schicken. Der Weg, den ich gewählt hatte, kannte keine Vergebung, keine Reue und keine verfluchte Gnade, nur Planung und Kalkulation. Ich durfte mir keine Schwächen mehr erlauben, kein Mitleid, nichts dergleichen.
Doch ich war mir sicher, der Sturm würde kommen und ich würde ein Teil davon sein, wenn ich nur lange genug lebte und hart genug wurde. Wir schreiben das Jahr 2184 und Wissen ist die beste Waffe, die wir noch haben. Und manchmal, nur manchmal, auch noch etwas Semtex.