Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Das Theater war seit jeher Rorys einziger Traum gewesen, bereits in der Grundschule hatte er gewusst, dass seine Zukunft im Rampenlicht stattfinden musste.
„Guten Tag“, brummte Stewart in seinen lohen Bart und schob ihm eine leere Kaffeetasse über den Tisch zu.
„Lange Nacht?”, erkundigte sich Rory nicht minder griesgrämig, woraufhin ihn der andere aus geränderten Augen anfunkelte. Stewart war eine Karikatur eines drittklassigen Schauspielers. Seine teure Ausbildung hatte lediglich seiner Überheblichkeit, nicht aber seinem Talent genützt. Immerhin verzichtete er auf belanglosen Kaffeeklatsch. „Ist Ainsley schon da?“, fragte Rory und schenkte Stewart eine Tasse seiner Spezialmischung nach.
„Hrm“, kam die einsilbige Antwort, ehe Stewart zur Garderobentür deutete und lautstark einige Schlucke nahm.
„Cool, danke“, flötete Rory und klopfte ihm auf den Rücken. „Hals- und Beinbruch, Kumpel.“
„Hrum-kr.“ Stewart war in der Tat kein gesprächiger Kerl.
Ainsley saß neben Sheona auf dem Makeup-Pult und stopfte sich Schokolade in den noch ungeschminkten Mund. Die beiden unterhielten sich angeregt über die spätere Probe, diskutierten Anweisungen des Regisseurs und übten eine Stelle, mit der Ainsley ihre Mühe hatte.
„Ainsley“, machte sich Rory bemerkbar. „Hast du kurz Zeit?“ Die Angesprochene hielt in ihrer Bewegung inne, starrte ihn erst etwas irritiert an, bevor sich ein Ausdruck der Erkenntnis auf ihrem Gesicht ausbreitete.
„Klar. Treffen wir uns beim Vorhang?” Mit einer dezenten Geste in Sheonas Richtung bedeutete sie ihm, der Ankleideraum sei der falsche Ort für ihre Besprechung, also nickte er und marschierte auf die Bühne.
Die Dielen knarzten unter seinen Sohlen, die Schnalle an seinem Gürtel klimperte bei jedem Schritt leise, der Samt des Bühnenvorhangs zog an seiner Kleidung, als er ihn streifte. Für beinahe alle, von der Diva bis hin zum Hilfsbühnenarbeiter, war das hier die berühmte Ruhe vor dem Sturm, die letzten Stunden vor der Eröffnung, für Rory hingegen stürmte es seit Wochen.
„Da bin ich.“ Ainsley trug ihr kinnlanges Haar in zwei kleinen Zöpfen, die seitwärts abstanden. „Hast du es getan?“
„Ja“, gab Rory auf seiner Unterlippe kauend zurück. „Bist du sicher, das war die einzige Möglichkeit?“
„Meine Güte, Rory!“ Sie verwarf die Hände und schnaubte. „Es geht hier um deinen rechtmäßigen Platz, Rory. Zudem“, ihre Stimme wurde sanfter, „du hast es getan. Nutzlos, sich darüber Gedanken zu machen.“ Damit lag sie natürlich richtig, selbst wenn er es wirklich gewollt hätte, konnte er den teuflischen Plan, den sie zu ihrer beider Vorteil ausgeheckt hatten, nicht mehr aufhalten. „So, Schluss jetzt, ich will kein …“ Ainsley wurde von aufgeregten Rufen unterbrochen. Innert Sekunden brach backstage das absolute Chaos aus, einige der Nebenrollenschauspieler rannten mit ihren Handys am Ohr auf die Bühne, die Diva kreischte und Banon, Rorys bester Kumpel am Theater, rannte auf ihn zu.
„Es gibt ein Problem mit Stewart.“
Der Krankenwagen war noch nicht vom Gelände gefahren, da stand schon fest, die Show musste weitergehen und zwar mit Rory in der Hauptrolle. Sein schlechtes Gewissen hatte sich verflüchtigt, als er in der Maske zum Starprotagonisten des Abends verwandelt worden war. Nun versammelten sich alle auf der Bühne, um den Worten des Regisseurs zu lauschen.
„Fürwahr“, holte dieser grollend aus, „unser Spiel ist einer Tragödie zum Opfer gefallen!“ Raunen ging durch die Schauspielerreihen, hier und da drang unterdrücktes Schluchzen hervor. „So höret, meine lieben Gefährten in der Kunst, der Zorn der Götter soll unserer siegreichen Premiere nimmer …“ Rory blendete den von Pathos triefenden Spielleiter aus. Sicher, das Theater war sein Leben, seine Berufung, das schwülstige Geschwafel ging allerdings sogar ihm zu weit, insbesondere deshalb, weil ihm sehr wohl bewusst war, dass weder Götterzorn noch Schicksal, sondern kaltes Kalkül hinter Stewarts sinnbildlichem wie wörtlichem Fall steckte.
„Pst, Rory“, flüsterte Banon breit grinsend. „Schöne Scheiße für Stew, aber hey, ich gratuliere dir zum MacBe…“
„Aaah!“, brüllte der frisch gekrönte Hauptdarsteller und die gesamte Truppe gaffte ihn erschrocken an, als er fauchte: „Sei bloß still!“
Das war das vierte Mal gewesen, überlegte Rory zerknirscht. Das vierte Mal, dass Banon beinahe den unheilbringenden Titel des Bühnenspiels sagte. Er gab es nur ungern zu, die Tatsache ließ sich dennoch kaum leugnen: Banon war eine Gefahr!
Mit dem Vorwand, die Kulissen nochmals abzugehen, schlenderte er neben Ainsley durch die Szenerie des ersten Akts. Durch den geschlossenen Vorhang klang gedämpftes Gemurmel, welches das Eintreffen der Theaterbesucher signalisierte.
„Er muss weg“, erklärte Rory gelassen. „Ein zweiter Ohnmachtsanfall wäre zu auffällig, deshalb habe ich an…“
„Rory, nein“, unterbrach die kostümierte Lady ihren König. „Wir haben einen Fehler gemacht und ich will bestimmt keine zweite Schuld auf mich laden!“
„Ach, werd‘ nicht weichlich.“ Er lachte heiser, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und stellte sich auf die Zehenspitzen. „Was getan werden muss, muss getan werden. Und überhaupt, das Ganze war deine Idee.“ Sich zu ihr runterbückend fügte er hinzu: „Du steckst da genauso mit drin, vergiss das nicht.“ Damit war für Rory die Diskussion beendet. Er war zu weit gekommen, um sich seinen Moment des Ruhms von Ainsleys plötzlichem Moralempfinden oder Banons Unvorsichtigkeit verderben zu lassen.
Rory spielte wie im Fieberwahn, die Grenze zwischen ihm und dem schottischen König verschwand mit jeder Zeile, die über seine Lippen rollte, mehr. Er war schlicht und ergreifend perfekt, hatte endlich den Gipfel seiner Karriere erreicht.
Nachdem der letzte Akt zu Ende gegangen war, tobte das Publikum und er kam nur langsam wieder zu sich, als das Ensemble sich zu seiner Rechten und Linken auf der Bühne versammelte, sich verneigte. Banon war an seiner Seite, klopfte ihm ausgiebig auf die Schulter, da nahm das Unglück schlussendlich doch seinen Lauf …
„Du bist ein großartiger Macbeth!“, lobte Rorys Theaterkumpel und just in dem Augenblick ertönte ein Scheppern, gefolgt von totalem Lichtausfall.
„Achtung!“ Laute Interferenz dröhnte über die Boxen, offenbar kämpfte der Tontechniker mit einer Störung und Rory wollte sich gerade über den unprofessionellen Ausklang seines Triumpfes beschweren, da traf ihn ein herunterfallendes Kabel an der Schläfe und verpasste ihm einen Stromschlag.