Mala presst ihren Plüsch-Storch Wendelin fest an sich. Sie kauert unter der engen Wendeltreppe, die hoch zum Obergeschoß führt und lauscht auf die Stimmen, die aus dem Schlafzimmer kommen.
„Es war ein Fehler, sie aufzunehmen.“ Die tiefe, grollende Stimme des Mannes.
„Ist ja jetzt gut, Erwin.“ Das schrille Kreischen der Frau.
„Kindergeld hin oder her. Wer weiß, wo sie herkommt. Oder wer ihre Eltern waren. Und welchen schlechten Einfluss die bereits auf das Gör ausgeübt haben.“
„Du hast ja recht, Erwin, aber wir haben uns doch bewusst gegen einen Säugling entschieden.“
„Natürlich nicht. Was hätten wir mit so einem Hosenscheißer anfangen sollen? Deswegen wollte ich eine Sechsjährige. Oder von mir aus eben eine Achtjährige. Die sind noch leicht einzuschüchtern und verstehen bereits, wann sie die Klappe halten sollen. Dachte ich jedenfalls.“
„Ja, Erwin. Aber … “
„Nicht aber unsere Mala. Oh nein. Die macht nichts als Ärger. Zimmer aufräumen? Beim Abwasch helfen? Fehlanzeige. Sie sitzt immer nur da und träumt. Arbeitsverweigerung pur nenne ich das. Aber was sie sich heute geleistet hat …“
„Sie ist eine Waise, die Lehrer haben Verständnis für ihr Verhalten.“
„Jetzt wohl nicht mehr. Du hast doch die Collage gesehen, die sie gebastelt hat.“
„Wenn du aber auch dein Männermagazin in der Küche herumliegen lassen musst …“
„Sie weiß ganz genau, dass sie nichts in diesem Haus ohne ausdrückliche Erlaubnis anfassen darf. Das Heft zu zerschneiden und in die Schule zu nehmen – das geht zu weit! Wie stehen wir denn jetzt da?“
Das Bettgestell quietscht. Mala ahnt, dass der Mann aufgestanden ist. Das ist nicht gut. Gar nicht gut.
„Was hast du vor?“ ruft die Frau.
Der Mann stößt ein tiefes Grunzen aus. „Ich lasse mir von ihr nicht mehr auf dem Kopf herumtanzen. Diesmal werde ich tun, was ich schon lange hätte tun sollen und sie bestrafen.“
„Aber …“
„Ich sage dir, der Teufel steckt in ihr. Aber den werde ich ihr schon austreiben.“
„Aber Erwin – ! Übertreib es nicht. Denk an die Nachbarn!“
„Keine Sorge. Ich nehme sie mit in den Keller. Da kann sie schreien, so viel sie will.“
Schwere Schritte nähern sich der Treppe. Mala hört den Mann keuchen. Sie ahnt, was sie erwartet, macht sich ganz klein.
„Mala!“, brüllt er. Die Treppe bebt unter seinen Füßen.
Tapp.
Tapp.
Tapp.
Die Stufen ächzen unter seinem Gewicht, das alte Holz schwingt im Rhythmus mit. Er kommt näher und näher und näher.
Tapp.
Tapp.
TAPP.
Er ist unten angekommen, stiert wild um sich.
„Mala!“, brüllt er. Und dann hat er sie entdeckt. Seine Augen leuchten triumphierend auf. „Komm her“, donnert er.
Mala presst sich an die Wand, hält sich an ihrem Storch fest, sieht flehend zu ihm herauf. Er ist so gewaltig. Sein Bauch lugt unter dem Hemd hervor, als er die drei Schritte auf sie zu macht, sich zu ihr herunterbeugt und sie an der Schulter packt.
„Nun bekommst du, was du verdienst“, spuckt er.
Nein, denkt sie. NEIN!
Die Wand beginnt zu wackeln. Wie bei einem Erdbeben. Der Mann lässt sie los, zuckt zurück. Und dann bricht unglaublicher Lärm über sie herein, von stürzenden Mauern, splitterndem Holz, zerberstenden Dachziegeln. Alles versinkt in einer dunklen, grauen Wolke. Mala vergräbt den Kopf im plüschig weichen Gefieder von Wendelin. Sie bleibt so lange sitzen, bis aus dem Poltern ein dumpfes Pochen in ihrem Schädel geworden ist. Dann erst blickt sie auf.
Um sie herum ein Meer aus gebrochenen Ziegeln, gesplitterten Holzbalken und Schutt, über dem schwer eine Staubglocke hängt. Vom Mann oder von der Frau ist nichts zu sehen. Kein Stein ist auf dem anderen geblieben. Einzig die Wendeltreppe steht noch und ragt über ihr in die Höhe.
Der Staub verflüchtigt sich langsam. Menschen stehen am Rande des Trümmermeeres, deuten auf die Wendeltreppe, reißen die Münder auf. Mala kann nichts hören, alles ist wie gedämpft. Aber das ist nicht weiter schlimm. Das kennt sie schon vom letzten Mal, als ihr Vater den Gürtel aus der Hose zog und mit diesem furchteinflößenden Gesichtsausdruck langsam auf sie zukam. Zwar stürzte damals nicht das gesamte Haus ein, sondern nur die Zimmerdecke herab – allerdings mitsamt dem wuchtigen Schreibtisch aus dem Obergeschoß. Zu gut erinnert sie sich noch an das Blut zwischen den Trümmern …
Eine Bewegung reißt Mala zurück in die Gegenwart. Zwischen den Überresten des Hauses ihrer Pflegefamilie steht ein Mann und sieht sich kopfschüttelnd um. Er ist deutlich jünger und dünner als ihr Pflegevater. Dazu hat er kurze blonde Haare und tiefblaue Augen. Sie kennt ihn. Er wohnt nebenan und lächelt immer freundlich.
Ihre Blicke kreuzen sich. Der Mann erstarrt. Sein Mund öffnet sich und formt Worte. Er läuft durch das Trümmermeer auf sie zu. Schon ist er bei ihr angekommen, geht vor ihr in die Hocke, packt sie am Arm, redet auf sie ein.
Nein, denkt sie panisch. NEIN!
Die Wendeltreppe über ihr bebt, die oberste Stufe kracht herunter. In seinen Augen spiegelt sich Entsetzen, dann fühlt Mala seine starke Arme, mit denen er sie an seine Brust drückt, um sie mit seinem Körper zu schützen.
Eine weitere Stufe poltert zu Boden, dann ebbt das Beben ab. Die Treppe schwankt noch einen Moment und bleibt stehen.
Der Mann atmet schwer ein und aus. Er schiebt Mala sanft ein Stück von sich weg und blickt ihr besorgt ins Gesicht. „Ist alles in Ordnung?“ Sie erahnt seine Worte, auch wenn sie noch immer nichts hören kann. Sie erkennt die Sorge, die Anteilnahme, die Zuneigung in seinem Blick. So wurde sie in ihrem ganzen Leben noch nie angesehen.
Und während der Mann, fremd und vertraut zugleich, Mala in seinen Armen hält und ihr immer wieder sanft über das Haar streichelt, beschließt sie, bei ihm zu bleiben. Ihm zu folgen, wo immer er auch hingeht. Bis an das Ende der Welt. Und darüber hinaus. Sie wird für immer mit ihm zusammen sein und nie mehr allein zurückbleiben. Und wehe dem, der sich ihr dabei in den Weg stellt.