Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Die Keksschachtel ist seit einigen Tagen offen, dementsprechend trocken und krümelig ist das Mandelgebäck. Flavia gönnt sich jeweils zwei pro Mittagspause, eine Weile hat sie es mit einem probiert, aber so viel Verzicht mundet ihr nicht, es reicht, erstmal das Abendessen ausfallen zu lassen.
„Hi“, sagt sie zu Sanja und Margret, die wie üblich früher in die Pause gegangen sind, um auf der Rampe beim Lieferanteneingang eine zu rauchen. Sie gucken von ihren Smartphones hoch, wo sie vermutlich gerade die neusten Instagrambilder der jeweils anderen studierten, starren Flavia sekundenlang irritiert an und ringen sich anschließend zu einer halbherzig gemurmelten Begrüßung durch. Sie überlegt, wie üblich in den Wartungsraum zu gehen und dort auf dem Schacht der Klimaanlage sitzend ihre Salamistulle zu essen, nimmt dann aber ihren Mut zusammen.
„Habt ihr auch so einen Hunger?“, wirft Flavia in die Runde und tatsächlich macht Margret einen Schritt zur Seite, sodass sie sich zu ihnen gesellen kann. Nervös lächelnd streckt sie ihnen die Keksschachtel entgegen. Beide schütteln den Kopf und Flavia glaubt, Verachtung auf ihren Gesichtern zu erkennen.
„Nein, danke. Ich sollte keinen Junk in mich stopfen.“ Margret klopft sich auf den flachen Bauch und Sanja meint: „Für mich auch nicht.“
Flavia lässt ihre Kekse im Rucksack verschwinden, gleichzeitig würgt sie den Kloss im Hals runter, den sie zu Ehren ihrer Mitarbeiterinnen Marja nennt.
„Mega langweilig heute“, versucht sie eine Konversation zu starten und hofft, ein Gespräch über den gemeinsamen Schülerjob könne eine Brücke zu den zweien zu schlagen. Vor vier Wochen hat Flavia hier angefangen und weil es stets ordentlich zu tun gab, war ihr bisher schlicht nicht aufgefallen, dass sie die Außenseiterin im Team ist. Nun, während der jährlichen Inventur, wird es allerdings schmerzlich klar, denn obschon der Chef ihr das Kommando übergeben hat, wird sie größtenteils ignoriert. Das Supermarktlager ist weiß Gott zu klein, um sich aus den Augen zu verlieren, gesehen wird Flavia trotzdem kaum. Mal ausgenommen von den abfälligen Blicken, die sie mit ihrem Mandelgebäck auf sich zieht.
„Boah, ja“, klönt Sanja äußerst theatralisch und deutet auf ein Regal voller Makeup, Hautcreme und diverser Schönheitstinkturen. „Ich hab den ganzen Morgen diesen Mist durchwühlt, zum kotzen!“
„M-hm, vorges…“, will Flavia ansetzen, da fällt ihr Margret ins Wort, die angewidert auf eine Reihe hellrosa Lippenstifte zeigt. „Wer schmiert sich sowas hässliches in die Fresse, voll billig.“ Erneut zwängt Flavia Marja die Speiseröhre runter und wartet ab, bis die anderen Mädchen kurz zum Kosmetikregal schauen, um sich den Lippenstift abzuwischen. Ihre Mutter hatte ihn ihr geschenkt, als sie die ersten zehn Kilo verloren hatte. Eine blassrosa Belohnung, die sie jeden Tag daran erinnerte, dass sie es schaffen kann.
„Du, hast du Tanja letzte Woche getroffen? Die läuft jetzt auch rum wie so `ne Barbie-Tusse“, will Sanja wissen. Margret zuckt mit den Schultern, dann wenden sich beide mit fragendem Ausdruck an Flavia. Endlich wird sie beachtet.
„Ja-haha“, kichert sie verunsichert am Ärmel ihres Arbeitskittels zupfend. Sie mag Tanja und es tut ihr leid, schlecht über sie zu reden, doch wenn sie zu der Clique dazugehören möchte, muss sie das vielleicht. „Sie geht mit mir ins Ballett und …“
„Du gehst ins Ballett?“, unterbricht sie Sanja fassungslos. „Echt?“ Im Mittelpunkt zu stehen, ist weit weniger lustig, als Flavia sich das vorgestellt hat. Beschämt fährt sie sich durch die Haare und hustet, um Marja loszuwerden.
„Äh, ja, ich gehe seit vier Jahren. Eigentlich wäre es …“, beginnt sie und räuspert sich abermals, weil der verdammte Kloss ihr die Stimme nimmt. „Eigentlich wäre es besser, wenn man früher anfängt, dummerweise gab es dort wo ich vorher gewohnt habe keine Ballettschule, deswegen habe ich erst mit elf ang…“
„Mooo-ment!“ Margret hebt die Hand. „Das ist dein Ernst?“ Die Entgeisterung über ihr liebstes Hobby schmeckt scheußlich, schlimmer noch als wie eine Aussätzige gemieden zu werden.
„Flavia, das hätt‘ ich nie gedacht. Du und Ballett?“ Geradesogut hätte sie eine Posse erzählen können, dermaßen amüsiert reagierten ihre Mitarbeiterinnen. Marja wächst, schwillt von einem unangenehmen Schleimpfropfen zu einer brennenden Kugel aus Galle an. Marjas Namensgebung trifft eindeutig ins Schwarze, schließlich speien Sanja und Margret ebenfalls bloß ätzend bittere Worte gegen Flavia.
„Ja, ich gehe ins Ballett“, erklärt sie so gelassen es ihr möglich ist, greift in ihren Rucksack und fährt fort: „Ich liebe es und Mandelgebäck, Tanja und rosa Lippenstift liebe ich übrigens auch.“ Sich einen dritten Keks in den Mund schiebend grinst sie die beiden an und schwört sich, ab sofort nur noch Kekse und keine Klöße mehr zu schlucken.