Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Stolz und aufrecht ritt der Prinz auf den Schultern seines treuen Minotaurus durch den dichten Zauberwald und sein blauer Mantel fiel weit über den Rücken des Fabelwesens herunter. Nur Mitglieder der Königsfamilie durften auf einem Minotaurus reiten, denn immerhin hatte das Wesen ein größeres Bewusstsein als ein Ackergaul. Die Bäume standen so dicht, dass der Prinz kaum den Himmel sehen konnte, und sie waren so riesig, dass sie nicht bis zum moosigen Boden reichten. Selten fiel ein verirrter Sonnenstrahl bis zu ihm durch, doch er bemerkte ihn fast nicht, genauso wenig wie das liebliche Vogelgezwitscher oder den Geruch der unzähligen Blüten, denn er war ganz und gar auf seine Mission konzentriert. Seit mehr als einem Jahrhundert hielten die Drachen Prinzessin Mirabelle nun schon in ihrer Burg gefangen und viele Ritter waren nun schon bei Rettungsmissionen im Wald verlorengegangen. Doch der Prinz, der bereits seit seiner Kindheit die dicken Bücher gelesen hatte, in denen die hohe Kunst des Drachentötens beschrieben wurde, hatte nicht die Absicht, so jämmerlich zu versagen wie seine unfähigen Vorgänger, die wohl ein grausiges Schicksal ereilt hatte, als sie dem personifizierten Bösen gegenübergetreten waren.
„So, bis hier gehe ich“, erklärte der Minotaurus, als er auf einer Lichtung anhielt, auf welcher der liebliche Duft von Thymian in der Luft lag.
„Danke, Kurt“, entgegnete der Prinz, als er abstieg. „Du bist ein treuer Gefährte, der mich tief in die verbotene Zone getragen hat. Warte hier auf mich für eine Woche – und wenn ich bis dann nicht zurück bin, kehre heim.“
Der Minotaurus nickte und trottete zu einem Weiher, um einen Schluck zu trinken. Der Prinz aber, dessen Wasserflasche noch voll war, warf sein Haar in den Nacken und schritt frohen Mutes weiter ins Dunkel des Zauberwaldes.
Auch wenn er am Tag seinen viel zu warmen und schweren königlichen Mantel verflucht hatte, jetzt in der Nacht schütze er ihn vor der Kälte und war eine willkommene Hilfe für die beschwerliche Reise. Der Prinz war den ganzen Tag durchmarschiert und hatte am Abend kurz gerastet, damit er nun im Schutz der Schwärze die gefürchtete Drachenburg erreichen würde. Jedes Kind wusste, dass Drachen in der Nacht nicht gut sahen und deshalb mit ihrem feurigen Atem viele Fackeln und Feuer anzündeten, ein Vorteil den er sich zunutze machen wollte.
Gerade, als sich der Prinz zu fragen begann, ob er noch auf dem richtigen Weg war, konnte er es sehen: Es war ein beunruhigendes und bedrohliches Rot, dass sich durch die Bäume als diffuser Schimmer abzuzeichnen begann. Vorsichtig und angespannt schlich der Prinz weiter und immer weiter durch das Unterholz auf das Licht zu, stets bedacht darauf, kein Geräusch zu machen. Es musste das Lager der Drachen sein, der Ort, an dem sich das unglaublich Böse verschanzt hatte und jeden terrorisierte, der sich in die Tiefe des Zauberwaldes wagte. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was mit all den tapferen Rittern geschehen war, die ihr Leben für den Sieg über die Drachenkolonie aufs Spiel gesetzt und geopfert hatten.
Nach einiger Zeit konnte der mutige Prinz Stimmen hören, die tief und voll klangen, die typischen Stimmen von Drachen. Vorsichtig schlich er weiter. Er konnte in der Finsternis kaum etwas erkennen, doch je weiter er vorankam, desto klarer wurden die Stimmen vernehmbar, wenn sie auch noch immer nicht verständlich waren. Das Flackern des Lagerfeuers und das Rot des Lichts, das aus den Burgfenstern drang, wurden heller und der Prinz glaubte, die schemenhaften Umrisse der Drachen gegen das Licht erkennen zu können. Er atmete nur sehr flach und war angespannter, als er es je zuvor in seinem Leben gewesen war. Im nächsten Augenblick fuhr er zusammen, als er hinter sich etwas hören konnte, das einem Hurrikan glich, ein grauenhaftes Brausen, Tosen und Pfeifen, und er fuhr herum. Er sah sich einem rostroten Drachen gegenüber, der ein asthmatisches Geräusch von sich gab, bevor er eine gigantische Stichflamme über den Kopf des Prinzen hinwegfauchte. Der Thronfolger wandte sich zur Flucht, stolperte und schlug so hart auf, dass er das Bewusstsein verlor und der Wald um ihn herum in komplette Dunkelheit kippte.
Als der Prinz aufwachte, konnte er vor sich ein warmes Flackern erkennen. Er sah alles wie durch einen Schleier und fühlte sich unglaublich ruhig und entspannt, ein Gefühl, dass in einigen Sekunden von einer bösen Vorahnung von drohendem Ungemach abgelöst wurde. Schließlich klärte sich sein Blick und sein Magen verkrampfte sich; er lag gefesselt auf dem Boden der Lichtung, auf der die Drachenburg erbaut war. Nicht weit von ihm entfernt loderte das Lagerfeuer, um das ein gutes Dutzend Drachen versammelt war und sich zu unterhalten schien. Da sie es sich in ihrer drakonisch klingenden Muttersprache verständigten, konnte der Prinz der Unterhaltung unmöglich folgen, sodass er keine Ahnung hatte, was genau sie ausheckten. Die Burg war nicht allzu weit entfernt und er vermutete, dass die Prinzessin dort gefangen gehalten wurde; könnte er irgendwie entkommen und es bis zur Burg schaffen hätte er eine reale Chance darauf, sie zu finden und vielleicht, mit ganz viel Glück, zu entkommen.
Bevor er seine Flucht weiterplanen konnte, wandte sich der an seinem Abzeichen erkennbare Drachenanführer um und machte einige Schritte auf den Prinzen zu. Jedes Mal, wenn das Ungetüm mit seinen vogelartigen Beinen auf das Erdreich auftrat, konnte der Prinz fühlen, wie der Boden erzitterte und er begriff, dass ihm zu einer Flucht keine Zeit mehr bleiben würde. Panisch begann er an seinen Fesseln zu reißen, doch vergeblich, Die Monster hatten ihn zu gut festgebunden. Und so entscheid er sich, stoisch seinem Schicksal zu harren und schwor sich, so wenig Schmerzen wie möglich zu zeigen, wie es sich für einen Sohn des Königshauses ziemte.
Der Drache trat zum viel kleineren Prinzen, beugte sich herunter und beäugte ihn skeptisch. Schließlich, nach einem Augenblick, der dem Thronfolger als eine kleine Ewigkeit vorgekommen war, fragte der Feuerspeier: „Was willst du von uns, kleiner Mensch? Wieso schleichst du dich an uns an, statt wie jeder normale Besucher auf der Straße zu kommen?“
„Ihr habt eine Straße?“, fragte der Prinz überrascht, bevor er sich wieder fasste und seine stoische Mine aufsetzte. „Schweig, du Penis“, fuhr er den Drachen mit der schlimmsten Beleidigung an, welche ihm seine adelige Herkunft erlaubte. „Du bist ein Monster und ich ein Prinz, ich stelle hier die Fragen!“
Der Drache starrte den Prinzen mit offenem Mund an und ein paar Flämmchen des Erstaunens zügelten um seine Lippen. Schließlich seufzte er und erkundigte sich ruhig: „Was ist deine Absicht, Prinz?“
„Ich bin hier, um die holde Prinzessin Mirabelle aus euren schändlichen Klauen zu befreien!“, donnerte der Prinz, in der Hoffnung so stolz und unbeugsam zu klingen, wie er nur konnte.
Der Drache verdrehte die Augen, wandte sich ab und rief: „Franz, es ist wieder einer von diesen Trotteln! Willst du ihn übernehmen?“
„Okay“, murmelte ein alter Drache mit grauen Stoppeln um seinen Mund, bevor er herangetrottet kam. Schließlich setzte er sich umständlich neben den Prinzen auf den Waldboden und fragte freundlich: „Lieber Prinz, weißt du, wann eure holde Prinzessin verschwunden ist?“
„Vor hundertfünfzig Jahren“, entgegnete der Thronfolger genervt, denn er wusste, dass die Drachen die Geschichte viel besser kennen mussten als er. „Ihr habt sie entführt, mit einem finsteren Zauber zum tausendjährigen Schlaf gezwungen und nun wartet sie in diesem elenden Dämmerzustand in einem Verließ eurer Burg auf ihren Retter.“
„Oh je, du armer Junge glaubst eure dumme Legende tatsächlich?“, fragte der Alte Drache mitleidig. „Du weißt schon, dass es keine Magie gibt, dass Menschen kaum je hundert Jahre leben und Drachen auch nicht älter werden?“
„Lügner“, fuhr ihn der Prinz an. „Woher solltest du sonst wissen, was mit der Prinzessin ist?“
„Dieser Ort ist keine Burg“, begann der alte Drache, „sondern eine Universität und hier machen die klügsten Drachen und Menschen von jenseits des Waldes ihre Ausbildung. Deine Prinzessin ist damals hierhergekommen, weil sie ein Stipendium für Austauschstudenten hatte und nie zurückgekehrt, weil sie hier eine erfolgreiche Professorin geworden ist.“
„Ihr…“, begann der Prinz und schluckte. „Ihr könntet sie noch immer gefressen haben!“
Der Alte brach in Gelächter aus und erklärte dann: „Drachen sind Vegetarier, das weiß doch jedes Kind!“
„Und was ist denn mit all den Rittern?“, erkundigte sich der Prinz kleinlaut und verwirrt. Er konnte nicht verstehen, was ihm gerade erzählt wurde.
„Die meisten dieser jungen Leute sind bei uns geblieben und nun in der Studentenverbindung der Ritter der Kokosnuss. Sie sind dafür bekannt, häufig Piña Coladas zu mischen und viel zu trinken, doch einige von ihnen werden es in der Teilchenphysik oder den bildenden Künsten sicher zu was bringen.“ Der Drache machte eine Pause und fügte dann hinzu: „Okay, ich binde dich jetzt los, wenn du versprichst uns nicht mit deinem Schwert anzugreifen. Wir sind friedlich, aber ich muss dich warnen, die Hälfte von uns war mal im Fechtclub.“
„Ich verspreche es“, murmelte der Prinz, der sich nicht sicher war, was er von der ganzen Sache halten sollte. Er seufzte und erhob sich, bevor er fragte: „Wieso seid ihr so freundliche Wesen und niemand weiß das?“
„Alle wissen das“, entgegnete der Drache, „die ganze weite Welt. Nur euer Königreich, das isoliert in einem Talkessel liegt, scheint davon noch nichts mitbekommen zu haben. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ihr keine Demokratie seid.“
„Was ist das, eine Demokratie?“, wollte der Prinz wissen. Und da endlich begriffen die Drachen, dass dieses kleine Grüppchen von Menschen, dass sie immer wieder anzugreifen versuchte, nicht dumm war, sondern das Zeitalter der großen Aufklärung verpasst hatte.