Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Warnung: Diese Kurzgeschichte enthält Szenen, die auf einige Leser beunruhigend wirken könnten. Mehr zu unseren Warnungen sowie wann und weshalb wir sie anwenden, erfahrt ihr in unseren FAQ.
Der Leihwagen roch nach billigem Vanillelufterfrischer und Bier, seine Scheinwerfer brannten einen Weg ins endlose Nichts. Akuji war lange gefahren, um im Nirgendwo das Ende ihrer Reise zu erreichen. Durch die Dunkelheit der mondleeren Wüstennacht drang Sternenlicht, Signale aus der Vergangenheit. Dort hatte sie gelebt, in all den Momenten, die bereits geschehen waren, aus denen sie nie entkommen war. Es gäbe keine Rückkehr aus der Einöde, die Tankanzeige warnte in roten Tönen. Ein passendes Symbol, eine glühende Allegorie für Akujis Gedankenwelt. Ihre Psyche war über die Jahre zu einer dreckigen Kloake verkommen, einem tristen Labyrinth aus irregeleiteten Hoffnungen, Ablehnung und Verbitterung, die ihr die Luft zum Atmen nahm.
Die Routine zwang sie, den Blinker zu setzen, ehe sie vom Highway abbog und über die Tundra holperte. Die Flasche Most fiel unbeachtet von ihr vom Beifahrersitz und rollte darunter, bald würde ihr Durst auf andere Weise gelöscht. Ein kleiner Punkt auf dem Navigationsgerät war zu ihrer Zielscheibe geworden, alles lief auf diesen einen Ort hinaus, der auf dem Display unschuldig hellgelb leuchtete und anzeigte, wo die Erlösung auf sie wartete. Es war ein wunderschönes Versprechen, das sie sich selbst gegeben hatte, um den Selbsthass auszutricksen.
Akuji war die stets Zurückgebliebene, die vergessene Tochter, die verlassene Frau, die verlorene Mutter, die niemand vermissen würde. Niemand außer ihm, für ihn war sie perfekt. „Route wird neu berechnet“, verkündete das Navi mit seidenweichem Tonfall, der gelbe Streifen auf der Landkarte verschwand. „Route wird neu berech…“ Mit einem Tastendruck schaltete Akuji eine weitere Stimme aus, die sie auf die richtige Fahrbahn lenken wollte.
Er traf knapp zwei Stunden nach ihr ein, die Dämmerung drohte hinter dem Horizont hervorzukriechen, als er sie fragte: „Tot und wach?“
„Ja, das bin ich“, gab sie sich zu erkennen und stieß sich von der Kühlerhaube ab, ging auf die dürre Gestalt zu, die verbogen in den Himmel ragte. „Doyle der Pâtissier?“ Die pechschwarze Silhouette des Fremden kam näher, er nickte und reichte ihr die Hand.
„Schön, dich zu treffen.“ Von seiner Haut strömte eine kribbelnde Kälte auf sie über und Akuji wurde von einem wohligen Gefühl heimgesucht, das sich in seinem hageren Gesicht spiegelte. Er war es, da war sie sich sicher, er würde sie aus der Finsternis führen.
„Sehr schön“, erwiderte sie und zog Doyle zu sich, umarmte ihn mit der wenigen Kraft, die ihr geblieben war. Er duftete nach Schokolade und Schweiß, sie sog das Aroma ein, verankerte ihn in ihrem Gedächtnis. „So schön!“ Sie beide verband der Gegenpol desselben Drangs, er war ihr Pendant, die Kehrseite ihrer Medaille. Ihn an sich zu spüren, verschaffte Akuji sofortige Erleichterung. Seine Berührung traf sie mit voller Wucht, bleichte die Farben ihrer Verzweiflung, wusch alle Angst hinweg.
„Bist du bereit?“, flüsterte er, presste seine eisigen Lippen an ihren Nacken und schenkte ihr einen Kuss.
„Schon lange.“ Sie seufzte tief, zufrieden, zum ersten Mal empfand sie so etwas wie Glück. Sie hatten in einem obskuren Internetforum zueinander gefunden, nach einer Weile des vorsichtigen Austauschs gemerkt, dass es ihnen nicht um eine ferne Fantasie, sondern um einen dringenden, alles verzehrenden Wunsch ging. „Schon so lange.“
Die Sonne kroch gemächlich dem Westen entgegen, Akuji und Doyle hatten den Tag in der Wüstenhitze damit verbracht, in ihren Plänen zu schwelgen, als wären sie eine magische Erinnerung an die schönste Zeit ihres Lebens. Vorfreude mischte sich mit Nervosität, doch nach und nach verstummte ihr heiteres Gespräch, verklang im Abendrot und ein wissendes Schweigen schwebte über ihnen. Sie hatten sich hier zusammengefunden, um einen Augenblick für die Unendlichkeit zu teilen, sich gegenseitig das zu schenken, was sie am meisten begehrten.
„Es ist soweit“, meinte sie mit einem seligen Lächeln, erhob sich und entfernte sich einige Meter vom Wagen, wo sie sich neben einen Dornenbusch legte.
„Und du bist dir sicher?“, wollte Doyle wissen, woraufhin sie ihn wortlos zu sich winkte. „Es wird weh tun.“
„Ich weiß.“ Sie streckte sich, beobachtete den Wind, der wie ein Vorbote ihrer eigenen Zukunft eine Wolke zerfetzte. „Das ist gut so.“
„Dann lass uns beginnen.“ Ein Lied summend begab er sich zu ihr und zog ihr behutsam erst die Hose, dann die Bluse aus. Akuji verharrte, genoss seinen Geruch, das Gewicht seines knochigen Leibs, der gegen ihren Rippenbogen presste.
„Danke“, murmelte sie zwischen seinen Zärtlichkeiten. „Danke, dass du mich mitnimmst.“ Danach hatte sie sich immer gesehnt, nach einem Menschen, der ihrer nicht überdrüssig wurde, sie nicht einfach so zurückließ, sondern sie auf ewig mit sich tragen wollte.
Bei seinem ersten Biss entwich ihr ein schwaches Stöhnen, den zweiten ertrug sie klaglos, ekstatisch begrüßte sie den Schmerz, konnte es kaum erwarten, von ihm aufgenommen zu werden. Seine Zähne schlugen abermals Kerben in ihren Hals, seine Pupillen verengten sich, ein frenetischer Ausdruck breitete sich über seine Züge aus. Die Wunde riss weiter auf, gierig trank er ihr Blut, nagte an ihren Sehnen und als die Arterie barst, fühlte sie, wie sie in seinen Körper kroch, jeden Winkel vereinnahmte. Endlich, ja, endlich erlaubte sie sich den Kampf aufzugeben, die Waffen hinzulegen und von der Dunkelheit verschlungen, von Geborgenheit ertränkt zu werden.
„Danke“, keuchte sie. „Danke.“ Dann versank ihre Welt in vollkommener Schwärze.