Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen: Teil 1 | Teil 2
Es war, wie seit einigen Tagen schon, kalt und windig, also zog Hannes seine etwas zu weite Windjacke zu und schloss den Reißverschluss. Seitdem er sich dazu entschlossen hatte mehr Sport zu treiben, hatte er das Gefühl, er würde das Wetter auf der Zugspitze viel besser verstehen, so als hätte er einen neuen Zugang zu dem Thema gefunden, das seit Jahren sein Beruf war. Nun bekam er es nicht nur auf seinen Bildschirmen und bei seinen kurzen Kaffeepausen draußen zu Gesicht, sondern erlebte es mindestens einmal in der Woche am eigenen Leib. Hannes war Mitte Dreißig und arbeitete als Meteorologe in der regionalen Wetterstation und da diese glücklicherweise auf dem Berg lag, hatte er die sich offensichtlich anbietende Gelegenheit, direkt nach der Arbeit zum Gletscher und zurück zu wandern. Das bedeutete zwar, dass er ein Wochenende im Monat arbeiten musste, aber das machte dem alleinstehenden Hannes ohnehin nichts aus. Seine teuren Wanderschuhe, die er sich nicht zuletzt gekauft hatte, um sich zu motivieren, knirschten im Schnee und die kalte Biese blies ihm sein dunkelblondes Haar ins Gesicht, doch er ging tapfer weiter, denn mit Vorsätzen war nicht zu spaßen. Doch es war nicht nur seine Sturheit, die den sonst eher als Stubenhocker bekannten Hannes Schritt für Schritt weitergehen ließ, sondern vor allem seine Freude an der Natur und allem, was es darin zu entdecken gab.
Bevor er endlich im Niemandsland war, in dem er die Einsamkeit der zugefrorenen Einöde genießen konnte, musste er zuerst an der Bergstation der Seilbahn vorbei, wo es nur so von Touristen wimmelte. Manche davon waren wirklich komisch, völlig unpassend angezogen und erstaunt, dass es hier oben so kalt war, ganz so, als hätten sie auf der Zugspitze einen Sandstrand erwartet. Hannes schüttelte stumm den Kopf, überlegte sich dann aber verständnisvoll, dass einige von ihnen wahrscheinlich noch nie zuvor einen richtigen Berg aus der Nähe gesehen hatten, was ihre durchaus unpraktische Kleiderwahl erklärte. Auch heute waren einige Tagesausflügler unterwegs, doch ausnahmsweise waren ihre Unterhaltungen nicht allzu laut, sodass Hannes nicht den Drang hatte, sich im Eiltempo durch die Gruppe zu drängen und es gemächlich anging. Als er sich dann schlussendlich doch durch die schlendernde Menge geschlängelt hatte, wollte er schon aufatmen, als ihm eine zierliche junge Frau auffiel, die etwas abseits auf einer Bank saß. Ihr hellblondes Haar wurde vom Wind zerzaust und wehte ihr kitzelnd um die Nase, was sie jedoch nicht zu stören schien und durch ihren eigenwilligen, an Hippies erinnernden Kleidungsstil, wirkte sie hier noch deplatzierter als die Strandtouristen. Hannes ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken, als er an ihr vorüberging und hatte sie kurz darauf schon wieder vergessen, denn er wollte wandern und nicht skurrile Bergtouristen begutachten.
Nur wenig motiviert band Hannes seine Schuhe zu und verfluchte sich innerlich für seinen Vorsatz, jede Woche wandern zu gehen. Doch es half alles nichts, heute war es wieder soweit und er wäre verflucht, wenn er aufgeben würde, nur weil er gerade keine Lust hatte und nicht so richtig in Schwung kam. Nicht zuletzt deshalb, weil ihm die Tourletzte Woche wirklich Spaß gemacht hatte und er mit seiner Leistung zufrieden gewesen war. Er würde das jetzt durchziehen, dachte er sich, egal wie viel unerledigte Arbeit sich auf seinem Tisch stapelte oder wie verlockend seine Couch heute früh ausgesehen hatte.
Der Wind war nicht sehr stark, dafür strahlte die Sonne vom wolkenlosen Himmel und brachte alle schneebedeckten Flächen zum Leuchten. Geblendet setzte Hannes seine Sportsonnenbrille auf und belohnte sich mit einem kleinen, selbstgefälligen Grinsen dafür, dass er an alles gedacht hatte, als er sich das Equipment für seine Wanderungen gekauft hatte. Natürlich hatte er darauf geachtet, dass seine Ausrüstung nicht nur komplett und hochwertig war, sondern auch, dass sie so teuer war, dass er Schuldgefühle hätte, würde er sie nicht regelmäßig benutzen. Solche Selbsttäuschungen funktionierten eigentlich immer, überlegte er, während er sich auf denselben Weg machte wie letztes Mal.
Vom Restaurant der Bergstation her wurde der verführerische Geruch von Schnitzel und Pommes zu Hannes getragen und er fragte sich, was es damit wohl auf sich hatte, dass Ausflügler immer dieses Menü bestellten. Er war zufrieden mit dem Sandwich mit Tomate und Gurke, dass er sich selbst belegt hatte und zuckte mit den Schultern, obwohl niemand da war, der ihn hätte sehen oder mit ihm hätte sprechen können.
Er begann gerade sich zu entspannen, die Ruhe und die leichte Anstrengung der Wanderung zu genießen, als er wieder die junge Blonde entdeckte, die auf derselben Bank wie letztes Mal saß und scheinbar nichts tat, außer die Berglandschaft zu betrachten. Als er an ihr vorbeistapfte, riskierte er einen Seitenblick und frage sich, ob er sie von nun an öfters hier sehen würde. Könnte es sein, dass sie auch jeden Sonntag hierherkam, um die Ruhe zu genießen und wenn ja, wieso saß sie einfach nur da, anstelle davon, die Wanderwege zu erkunden, immerhin waren die Seilbahntickets nicht gerade günstig und Rumsitzen konnte man auch anderswo. Wie auch immer, dachte er sich schlussendlich und widmete seine Gedanken wieder der Wanderroute, die auf ihn wartete und Ablenkung vom Alltag versprach.
Voller Vorfreude zog Hannes seine Jacke an und steckte sich. Er hatte sich schon seit Freitag darauf gefreut, endlich etwas länger an die frische Luft zu kommen und begann nun sogar, irgendein altes Volkslied zu pfeifen, dessen Text und Titel er nicht kannte. Motiviert und mit grinsend zusammengekniffenen Augen riss er die Tür auf und atmete die frische Bergluft ein, bevor er aus der Wetterstation trat, die sein Arbeitsplatz und sein Zuhause weg von zuhause war. Er machte größere Schritte als sonst und musste sich zur Ordnung rufen, schließlich wollte er auf dem Rückweg nicht komplett erschöpft sein. Während er, nun etwas langsamer, seinen Weg antrat, frage er sich kurz, ob das komische Mädchen wieder da sein würde und tatsächlich fiel sie ihm schon von weitem auf. Sie saß abseits der Ausflügler auf ihrer Bank und starrte scheinbar ins Leere, so als würde sie in der Ferne irgendetwas sehen, das ihm verborgen blieb. Wieder ging er zielstrebig an ihr vorbei, doch dieses Mal konnte er seine Neugier nicht zügeln und vergaß sie nicht sofort, sondern dachte einen guten Kilometer lang an sie, ganz so als wäre sie ein seltenes Phänomen, das erforscht werden müsste.
Auf dem Rückweg konnte Hannes eine bleierne Schwere in seinen Beinen fühlen und war deshalb kurz irritiert, offenbar hatte er sich doch mehr angestrengt, als er gedacht hatte. Belustigt über seine eigene Verwirrung schmunzelte er und fasste sich an seine verschwitzte Stirn. Es war ja nicht so, als müsste man Nuklearphysik studiert haben, um zu begreifen was Muskelkater ist, dachte er sich und freute sich schon auf die warme Dusche, als die Bergstation in sein Blickfeld kam.
Er musste etwas schmunzeln, als er die junge Frau sah, die noch immer auf ihrer Bank saß und entschied sich kurzerhand, sie anzusprechen. Als er auf ihrer Höhe angelangt war, blieb er stehen und sagte in die Stille: „Hey, ich bin Hannes.“ Im Nachhinein kam ihm die Sache sehr ungeschickt und etwas peinlich vor, vor allem als er ihre Reaktion sehen konnte. Blinzelnd sah sie auf und schaute ihn mit ihren braunen Augen an, so als hätte er sie aus einem tiefen Schlaf geweckt, bevor sie unsicher murmelte: „Tam.“
„Entschuldige, wenn ich störe“, begann er, „aber ich habe mich gefragt, was du jeden Sonntag hier oben machst. Es ist eher selten, dass Leute immer wieder hierhinkommen.“
„Ich mag die Aussicht“, sagte sie, noch immer etwas abwesend. Er versuchte noch eine Weile sie in ein Gespräch zu verwickeln, scheiterte aber und erhielt auf seine Smalltalkversuche bestenfalls einsilbige Antworten von ihr. Schlussendlich verabschiedete er sich von ihr, was sie mit einem Nicken quittierte, bevor er sich wieder auf den Weg machte. Vermutlich hatte er sie in ihrer Ruhe gestört, was ihm dann doch unangenehm war, aber immerhin hatte er jetzt seine Neugier gestillt und feststellen können, dass sie wirklich so sonderbar war, wie er vermutet hatte.
Nervös trat Hannes aus der Wetterstation und sah sich um. Es war bewölkt, doch natürlich kannte er seine Prognose und wusste, dass er trotzdem gut würde wandern können. Aber irgendwie war er heute nicht so richtig bei der Sache, denn er würde bald erfahren, ob er noch länger hierbleiben durfte oder abgelöst werden würde. Ihm gefiel das Leben auf dem Berg und er wollte nicht gehen, doch das war nicht allein seine Entscheidung und er hoffte inständig, dass sie so gefällt werden würde, wie er es sich wünschte. In seine Grübeleien versunken marschierte Hannes mit auf den Boden gerichtetem Blick voran und fragte sich, ob er seine wöchentliche Wanderung eigentlich nur deshalb machte, weil er sie sich vorgenommen hatte, oder weil er sein neues Hobby wirklich mochte. Er möchte gerne noch länger hierbleiben und …
„Hey?“, riss ihn eine zögerlich und schüchtern klingende Stimme aus seinen Gedanken und er fuhr herum. Tam saß wie immer auf ihrer Bank und winkte ihm zu. Er hielt für einen Augenblick inne, bevor er schließlich Kehrt mache und die paar Schritte zu ihr ging.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte sie, während er erst zögerte, sich dann jedoch hinsetzte. Sie nestelte eine Thermoskanne aus ihrem Rucksack und bot ihm eine Tasse Tee an, die er dankend annahm, bevor er ihre Frage zu seinem eigenen Erstaunen ehrlich beantwortete: „Nur etwas Sorgen im Job, aber das wird schon wieder.“
„Was arbeitest du denn?“, erkundigte sie sich interessiert und er erklärte, während er in die Richtung deutete, aus der er gekommen war: „Ich bin Meteorologe in der Wetterstation dort drüben.“
„Das klingt viel spannender als Zahnbürstenvertreter“, meinte sie zufrieden und lehnte sich zurück. „Es ist sicher schön, hier oben zu leben.“
„Ja“, begann er, unterbrach sich dann aber, sah sie verdutzt an und wiederholte fragend: „Zahnbürstenvertreter?“
Ihr Lachen klang hell, jedoch nicht wie das Kichern eines kleinen Mädchens, sondern wie das vielschichtige Lachen einer Frau, die ihren eigenen Charme nicht kannte. „Ja, das ist so ein Zeitvertreib, den ich manchmal mache. Ich beobachte Fremde und überlege mir komische Berufe für sie und deiner war eben Zahnbürstenvertreter.“
„Aha“, sagte er nur und weil er nicht wusste, wie er fortfahren sollte, fragte er sie: „Und was machst du?“
„Ich arbeite als Friedhofsgärtner“, murmelte Tam, während sie scheinbar schon wieder in Gedanken verloren auf die Berge starrte. „Aber ich habe einen Traum.“
„Was den für einen Traum?“, wollte Hannes, nun endgültig neugierig geworden, wissen.
„Ich möchte nach Island reisen und Elfenbeauftragte werden.“ In dem Augenblick war Hannes froh, dass sie nicht in seine Richtung schaute, denn so sah sie nicht, dass er sie für einige Sekunden mit offenem Mund angestarrt hatte. „Das hört man nicht alle Tage“, entgegnete er, nachdem er viel zu lange nicht geantwortet hatte, doch sie schien nicht gekränkt sondern nickte lediglich abwesend. Er fragte sich, ob sie gerade Island vor ihrem geistigen Auge sah, schwieg jedoch.
Nach einigen Minuten, in denen sie stumm auf der Bank gesessen waren, brach Hannes beinahe widerwillig die Stille: „Ich muss langsam weiter, weil ich noch eine lange Wanderung vor mir habe.“
„Klar“, entgegnete Tam und wandte sich ihm zu. Er zögerte kurz, bevor er fragte: „Darf ich deine Telefonnummer haben? Ich würde mich gerne mal mit dir auf einen Tee im Bergrestaurant verabreden.“ Kaum hatte er das gesagt, konnte er das Adrenalin in seinen Adern fühlen und schrie sich innerlich an, was er sich denn dabei gedacht hatte. Hannes war nun wirklich kein Frauenheld und einfach so eine Fremde einzuladen wäre ihm nie in den Sinn gekommen, zumindest hatte er das immer angenommen und so kam das, was er gerade getan hatte, für ihn selbst völlig unerwartet.
„Ich habe kein Telefon“, erklärte Tam nach einer Weile, scheinbar überrascht, nach ihrer Nummer gefragt worden zu sein. „Aber ich bin nächsten Sonntag wieder hier.“
Aufgeregt nestelte Hannes an seinen Schuhbändeln. Er glaubte zwar, dass Tam wieder da sein würde, doch ein Teil von ihm war sich nicht sicher, denn da sie kein Telefon hatte, hatte er mit ihr keine Zeit ausmachen können. Er wusste nicht einmal wieso er so die sonderbare Frau so interessant fand, doch sie hatte etwas an sich, dass ihn faszinierte und ihn die ganze Woche über immer wieder an sie hatte denken lassen. Bei jeder anderen hätte er die Geschichte mit dem Telefon für eine nette Art gehalten, ihm mitzuteilen, dass sie nichts von ihm wollte, doch Tam glaubte kaufte er sie tatsächlich ab. Es kam ihm ein wenig so vor, als würde sie in ihrer ganz eigenen Welt leben, in der es halt keine Telefone gab oder man einfach keine brauchte.
„Wieso bin ich nur so nervös?“, murmelte er, während er aus der Wetterstation in den schönen Tag hinaustrat und sich eilig auf den Weg machte. Vielleicht machte er sich Hoffnungen, versuchte er sich seine Nervosität zu erklären, doch auf was wusste er selbst nicht so genau. Eigentlich war er gutgelaunt, da er vor ein paar Tagen erfahren hatte, dass er seine Stelle behalten konnte, doch in seine Freude mischte sich ein komisches Kribbeln im Bauch und er fragte sich leicht genervt, wieso er sich mit fünfunddreißig aus unerfindlichen Gründen noch wie ein Teenager fühlte.
Diesmal hielt er Ausschau und konnte Tam schon von der Aussichtsplattform aus sehen, wie sie auf der immer selben Bank saß und bewegungslos über die Hügelketten blickte. Etwas enthusiastischer als er gewollt hatte ging er zu ihr und begrüßte sie, wobei sie mit derselben kindlichen Überraschung aufblickte, wie jedes Mal, ganz so als hätte er sie aus einem Traum aufgeweckt. Ohne viele Worte zu wechseln setzte er sich neben sie und schwieg einige Zeit. Er war unruhig und hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen um die Situation nicht peinlicher werden zu lassen, doch sie schien sich nicht an der Stille zu stören und saß einfach mit einem zufriedenen Lächeln da. Er musterte das zierliche Gesicht der jungen Frau, ihre schmale Statur, ihre blonden, offensichtlich gefärbten Haare, während sie gedankenverloren ins Nichts starrte. Schließlich rang er sich dazu durch, zu sprechen und erschrak beinahe selbst ob seiner ungewohnt kratzigen Stimme: „Wieso möchtest du eigentlich nach Island?“
Sie wandte sich ihm mit einem verträumten Gesichtsausdruck zu und begann, ihm von der Landschaft, den Bergen, den Geysiren und den Nordlichtern zu erzählen, ganz so, als wäre sie jeden Tag dort, als würde sie jeden verzauberten Winkel kennen und er hörte zu, ohne sie zu unterbrechen.
Zuversichtlich und gutgelaunt schulterte Hannes seinen Rucksack und warf einen letzten Blick auf das Barometer, bevor er aus der Tür trat und sich den grauen Himmel ansah. Heute war es zwar etwas stürmisch, doch das mochte ihm die Laune nicht verderben. Beschwingt machte er sich auf den Weg, doch wenn er ehrlich sein sollte war ihm heute die Wanderung selbst ziemlich egal, er freute sich einfach darauf, Tam endlich wiedersehen zu können.
Fröhlich und mit lockeren Schritten marschierte er an der Bergstation vorbei und zog seine Hand aus der Jackentasche, um winken zu können, sobald er Tam auf ihrer Bank erblicken würde. Doch als er die Bank mit zusammengekniffenen Augen endlich sah, kam es ihm so vor, als ob sich etwas in ihm verkrampfen würde und er hielt die Luft an; Die Bank war leer. Unruhig hastete er an den Touristen vorbei, um nachzusehen, ob er sie doch noch irgendwo finden konnte und wäre dabei beinahe gestolpert, konnte sich aber dank schierem Glück im letzten Moment gerade noch auffangen. Er sah sich um, in der Hoffnung Tam hätte ihren angestammten Platz für kurz verlassen, doch sie war nicht da, weder in der Menschenmenge, noch auf einer der weiter entfernten Bänke.
„Soviel dazu“, murmelte er enttäuscht, schon fast traurig, was einen Wanderer, der an ihm vorbeiging, dazu veranlasste, sich kurz misstrauisch nach ihm umzusehen.
Hannes stapfte stoisch den Berg hoch, so wie er es mit sich selbst ausgemacht hatte, doch seine gute Laune war verflogen. „Nein“, sagte er laut zu sich selbst, „sie wäre nichts für dich gewesen, viel zu komisch. Du lässt dich einfach wie immer viel zu leicht auf verrückte Fremde ein.“ Er wusste, dass er es sich selbst noch nicht glaubte und er war auch nicht besonders zuversichtlich, dass er es bald tun würde, trotzdem fuhr er fort. „Was habe ich nur in so einer Frau gefunden?“
Müde und wegen seiner heute ungewohnt harten Wanderung etwas kraftlos, schlurfte er das letzte Stück des Weges und entscheid sich, heute im Restaurant zu Abend zu essen, weil er nicht die geringste Lust hatte, selbst zu kochen. Als er Tam auf der Bank sitzend erkennen konnte, blieb er abrupt stehen und hatte das Gefühl, regelrecht einzufrieren. Nach einigen Augenblicken schritt er trotz der Erschöpfung rasch aus und als er bei ihr anlangte, begrüßte er sie beinahe zu enthusiastisch.
„Du siehst heute aber müde aus“, bemerkte sie, als er sich hinsetzte. Er nickte und entgegnete so beiläufig wie er eben konnte: „Ich bin etwas weiter gegangen als sonst.“
Sie lächelte und bot ihm eine Tasse Tee an, bevor sie selbst einen Schluck trank. Diesmal kam das Gespräch erst nach einer Weile in Gang, vielleicht weil es ihm schwer fiel sich von seinem harten Marsch zu erholen, vermutlich aber, weil der Schock, dass sie erst nicht da gewesen war, noch tief saß. Irgendwann jedoch nahm die Unterhaltung ihren üblichen Verlauf und es dauerte nicht lange, bis er sich in ihrer Gesellschaft sicher und befreit fühlte, so als gäbe es keinen Grund dazu, sich zurückzuhalten oder zu verstellen.
„Es tut mir leid“, meinte sie plötzlich, nachdem sie über Belanglosigkeiten gesprochen hatten, ohne dass er je den Eindruck gehabt hätte, sie wären unwichtig. „Wie?“, fragte er noch immer sanft lächelnd, bevor er den lauwarmen Inhalt seiner Tasse mit einem großen Schluck verschwinden ließ. Sie setzte sich gerade hin und ließ ihren verträumten Blick für einige Sekunden schweigend über die Landschaft schweifen und ihm war, als könnte er Traurigkeit darin entdecken. Beunruhigt stemmte er beide Handflächen auf die Bank und rückte seinen Oberkörper etwas nach vorne, doch noch ehe er sich erkundigen konnte, was los war, sprach sie leise weiter.
„Es tut mir leid, dass ich heute zu spät hier war. Meine Mutter ist unerwartet vorbeigekommen, deshalb konnte ich nicht rechtzeitig los.“ Als sie sich ihm zuwandte und er in ihre Augen sah, war ihm so, als würden seine Organe einen kleinen Sprung zur Seite machen. „Das macht doch nichts“, log er, weil er nicht wollte, dass sie wusste wie sehr es ihn getroffen hatte, als sie nicht auf ihrer Bank gesessen war. Doch er bereute diese Unwahrheit sofort, als er bemerkte, dass seine Worte sie nicht aufatmen ließen. „Oh, ok“, flüsterte sie niedergeschlagen, bevor er, ohne zu überlegen aufsprang und rasch sagte: „Nein, so habe ich das nicht gemeint. Ich meine, ich war echt …“
Beinahe schockiert unterbrach er seinen unerwarteten Redefluss und konnte sich nicht dagegen wehren, dass sein Kopfkino sämtliche Szenarien durchspielte, die hätten eintreten können, wenn er seinen Satz zu Ende führen würde. Wie würde sie darauf reagieren, wenn er ihr gestand wie traurig ihn die leere Bank gemacht hatte? Wäre sie froh darüber, dass er sie vermisst hatte, oder würde sie ihn auslachen? Zögerlich setzte er sich wieder neben sie und überlegte immer noch, was er tun sollte, um sich nicht um Kopf und Kragen zu reden, als sie ihn warm anlächelte und sich eine fliegende Haarsträhne hinter ihr elfenhaftes Ohr strich.
Er konnte seinen Feierabend kaum abwarten und stolperte, kaum war der Sekundenzeiger auf die zwölf gesprungen, in den Vorraum der Wetterstation, um dort eilig seine Wanderausrüstung vom Haken zu nehmen. Vermutlich hatte er beim Binden seiner Wanderstiefel die eine oder andere Öse ausgelassen, aber das war ihm egal, immerhin ging es bei seinen wöchentlichen Wanderungen schon längst nicht mehr ums Marschieren und Erkunden, sondern nur noch darum, Tam endlich wieder sehen zu können. Aber wenigstens boten die Treffen mit ihr eine gute Motivation, die knapp zwei Kilometer von der Wetterstation zu ihrer Bank so schnell wie möglich zu überwinden. Und so brauchte er heute nur gerade fünfundzwanzig Minuten und das obwohl der Weg steil bergauf führte, weswegen er sich dementsprechend kaputt neben sie fallen ließ, als er angekommen war.
„Was? Wieso das denn?“ Sie gluckste vor Lachen und hätte beinahe ihren Tee verschüttet, der nun gefährlich im Deckel ihrer giftgrünen Thermoskanne herumschwappte. Er mochte es, wenn sie so ausgelassen war und er hätte ihr jede noch so peinliche Geschichte aus seiner Jugend erzählt, wenn das bedeutete, dass er ihre zarte Stimme jauchzen hören konnte. „Naja, wir dachten damals, es wäre witzig“, gab er schließlich zur Antwort und grinste sie breit an, ohne sich für die dummen Streiche seiner Vergangenheit zu schämen.
„Das, mein lieber Hannes, war auch witzig! Schnecken im Pult, also ehrlich.“ Als sie den letzten Schluck Tee trank, kräuselte sich ihre Nase, so als ob die Kräuter darin sie jeden Augenblick zum Niesen bringen würden und da entdeckte Hannes die Narbe zum ersten Mal. Sie war blass und fein, beinahe unsichtbar und lag gefährlich nahe an ihrem linken Auge. Wie hatte er sie übersehen können, wunderte er sich und wollte sich nicht eingestehen, dass er schlichtweg zu sehr von ihrem Blick verzaubert worden war, um sie zu bemerken. Die Narbe war offensichtlich einige Jahre alt, also fragte er sie, in der Stimmung für Erzählungen aus der Kindheit, danach. Darauf angesprochen hob sie ihre feingliedrige Hand und fuhr mit ihren immer kalten Fingern vorsichtig über die Linie, bevor sie im monotonen Tonfall wisperte: „Mein Vater war kein guter Mann.“
Betroffen atmete er ein und öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch es wollte ihm nicht gelingen die richtigen Worte zu finden, also legte er schweigend seine Hand auf ihre und drückte sie sanft, so als würde er eine zarte Blume halten. Für einen kurzen Moment befürchtete er, eine Träne hätte sich in ihren dunklen Wimpern verfangen, doch als sie sich aufrichtete und ihn direkt ansah, sah er die Lachfältchen neben ihren Augen. „Mach dir keinen Kopf deswegen, das ist schon lange her und ich hab damit abgeschlossen.“
Er glaubte ihr, konnte seine Bedrücktheit aber nicht verbergen und schluckte leer, bevor er seine Mundwinkel nach oben zwang und „Okay“ murmelte. Der Gedanke daran, dass irgendjemand im Stande gewesen war, dieses Mädchen ungerecht zu behandeln, erfüllte ihn mit einer seltsamen Mischung aus Wut und Resignation. In den wenigen Wochen, in denen er sie kannte, war sie für ihn zur Verkörperung der Unschuld geworden, denn sie war nicht nur freundlich und gleichmütig, sondern unbeirrbar in ihrem Optimismus. Wenn jemand fähig war jemanden wie sie zu verletzen, was sagte das über den Zustand der Menschheit aus, sinnierte er melancholisch und wurde erst aus seinen düsteren Überlegungen gerissen, als sie ihm beruhigend über seine stoppelige Wange strich.
„Danke, Hannes“, meinte sie leise, „es macht mich glücklich, dass du dich um mich sorgst, aber es ist wirklich nicht nötig. Also lass das mit den hängenden Schultern und erzähl mir lieber noch mehr von euren schelmischen Albereien.“
Als Hannes sich auf den Weg machte, kam im plötzlich aus dem Nichts eine Idee. Er wusste, dass der Einfall kein besonders kluger war und dennoch war er nicht willens, ihn einfach so zu verwerfen und selbst wenn er das gewollt hätte, wäre es ihm bestimmt nicht gelungen. Kurze Zeit später, als die Gondel gemächlich in die Talstation einfuhr, entschloss er sich dazu, sich später zu erkundigen, ob sein Plan überhaupt umsetzbar wäre, war sich aber sicher, dass es bei einem harmlosen Gedankenspiel bleiben würde. Denn wenn er das wirklich durchziehen würde, wäre er mit Sicherheit der verrückteste Meteorologe des ganzen Bundeslandes, nein, ganz Europas! Nein, das wäre reiner Irrsinn, das würde er sicher nicht tun!
Das Wetter war heute einfach nur miserabel, als Meteorologe konnte er das fachmännisch einschätzen, selbst wenn ihm schlussendlich auch nur derselbe typisch mürrische Kommentar dazu einfiel, wie jedem anderen. Nichtsdestotrotz schnürte er nach der Arbeit seine Stiefel, ignorierte die hämischen Bemerkungen seines Arbeitskollegen und machte sich im dichten Regen auf den Weg zu ihr. Wäre es um irgendjemand anderen gegangen, hätte er angenommen, dass die Verabredung im Freien ausfallen würde und hätte kurz angerufen um sie zu verschieben. Aber Tam hatte ja kein Telefon und so wie er sie mittlerweile kannte, wäre ihr der Regen bestimmt genauso recht wie Sonnenschein, Nebel oder Schnee. Vor einiger Zeit hatte er sie gefragt, weshalb sie jede Woche an genau denselben Platz zurückkehrte, weshalb sie die einmalige Aussicht nicht aus verschiedenen Blickwinkeln aus betrachten wollte, woraufhin sie ihm erklärt hatte: „Das ist doch das Wunderbare, die Welt ist jeden Tag neu und selbst wenn man auf ein und derselben Bank sitzt, sieht der Himmel immer anders aus.“ Eine Weile war er sprachlos geblieben und obwohl er es schon zuvor gewusst hatte, wurde ihm damals zum ersten Mal richtig bewusst, dass es ihm immer schwerer fallen würde, diese seltsame Frau wieder vergessen zu können.
„Hey, Wettermann“, trällerte sie ihm von weitem entgegen und hob ihren geblümten Regenschirm zum Gruß. „Ich habe gerade darüber nachgedacht, woher das Regenwasser denn heute kommt, das kannst du mir sicher erklären.“
Mit einer fahrigen Handbewegung wischte sie die angesammelten Wassertropfen von der Bank, bevor er sich mit einem grinsenden Seufzer neben sie setzte und auszuholen begann: „Nun, das hängt im Prinzip von der Windrichtung ab, aber nicht nur von der, die wir hier gerade erleben, sondern von aktuellen globalen Strömungen. Heute zum Beispiel kommen die Regenwolken über ein Mittelmeerhoch zu uns.“
„Aha“, nuschelte sie, währendem sie ausatmete und Handflächen ausstreckte. Langsam sammelten sich die Tropfen auf ihrer zarten Haut und als die Pfütze für sie groß genug geworden war, hielt sie Hannes ihre Hände hin und sagte: „Willkommen am Mittelmeer, jetzt bräuchten wir nur noch Strandhüte und Sonnenbrillen.“
„Aber klar doch“, lachte er und begann in seinem Rucksack herumzukramen, bis er seine Sportsonnenbrille gefunden hatte und sie ihr behutsam aufsetzte. „Hier, jetzt steht dem Strandurlaub am Gletscher nichts mehr im Weg.“ Damit beschäftigt das Leichtplastikgestell zurechtzurücken, bemerkte Tam seinen verliebten Gesichtsausdruck wohl nicht, denn sie zuckte zusammen, als er sich zu ihr beugte und ihr einen Kuss auf die Wange gab.
„Oh“, sagte sie nur, ehe sie beinahe beschämt aber mit einem verstohlenen Schmunzeln wegsah und auf ihre Füße schaute. „Ich“, begann er flüsternd und kam ins Stocken, „Sorry.“ Mit geweiteten Augen blickte sie rasch zu ihm auf und schüttelte vehement den Kopf. „Nein, nein, das muss dir nicht leidtun.“ Sichtlich nervös begann sie in ihren Haaren, die trotz des Regenschirms pitschnass waren, zu nesteln, bevor sie leise und dennoch nachdrücklich hinzufügte: „Ganz und gar nicht.“
Wenn er sich mit Tam unterhielt, fühlte er sich entspannt und gelassen, dachte er sich, als er auf dem Rückweg über einige Steine stieg und nicht einmal sein doch eher plumper Annäherungsversuch hatte etwas daran geändert. So kam es, dass sein Plan, den er noch vor einer Woche als verrückt abgestempelt hatte, immer genauere Konturen annahm und er begann sich ernsthaft zu fragen, ob er es tatsächlich tun würde. Mit zu einem schmalen Schlitz zusammengekniffenen Augen blickte er über das Bergmassiv der Zugspitze und fragte sich, wie es die in ihren Tagträumen künftige Elfenbeauftragte geschafft hatte, sein Leben so durcheinander zu bringen. Jedes Mal, wenn sie miteinander sprachen, glaubte er, sein Leben mit anderen Augen sehen zu können, die Welt neu zu entdecken. Alles war ein wunderbares Chaos aus Farben und Gerüchen, ganz so, als hätte es sich einfach alles verändert, obwohl alles noch beim Alten war. Und wieder kam er zurück auf seine wahnsinnigen Idee, die ihn an seiner geistigen Gesundheit zweifeln ließ, ihm jedoch trotzdem keine Ruhe lassen wollte, wie ein Gedanke, der sich so tief in seine Hirnwindungen gebohrt hatte, dass er ihn keinesfalls mehr ausschalten konnte. Und auch wenn er wusste, wie irrational das Ganze war, so ertappte er sich doch dabei, konkrete Details durchzudenken. Doch egal, wie er sich entscheiden würde, eines war klar: Wenn er es wirklich tun wollte, müsste er bald handeln, bevor ihn der Mut verließ.
Als Hannes aus der Wetterstation trat war ihm nicht ganz klar, was genau er fühlen sollte. Klar, er war aufgeregt, aber auch voller Vorfreude und gleichzeitig nagte noch immer der Zweifel an ihm. Er fragte sich, ob er wirklich verrückt genug war, ihr den Inhalt des Umschlags zu zeigen, der fein säuberlich verstaut im Außenfach seines Wanderrucksacks steckte, oder ob er besser direkt Nachhause gehen sollte. Denn bis zu dem Zeitpunkt, an dem er Tam das Couvert zeigen würde, könnte er im Prinzip noch einen Rückzieher machen, ohne sie zu enttäuschen oder sich vor irgendjemand anderem rechtfertigen zu müssen. Doch im Grunde wusste er bereits, dass er das nicht tun würde, nein, alles sprach dagegen. Seine Zweifel beiseiteschiebend trabte er über die Aussichtsplattform, auf der einige wenige Touristen ans Geländer gelehnt herumstanden und nahm sich vor, die Sache nicht weiter zu hinterfragen. Schlussendlich, so begriff er endlich, ging es um etwas, das man unmöglich logisch oder auch nur annähernd rational würde erklären können, sondern etwas, das man einfach tat, ohne Rücksicht auf Konsequenzen.
Auch diesmal konnte er Tam schon aus der Ferne erkennen, nachdem er die mit Pommesduft geschwängerte Luft hinter sich gelassen hatte und schritt entschieden auf sie zu. „Wenn du das tust, gibt es kein Zurück mehr“, murmelte er, bevor er in Hörweite war, um sich selbst zu ermahnen. Als sie ihn gesehen hatte, winkte sie ihm fröhlich zu, was ihn dazu veranlasste, noch schneller zu gehen, als er eh schon tat. Als er etwas außer Atem bei ihr anlangte, blickte sie auf und fragte erstaunt: „Was ist denn mit dir los? Wieso so gestresst?“
Nichts, ich wollte nur mal etwas schneller gehen“, flunkerte er und setzte sich. Er war angespannter als er erwartet hatte und konnte nicht anders, als mit seiner Hand auf den Knien zu trommeln, was Tam mit einer skeptisch gehobenen Augenbraue zur Kenntnis nahm. „Sag mal“, begann sie zögernd, „ist etwas nicht in Ordnung?“
„Doch, doch, alles bestens“, erklärte er im besten Brustton der Überzeugung, den er zustande brachte.
„Okay …“, erwiderte sie schließlich, nachdem sie ihn einige Sekunden gemustert hatte, runzelte dabei aber immer noch die Stirn, was für Hannes neben dem verträumten Blick und dem vom Wind zerzausten Haar zu den Dingen zählte, die ihm an Tam am meisten gefielen. Sie gaben ihr etwas Frisches, Neugieriges, Träumerisches … Er wusste nicht, wie er es nennen sollte.
„Tee?“, riss sie ihn aus seinen Gedanken und er fuhr erschrocken hoch. „Gleich“, entgegnete er hastig. Erst jetzt wurde ihm ein für alle Mal klar, dass er sich nicht mehr würde aufhalten können und er hatte das Gefühl, sein Herz könnte jederzeit aus ihm herausspringen. „Ich möchte dir erst etwas zeigen.“
„Was denn?“, fragte sie und sah ihn mit großen, neugierigen Augen an. Er hob den Rucksack, den er neben sich abgestellt hatte, auf und zog den Briefumschlag aus dem äußeren Fach, bevor er ihn ihr überreichte. Wortlos blinzelte sie einige Male irritiert, griff dann jedoch ohne weitere Fragen hinein und zögerte kurz. Er nickte ihr aufmunternd zu und seine Hände verkrampften sich in gespannter Erwartung, als sie die beiden einfachen Flugtickets nach Island herauszog.