Erica schnaufte tief durch, ächzte regelrecht und rieb sich mit den Handflächen übers Gesicht. Sie stand inmitten von etlichen, sorgfältig versiegelten Plastikboxen, hier und da rumpelte es leise. Es war ein langer Tag gewesen, das Ende einer langen Woche und der Beginn einer ebenso langen Reise. Sie hatte kaum Zeit, ihre Erschöpfung wahrzunehmen, bestenfalls ein paar Stunden konnte sie ihren Körper ausruhen. Das angstgetriebene Gedankenkarussell war jedoch in vollem Gange, würde frühestens anhalten, wenn sie mit ihren Lieblingen die Grenze hinter sich hätte. „Okay, wir schaffen das“, murmelte sie zu sich selbst, ging zwischen den Kisten auf und ab und zog das Handy aus der Jackentasche. „Hey Siri, ruf Jack an.“
„Klar. Ich rufe Jack Neureiter an“, tönte der Sprachassistent und die Verbindung wurde aufgebaut. Vermutlich lag ihr Arbeitskollege bereits im Bett, es war halb zwei in der Früh.
„Erica?“, meldete er sich erstaunlich rasch. „Habt ihr alle verpackt?“
„Ja, sie sind sicher verstaut.“ Sie räusperte sich und meinte monoton: „Ich habe Ben und Clint gegen Mitternacht nach Hause geschickt, die Kleinen konnte ich selbst vorbereiten.“
„Prima. Wann kommt der Wagen?“ Ein Rascheln wurde übertragen, gefolgt von unverständlichem Nuscheln. Es war Sonja, Jacks Frau. Sie war ein aufgestellter, zuvorkommender Mensch und eigentlich gab es keinen Grund, weshalb Erica sie nicht ausstehen konnte. Irgendetwas an ihr war ihr suspekt, sie kam bloß nicht darauf, was.
„Clint holt ihn gegen halb Acht beim Verleih ab und bringt ihn her.“ Sie hielt inne, wandte sich um und bückte sich über eine der milchig-transparenten Boxen. Myrtles Umrisse waren zu erkennen, sie hatte sich in einer Ecke ihres Transportgeheges zusammengerollt und verharrte reglos. „Er und Ben helfen beim Verladen der Kisten“, erklärte sie weiter, ging neben ihrem liebsten Haustier in die Hocke und fragte: „Kommt Sonja auch?“
„Natürlich“, gab Jack zurück. „Sie hat sich extra drei Tage freigenommen.“ Anstelle einer Antwort brummte Erica zustimmend. Sie hatte keine Lust die ganze Fahrt neben der ständig plaudernden Kindergärtnerin zu verbringen. Allerdings, und das musste sie zähneknirschend zugeben, konnten sie Sonjas Unterstützung brauchen. Und immerhin war sie es gewesen, die dem Unterfangen mit dem Namen ‚Operation Myrtle‘ ein wenig Humor verliehen hatte.
„Danke. Das ist lieb von ihr“, brummte Erica. Sie und Jack kannten sich, seit sie im Aquariumsgeschäft seines Bruders als Aushilfe angefangen hatte. Seither hatte sich fast nichts und gleichzeitig alles verändert. So war das mit Ericas Leben, um sie herum bewegte sich die Welt, während sie in eine Kältestarre verfiel und sich nach dem Aufwachen wunderte, weshalb alles anders war.
„Und, legst du dich auch noch ein Weilchen hin?“, wollte Jack erfahren und gähnte ausgiebig.
„Naja, ich probiere es. Das Sofa ist jedenfalls verlockend“, log sie zur durchgesessenen Couch schielend, die alles andere als einladend wirkte.
„Gönn dir wenigstens ein bisschen Erholung.“ Sie beide wussten, dass Erica bis zum Eintreffen des Fahrzeugs nervös auf und ab tigern würde. Die Geschehnisse der vergangenen Monate nagten an ihr, raubten ihr schon länger den Schlaf. „Du kannst es brauchen.“
Einige Floskeln später hatte sie sich von Jack verabschiedet und tatsächlich war sie zur Sitzgruppe geschlendert, lediglich, um dort ihr Smartphone zum Laden einzustecken und das Clipboard mit der Transportliste zu holen. „Hey Siri, spiel meine Blues-Playliste ab.“ Müßige Klänge schwappten aus dem Bluetooth-Lautsprecher, den sie sich an den Gurt geklippt hatte. Erica seufzte, schob ihre Müdigkeit beiseite und begann damit, ihre Fracht vor der Abfahrt nach Myrtle Beach ein abermals zu prüfen. Exakt dreihundert Meilen in einem Mietwagen, der sie dreihundert Dollar gekostet hatte, lagen zwischen ihr und dem Ziel, dreihundert Tieren das Leben zu retten. „Operation Myrtle ist startbereit“, kicherte sie vor sich hin, als sie vor Myrtles Transportbox anlangte, liebevoll über den Deckel strich und sich daneben setzte.
Das Schild der Interstate Fünfundneunzig war vom Parkplatz aus zu sehen, es leuchtete im Licht der aufgehenden Sonne. Ben und Clint waren wie verabredet um viertel vor Acht eingetroffen, trotz der kurzen Nacht bereit, Erica beim Einladen der Kisten zu unterstützen, und Jack und Sonja hatten eben geschrieben, dass sie gleich da wären. „Danke“, sagte sie mit dem breitesten Lächeln, das sie in ihrem Zustand hinbekam und gab den beiden Angestellten vom Reptilienshop je einen Becher Kaffee und einen Bagel von der Bäckerei um die Ecke. „Ihr seid die besten.“
„Kein Ding, Erica“, holte Clint aus, entriegelte die Tür und drückte den Knopf für die Laderampe des Lastwagens. Indes zerrte Ben bereits den Gepäckkarren mit dem ersten Stapel Transportboxen heran. „Selbstverständlich sind wir für dich und die Tiere da.“
„Ach.“ Erica war den Tränen nahe. Sie hatte weder einen aufgeschlossenen noch sonderlich geselligen Charakter, doch den Jungs war es gelungen, dass sie zumindest ein wenig auftaute. „Ich bin so froh, euch zu haben“, flüsterte sie, packte eine Plastikbox und reichte sie Clint. Er sowie Ben und Jack waren ihr bei den Verhandlungen beigestanden, hatten sie getröstet, als die Mühlen der Gerechtigkeit sie zu zermahlen drohten. Schlussendlich waren sie es gewesen, die Erica aus ihrer mentalen Betäubung befreit und einen Plan geschmiedet hatten, wie sie ihre Haustiere über die Staatsgrenze in Sicherheit bringen könnte. Den Laden aufzugeben, in einen anderen Bundesstaat zu fliehen, das alles war zu viel, zu schnell und zu groß für sie, dennoch der einzige Ausweg. Und ohne ihre Freunde wäre es unmöglich.
„Erica.“ Ben trat neben sie, legte seinen Arm um ihre Schultern und presste sie an seine Brust. „Bald hast du es geschafft und die Schla…“
„Guten Morgen, die Herrschaften, Miss Nahas“, unterbrach eine schallende Stimme die friedliche Atmosphäre. Erica zuckte instinktiv zusammen, ein Kloss bildete sich in ihrer Magengrube. Noch bevor sie sich umdrehte, erahnte sie den Schrecken, der sie erwartete.
„Nein“, schluchzte sie, vergrub ihr Gesicht in Bens T-Shirt. „Nein, nein!“
„Sieh einer an.“ Sein Tonfall war belehrend und als sie sich zwang ihn anzusehen, entlarvte sich der Officer mit einem unheimlichen Grinsen. „Miss Nahas, ich dachte, wir haben diese Spielereien hinter uns.“ Clint sprang vom Laster und hastete zur Hintertür des Shops, wahrscheinlich wollte er sich mit den Tieren einschließen. „Ihnen ist klar, weshalb wir hier sind?“, verlangte der ältere Herr zu wissen, begutachtete dabei die Boxen, die noch auf dem Karren lagen.
„Sie sollten erst übermorgen kommen“, ereiferte sie sich und stellte sich schützend vor ihre Tiere. „Das steht so in der Verfügung.“
„Ein Vögelchen hat der FWC gezwitschert, dass Sie ihre Netzpythons aus dem Staat schaffen wollen.“ Er kramte ein bedrucktes Papier aus seiner Brusttasche, das er Erica hinhielt. „Wir haben die Befugnis, die Tiere heute zu zerstören.“
„Nein“, stieß sie panisch aus, schlug ihm das Schreiben aus der Hand und zeigte auf die oberste Kiste. „Das sind Nattern, schauen Sie nach.“
„Miss Nahas, ich bitte Sie.“ Er schüttelte den Kopf, las sein Dokument vom Boden auf und glättete es an seinem Bauch. „Sie versuchen mir ernsthaft weismachen, Sie fahren einfach so mit dreihundert Tieren spazieren?“
„Nein, das ist … Das … Lassen Sie das!“, kreischte Erica, ihre Nüstern waren geweitet, Ben konnte sie nur knapp zurückhalten, als sie sich auf den Inspektor stürzen wollte, der schnurstracks auf den Lagerraum zumarschierte und ein Gerät bei sich trug, welches sie an der Gaspatrone als Bolzenschusspistole erkannte. „Nein, Myrtle!“
„Beruhigen Sie sich, Miss Nahas, ‚Operation Myrtle‘ ist vorbei.“ Da geschah es wieder, die Welt kam in Bewegung, drehte sich um Erica. Aber dieses Mal erstarrte sie nicht.
„Geh zur Seite“, befahl sie Ben, langte hinter ihren Rücken, hob ihr Shirt und zog die Waffe.