Im Nebel – St. James Infirmary

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Der Nebel hängt tief in den Bäumen, sickert durch die Türritze in Joes Keller hinein. Ich sitze hier, hänge über meinem Bourbon. Bernsteinfarbenes Vergessen wünsch ich mir. In der Früh lief ich durch die Hallen der Krankenstation, der heilige James wacht dort über die Kranken. Kühl war es, heut’ Morgen wie jetzt, der Herbst verschlingt den Sommer und sich selbst. Ich sah sie, mein Schatz, ausgestreckt auf einer langen, weißen Pritsche. Sie war so kalt, so lieblich, so lieblich, so schön. Da eilte ich zum Doktor und bat um ein Wunder, doch er meinte bloß, es ginge ihr schlecht. Ein Ausdruck von Mitleid kroch über ihn, ein ekelerregender Anblick. Angst überkam mich, also rannte ich die Treppen hinunter, zurück, um sie zu sehen. Oh mein Gott, sie lag dort. Tot.
Was hätte ich tun sollen, was hätte ich zu tun vermocht? Es verschlug mich in die Kellerbar, mitten unter die üblichen Gesichter. Der Alkohol wird den Herbstdunst in meinen Geist einladen, ihn verhüllen, den Schmerz. Aus blutroten Augen betrachte ich die Säufer, meine Kumpanen, eines Tages werden sie meine Sargträger sein. „Lass sie ziehen“, murmle ich getränkt in Unglück, „lass sie geh’n. Oh, Gott, so segne sie.“
Einer klopft mir auf die Schulter, klopft einen Teil der Last hinweg. „Die Welt hätt’ sie durchsuchen können“, lallt der Gefährte zu meiner Linken, ganz ohne Argwohn, dafür mit Güte im Herzen. „Die Welt hätt’ sie durchsuchen können, einen zweiten wie dich hätt’ sie nie gefunden.“ Wir heben die Gläser, stoßen an, auf ihren Stern am Firmament. Der Tod singt sein Lament in Moll, tanzt durch dichten Brodem, in den sich die Nebelfetzen von draußen schleichen.
„Ich danke dir, mein Guter, ich danke dir.“ Der Whiskey schwappt in mir, taucht mich gänzlich ein in den Trauersmog. „Wenn ich sterbe, beerdigt mich in gut geschnürten Halbschuhen, dem feinen Mantel und High Top Stetson Hut“, plane ich des nachts in Joes Spelunke meine Zukunft. „Hakt mir meine Golduhr an die Kette, damit meine Freunde wissen, ich bin mir treu geblieben.“ Um mich herum nicken sie alle, teilen mit mir den Kummer und den Suff. „Lass sie ziehen, lass sie geh’n“, wiederhole ich mein Gebet, sende es gen Himmel. „Lass sie geh’n. Gott segne sie, wo auch immer sie sein mag.“ Die Becher klirren, flüssige Amnesie fließt und fließt und ich treibe davon, als sei es der Mississippi, dessen Strömung mich hinfort zerrt, an einen Ort jenseits meiner Existenz.
„Sechs Spieler sollen mich zu Grabe tragen, sechs Mädchen mein Lied zum Abschied trällern und die Jazzband hint’rem Leichenwagen marschieren.“ Meine Stimmung steigt empor, schwingt durch die Schwaden, ist’s der Nebel oder Zigarrenrauch? Alles dreht, alles dreht, alles dreht sich. „Auf dass wir die Hölle in Bewegung setzen!“ Jubel bricht aus mir heraus, sie packt mich, die Entrückung. Empfangen werd’ ich ihn mit offenen Armen, wenn er mich holt, mich zu ihr bringt, der Schnitter. Trüb-feuchte Dämpfe kriechen durch meine Adern, nisten sich ein, wo einst Leben wohnte. „Dies ist das Ende meiner Geschichte“, rufe ich mit Freude aus. „So lasst uns eine wei’tre Runde trinken.“
„Gott segne sie“, zwitschern die Schluckspechte, ein Nebelchor zollt ihr den letzten Respekt, begleitet sie, mir voraus, dorthin, „wo auch immer sie sein mag.“ Wenn sich einer fragt, sag’ ich’s ihm, ich hab den St. James Infirmary Blues.

Autorin: Rahel
Titelvorgabe: Im Nebel
Diese Geschichte ist eine von vielen Interpretationen des Blues/Jazz-Klassikers „St. James Infirmary“.

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