Petrichor

Es hatte vor einem Weilchen aufgehört zu regnen. Die Luft war drückend, schwer von der Feuchtigkeit, die heiß über dem Asphalt waberte. „Petrichor“, flüsterte Petra zu sich selbst und drückte die zerbeulte Metallklinke des Hintereingangs zum Gemeindezentrum. „Petrichor.“ Ein wunderschönes Wort für den Duft, der ihre Kindheit aufleben ließ – Petrichor, der Geruch der Sommerabende auf der Terrasse ihrer Großmutter, der Fahrradrennen mit ihrem besten Freund vom Waldrand zurück in die Siedlung, der Spaziergänge mit Karl, dem Golden Retriever, der sie bereits in der Krippe beschützt hatte. „Petrichor“, wiederholte sie und ihre Gedanken verwandelten sich in einen ruhigen Fluss. Sie kickte ihre Flip-Flops unter die Schuhbank im Vorraum, zupfte sich das klebend nasse Shirt vom Bauch und band die Haare hoch, ehe sie sich den Geigenkasten schnappte und ins Musikzimmer trat. Wie üblich war Petra zu früh, sie kam direkt von der Arbeit, das Büro lag nur einen kurzen Fußmarsch entfernt. Der Umweg nach Hause lohnte sich nicht, also schlug sie sich die halbe Stunde bis zur Orchesterprobe in der kleinen Aula um die Ohren. Seufzend stellte sie ihren Koffer auf den Bühnenrand, öffnete ihn und nahm ihr Instrument heraus. Es war eine Stentor SR1864 mit einem Griffbrett aus Ebenholz, das geflammte Ahorn des Hohlkörpers gab der Violine eine antike Note – sie war mittelpreisig, dennoch ihr wertvollster Besitz. Sorgfältig rieb sie ihren Schatz mit einem Mikrofasertuch ab und legte die Geige dann auf ihren Platz in der Orchesterbestuhlung. Petra betrachtete ihren Sitz, rieb sich über die Schläfen und schlenderte schließlich zu einem der fast drei Meter hohen Fenster, um es zu öffnen. „Petrichor.“ Sie atmete durch – einmal, zweimal, dreimal, viermal. Diese Momente waren ihre einzige Pause, flüchtige Augenblicke, in denen sie nicht den Wünschen, Problemen und Ideen anderer ausgeliefert war. Zugleich waren es Minuten der Zerrissenheit. Das Aroma des Sommerregens, in dessen Schwaden ihre Erinnerungen aufflackerten, stieß sie wie ein Rammbock in die Kluft zwischen süßer Nostalgie und bitterer Wehmut. Sie setzte sich auf den Fenstersims. Tröpfchen lösten sich von der Dachrinne, klatschten mit einem satten Geräusch auf das Johanniskraut im schmalen Blumenbeet darunter. Die düster werdende Atmosphäre verlieh den Blättern einen bläulichen Schleier, indes leuchtete Petra das Gelb der Blüten entgegen, zauberte Lichtpunkte in die tief gesunkenen Gewitterwolken. „Petrichor“, wisperte sie abermals. Ihr Leben war von der Realität mitgerissen worden, die Strömung hatte das neugierige, ambitionierte Mädchen von damals in das Fahrwasser einer monotonen Zukunft manövriert. Gleich einem Schmiedehammer hatte der stetige Tropfen des Alltags sie zu einem Menschen geformt, den sie manchmal nicht wiedererkannte. „Petrichor.“ Die Melancholie blieb an ihr haften, hinter geschlossenen Lidern sah sie all die Dinge, die sie hinter sich gelassen hatte. Hobbies, Freunde, Träume, so viele Teile ihrer selbst waren zu einer unscheinbaren Randnotiz verkommen, und all die Dinge, die ihr einst Freude bereitet hatten, prangten wie ein verstaubtes Elchgeweih über ihr – die PlayStation, die Pokémon-Karten, die Fachbücher in ihrem Regal, das Klavier im Keller, sie waren kaum mehr als Trophäen einer längst vergessenen Person.
„Hey.“ Sie hatte die Tür nicht gehört, war auf dem Strom ihrer Überlegungen hinweggedriftet. „Wie immer früh dran.“ Kallan war erst seit wenigen Monaten Dirigent ihres Amateurorchesters, ein Cellist, der nach neuen Herausforderungen suchte, und ein Glückstreffer für ihr Dorftheater.
„Ah, hallo.“ Ihr Fokus verblieb einige Sekunden auf den brillant-gelben Blumen. „Ja, ich komme direkt aus dem Büro.“
„Ach so.“ Sie schwiegen einander an, Kallan versuchte sich an einem freundlichen Lächeln, das allerdings eher wackelig und verschüchtert wirkte. Sie hatten sich eigentlich nichts zu sagen, so erging es Petra mit den meisten Leuten – mittlerweile fiel es ihr sogar schwer mit ihrem Mann Gesprächsstoff zu finden, der sie nicht entweder zu Tode langweilte oder unnötig in Stress versetzte. „Riechst du das auch?“, meinte er plötzlich und deutete dabei aus dem Fenster. „Petrichor. Ganz wunderbar.“ Sie schaute auf, blinzelte ihn verwundert an und er erläuterte: „So nennt man den Geruch von …“
„Von Regen auf Asphalt, ja. Ich weiß“, unterbrach sie ihn, stand auf und setze sich vorsichtig in Bewegung, fühlte die feinen Linien auf dem Laminat an ihren nackten Füßen – ihre feuchte Haut kribbelte, Petra war, als könnte sie jeden Kringel ihrer Zehenabdrücke spüren. „Petrichor. Ein schönes Wort, oder?“
„Stimmt.“ Sein Lächeln wurde sicherer, ehrlicher und ihr entwich ein Kichern. „Petrichor. Man hört es viel zu selten.“ Ihre Schultern entspannten sich, bunte Tröpfchen plätscherten in die Wogen ihres Trübsinns, verfärbten das Grau nach und nach. „Wollen wir schon mal anfangen, den anderen ein Stückchen voraus sein?“
„Klar, Ehrensache.“ Sie langte nach dem Hals ihrer Geige und zwinkerte Kallan zu, der seinerseits schmunzelte und ein Cello aus dem Instrumentenschrank holte, während sie ihre linke Wange, danach den Kinnhalter der Stentor abwischte.
„Camille Saint-Saëns, Totentanz?“, schlug er vor. Petra nickte, griff nach dem Bogen und legte ihn an. Just in dem Moment, als sie den ersten Ton anstreichen wollte, klatschte er in die Hände, riss die Augen auf und fragte: „Kennst du zufälligerweise die Werke von Nobuo Uematsu?“ Sein Ausdruck war so hoffnungsvoll wie skeptisch, da lachte Petra auf. Das Parfüm aus Wasser, Stein und Hitze verrauchte, wurde vom kühlen Westwind verschluckt, mit ihm die Sehnsucht an vergangene Tage. Eine erfrischende Welle schwappte durch ihren Geist, in ihrer Schaumkrone erschien das Mädchen, das sie verloren geglaubt hatte – und es jubelte: „Natürlich. Final Fantasy. Beginnen wir mit Tifas Theme?“

Autorin: Rahel
Setting: Orchesterprobe
Clues: Elchgeweih, Randnotiz, Ehrensache, Schmiedehammer, Rammbock
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