Diese Story ist auch als Hörgeschichte (Teil 1 | Teil 2) erschienen.
Hänsel rannte. Seit über drei Stunden. Allmählich lichtete sich der dichte Wald, verwandelte sich in eine typisch hochalpine Szenerie. Hänsels Tritt war sicher, obschon er heute Nacht nicht seine liebsten Laufschuhe, sondern Tennissocken trug. Er rannte soweit möglich geradeaus und wenn der Weg gabelte, entschied er sich jedes Mal für die linke Route.
Eigentlich hatte er sich sehr über die Einladung des Behindertensportvereins gefreut, wäre da nicht der Umstand, dass Jacob, sein bester Freund, zuhause bleiben musste. Jacob war wie Hänsel Langstreckenläufer. Naja, kein so hervorragender wie er, das waren sowieso die wenigsten. Nun, deswegen war Hänsel eben alleine ins Lager gefahren und teilte sein Zelt mit Wilhelm, einem jungen Mann, der keine Gebärdensprache kannte. Hänsel freute sich, dass der letzte Abend angebrochen war, er langweilte sich nämlich. Einer der Betreuer sprach zum Team. Hänsel saß ebenfalls am Picknicktisch, sein Blick wanderte, weshalb er lediglich Bruchstücke des Vortrags mitbekam, bis die Lippen des Betreuers ein Wort formten, das seine Aufmerksamkeit weckte. Hänsel hob die Hand, wartete geduldig darauf, aufgerufen zu werden und gestikulierte schließlich seine Frage: „Welche Bären?“ Er fürchtete sich vor Bären, mehr als vor Bienen oder kochendem Wasser, denn Bären töteten im Gegensatz zu Bienen und kochendem Wasser sofort. „Ich erklärte“, begann der Betreuer mit den Augen rollend, „ihr sollt euer Essen in den Eimern verschließen und mit der dafür vorgesehenen …“ Er rang nach Worten, die Hände schlaff hängenlassend, linste er hilfesuchend in die Runde, bevor er deutete: „Ihr müsst die Eimer in die Bäume ziehen. Okay?“
„Okay“, zeigte Hänsel und fuhr damit fort, unaufmerksam bis zum Schluss der Sitzung auszuharren.
Sein Schlaf war friedlos. Zwar reiste er als erfolgreicher Langstreckenläufer häufiger durchs Land, um an Rennen teilzunehmen, dennoch gewöhnte er sich nicht recht daran, an fremden Orten zu übernachten. Es dauerte eine Weile, bis er sich im engen Zelt zurechtfand, zuerst kam ihm alles komisch vor. Da waren zwei Schlafsäcke, zwei Kissen, zwei Isomatten, zwei schwere Rucksäcke zwei Paar Schuhe und ein feuchtes Badetuch. Also war alles so, wie es vor Hänsels Einschlafen gewesen war, bloß Wilhelm fehlte. Allenfalls, so beruhigte er sich, war der andere auf die Toilette gegangen. Hänsel richtete sich auf, wischte Speichel vom Kinn und wollte gerade sein Kissen aufschütteln, da flog etwas gegen die Blache, sodass das ganze Zelt bebte. Hänsel zuckte zusammen und Bilder von blutverschmierten Bärenpranken flackerten in seinen Gedanken auf. Bekleidet mit seinem Flugzeug-Pyjama sprang er nach vorne und nestelte unkoordiniert am Reissverschluss herum. Als es ihm endlich glückte aus dem Zelt zu schlüpfen, sah er einen mächtigen Schatten hinter einer Zeltgruppe verschwinden. Instinktiv machte er kehrt und tat, was er am besten konnte und stets tat, wenn er überfordert war: Er rannte los.
Die Morgendämmerung kroch über das Bergpanorama. Hänsel wusste den frühen Morgen zu schätzen, seine Welt war wortlos, die Hektik des Alltags ging jedoch auch an ihm nicht spurlos vorbei. Seine Schritte blieben kraftvoll, gute vier Stunden nach seinem überstürzten Aufbruch fand die Müdigkeit seinen Verstand, nicht aber seine Beine. Irgendwo hinter den ersten Sonnenstrahlen, den schläfrigen Überlegungen und dem rhythmischen Aufschlagen seiner Sohlen, versteckte sich der Grund für seine Flucht. Hänsel trabte nun seit einer langen Zeit in welcher der Schrecken vergessen ging. Vielleicht hätte er gerne Halt gemacht, dummerweise war das nicht einfach; wenn er einmal losgelaufen war, konnte er nie aus eigener Kraft anhalten. Das war einerseits ein Fluch, andererseits ein Segen, wie sonst wäre aus ihm der viertbeste Langstreckenläufer in der Geschichte des Behindertensports geworden? Mittlerweile begegnete er nur wenigen Bäumen und die, die hier oben noch gediehen, waren eher knorriges Gestrüpp als mächtige Tannen. Verträumt begutachtete Hänsel eines dieser skurrilen Gewächse, schenkte dem Weg für eine Sekunde keine Beachtung. Die Kante eines Schiefersteins riss Hänsels Socke sowie seine Ferse auf, brachte ihn ins Straucheln und war dafür verantwortlich, dass der Sportler seitwärts abrutschte, durch ein Dickicht krachte und eine Böschung hinunter stürzte. Ein brechender Zweig peitschte gegen Hänsels Auge, zerkratzte das untere Lid, kurz bevor sich sein linkes Bein zwischen zwei scharfen Felsen verkeilte. Ungebremst rollte sein Körper weiter abwärts, mit einem erstaunlich unbedeutenden Ruck zersplitterte Hänsels Tibia in drei Teile.
Hänsel hatte schon oft Schmerzen gehabt. Im Training musste er über seine Grenzen hinauswachsen und Muskelkater konnte wirklich ganz fürchterlich wehtun. Der Schmerz, der von seinem Schienbein ausging, war aber nicht annähernd vergleichbar mit starkem Muskelkater. Er schluchzte ungehemmt auf, steigerte sich in den nächsten Minuten in einen regelrechten Heulkrampf hinein, versuchte nach Kräften, klagende Geräusche von sich zu geben, die er selbst nicht vernahm. Seine Lieblingsbetreuerin sagte, Weinen sei heilsam und wenn er sein Bein betrachtete, glaubte er, Heilung gut gebrauchen zu können. Leider nützte alles Flennen nicht, weder die Qualen, das Blut noch der harte weißliche Stock, der aus seinem Unterschenkel lugte, heilten ab, also hörte Hänsel abrupt auf zu schniefen, setzte sich auf und musterte die seltsame Wunde. Es war ein gruseliger Anblick, wenigstens klebten einige dürre Grashalme, Blätter und Erde daran, die einen Teil des aufgerissenen Fleisches verdeckten. Ein klein bisschen war es auch lustig, Hänsel grinste in sich hinein, als er an sich hinunterschaute. Unterhalb des Knies verbog sich sein Bein zu einer Art gewundenen Stange, sie drehte sich scheinbar um sich selbst, sodass sein großer Zeh gegen hinten zeigte.
Wie üblich, wenn er gelaufen war, hatte Hänsel Durst. Normalerweise wurde entlang der Strecke frisches Wasser, abgepackt in kleine, handliche Flaschen, verteilt; im Wald gab es solchen Luxus selbstverständlich nicht. Wie lange lag er überhaupt hier? Da er seine Uhr zum Schlafen immer auszog, hatte er keine Ahnung, doch es war zweifelsohne noch derselbe Tag, die Sonne war auf- aber nicht untergegangen. Die Suche nach ihm lief auf Hochtouren und bald würden sie ihn finden und aus seiner misslichen Lage befreien, dessen war er sich sicher. Trotz der Torturen machte er sich nicht allzu viele Sorgen. Im Training war er bereits etliche Male gestürzt und kurz darauf hatte man ihn verarztet. Ihm fiel ein brauner Käfer auf, der über den kargen Boden schlich und da er nichts Besseres zu tun hatte, kiebitzte Hänsel dem Tier auf seinem Weg. Stur und gemächlich bewegte es sich fort, kletterte die kleinen Erdhügel hoch und runter, bis es schlussendlich unter einen überwachsenen Baumstamm krabbelte. Hänsel hatte sich ziemlich verrenket, um den Käfer noch zu sehen und wie es der Zufall wollte wurde er mit einer Überraschung belohnt: Hinter dem verdorrten Geäst entdeckte er das Glitzern von Wasser. Entschlossen, seinem Durst ein Ende zu setzen, grub er seine Finger in den verkrusteten Boden und schleppte sich in die Richtung des schmalen Rinnsals. Kaum war er eine halbe Körperlänge vorangekommen, durchfuhr ihn ein heftiger Stich. Die hervorstehende Tibia war an einem Trockenriss hängengeblieben. Hänsel hielt gelähmt vom Schmerz inne, keuchte ein stummes Husten und übergab sich. Der Langstreckenläufer kannte sich mit physischen Qualen aus, das kam mit seiner Berufung. Das brennende Stechen war ihm allerdings neu und mit Neuem kam Hänsel schlecht zurecht.
Nach und nach gelang es ihm sich an seines Marathon-Mantras zu entsinnen, welches ihn schon über so manches Seitenstechen hinweggetragen hatte: „Ein und aus, links und rechts, stetig voraus!“ Verbissen kämpfte sich Hänsel weiter, eine Schmerzwelle nach der anderen, ein Zentimeter nach dem anderen. Als er beim Quellbächlein anlange, verspürte er die Euphorie, die ihn an jeder Ziellinie begrüßte. Gierig tauchte er seine Hände ins erfrischende Nass, schaufelte Schluck um Schluck und während er trank, wuchs seine Zuversicht, dass bald alles gut ausgehen musste.
Die Sterne am Nachthimmel flimmerten genauso kalt, wie es Hänsel war. Vergeblich probierte er, die hübschen Punkte zu ignorieren, sich vom Frösteln abzulenken. Die dünne Mondsichel formte ein kleines „Z“ in Schönschrift, daher wusste er, die silberne Scheibe befand sich in der zunehmenden Phase. Im diffusen Licht waren einige wenige Blätter und Äste sichtbar, die im Takt seines Bibberns hüpften. In der Zwischenzeit war das Stechen zu einem dumpfen Pochen verklungen. Es war der Juckreiz an den Rändern seiner Wunde und die erbarmungslose Kälte, die ihn vom Schlaf abhielten. Zittern helfe dem Körper, sich warm zu halten, er erinnerte sich daran, das irgendwo gehört zu haben. Ihm war schleierhaft, wie das funktionieren sollte, aber jetzt war der richtige Moment, es zu testen. Er schlotterte extra stark und sehr zu seiner Freude wurde ihm in der Tat wärmer. Das Beben war zudem tröstlich, beinahe meditativ und der Hunger, der ihn seit einigen Stunden plagte, trat in den Hintergrund.
Hänsel verfiel in eine Art Trance, ihm wurde duselig und er verspürte diese wohlige Entspannung, die zum Einschlafen gehörte. Gerade als er wegdösen wollte, erschrak er: Im nahen Unterholz wand sich etwas! Mit einem Mal hellwach, hielt Hänsel die Luft an. Ob das einer der Bären war, vor denen der Betreuer gewarnt hatte? Hänsel langte nach einem morschen Ast, das einzige in Griffnähe, das sich als Waffe nutzen ließ. Inständig hoffte er, sich zu täuschen, leider hörte es nicht auf, rings um ihn herum wackelten Blätter. Hänsels Puls beschleunigte und kurz befürchtete er, die Schläge unter seiner Haut könnten seine Wachsamkeit trüben. Nein, das durfte kein Bär sein! Mehrere Minuten verharrte er, bemühte sich die grauenhafte Vision von einem aufgerissenen Bärenschlund zu verdrängen. Dann fiel ihm endlich die steife Brise auf, die über seine Wange streifte und er atmete erleichtert auf – um ein Haar wäre er in Gelächter ausgebrochen.
Ein plötzlicher Blitz schoß durch Hänsels Bein. Verwirrt richtete er sich auf. Wieso war er nicht in seinem Bett? Im Zelt? Nein. Wo zum Teufel war er?! Panisch stellte er fest, dass ein Schatten über seiner Wunde thronte. Ein Tier beugte sich darüber. Hänsel krächzte und zappelte, wollte ihn dieses Vieh fressen? Seine Reaktion trieb den neugierigen Fuchs sogleich in die Flucht, behände sprang das Tier in die Büsche.
Lange schaute er dem kleinen Biest hinterher, den Ast fest umklammernd. Was, wenn noch andere wilde Tiere kamen? Was wenn ein Bär ihn fände? Die wachsende Angst schob Kälte wie Hunger beiseite. Immerhin konnte er nicht weglaufen und der morsche Stecken würde ihm nicht weit helfen. Raubtiere wurden von Fleisch angelockt, überlegte er und beugte sich so weit nach vorn, dass er seine Pyjamahosen hochziehen konnte. Er tat es ganz vorsichtig. Unsicher, was er tun konnte, schüttete er drei Handvoll eisiges Quellwasser über die offene Stelle. Um die Schmerzen besser zu ertragen, biss er sich auf die Unterlippe. Er schmeckte Blut, ihm fröstelte wieder und er wünschte sich, in seinem warmen Zimmer im Heim zu sein und sich mit Jacob zu unterhalten. Nach einer Weile, die ihm wie eine kleine Ewigkeit vorkam, döste er erneut ein und glitt in einen fieberhaften Schlaf.
Jacob schob sein Kissen weg und bedeutet ihm etwas, das dieser nicht verstand und ihm wie eine ungelenke, zufällige Fuchtelei vorkam. „Was willst du mir sagen?“, gestikulierte er. Jacob setzte zu einer Antwort an, da schreckte Hänsel aus seinem Dämmerzustand hoch. Wo waren Jacob und das Bett abgeblieben? Langsam begriff er, wo er lag. Wie lange war er schon hier, ohne zu essen, ohne warme Decke? Drei Tage, vier Tage? Hänsel blieb zuversichtlich, dass er vermisst wurde. Dennoch war niemand gekommen. Sollte er sich wegen der anderen Sorgen machen? Waren sie womöglich von Bären gefressen worden?
Die öden Stauden neben ihm wippten im Wind und Hänsel beobachtete sie, um sich von dem Hungergefühl abzulenken, das sein ständiger Begleiter geworden war. Es misslang ihm. Wie lange nochmal konnte man ohne Essen überleben? Hänsel hatte einmal eine Fernsehsendung darüber gesehen, zu blöd hatte er sich keine Einzelheiten gemerkt. Dazu kam sein Bein, das komisch pulsierte. Die Wunde war vereitert und Hänsel kapierte sehr wohl, dass das ein schlechtes Zeichen war. Ihm war, als kämen stündlich mehr eitrige Hubbel dazu. Musste er sie ausdrücken? Er widerstand dem Impuls, da er glaubte, sie auszuquetschen wäre bedeutend schmerzhafter als das bei Pickeln der Fall war. Eilig schob er das Hosenbein herunter – „aus den Augen, aus dem Sinn“, wie Jacob zu sagen pflegte.
Hänsel vermisste Jacob, der stets zu Spässen aufgelegt war. Manchmal, wenn er lange genug still lag, kam es ihm in seinem fiebrigen Zustand so vor, als sei er bei ihm, in der Sicherheit des trauten Heims. In diesen Momenten vergaß es den peinigenden Hunger, die Erschöpfung, sogar die Schmerzen. Diese Augenblicke waren real, so real wie alles andere auch und er wünschte sich, nur noch in ihnen zu leben. Früher oder später kehrte er zurück an diesen gottverlassenen Ort und es blieb ihm nichts anderes, als zu hoffen, bald nach Hause gehen zu können. Dorthin, wo er nicht fiebrig, hungrig und in ständiger Gefahr war. Hänsel fuhr zusammen, das hatte er nahezu ausgeblendet. Wenn man im Lager schon daran denken musste, alles gut zu verpacken, um die Bestien fernzuhalten, wie gefährlich mochte es dann hier draußen sein?
Alles um Hänsel herum war verschwommen, fühlte sich weich und wattig an. Müde hob er den Kopf und erinnerte sich vage daran, wie er in den Wald gekommen war. Irgendwas mit einem Bären, überlegte er, vielmehr amüsiert denn verängstigt. Überhaupt war ihm die Panik abhandengekommen, die Welt war friedlich und ruhig, so als pendelte er in einer Hängematte. Das Wasser neben ihm glitzerte in den Sonnenstrahlen, eine einsame Fliege schwirrte um ihn. War das die Realität oder ein Traum, fragte er sich, verlor aber gleich wieder das Interesse und schloss die Augen. Seine Lider waren schwer. War er nicht eben im Lager gewesen, hatte er die Rückfahrt ins Heim verpasst? Und wo war eigentlich Jacob? Sicher in der Nähe, sobald Hänsel aufwachte.
Stimmt, fiel Hänsel ein, es war bald Essenszeit, schließlich hatte er Hunger – er musste bloß aufstehen. Benommen öffnete er die bleiernen Lider. Über ihm kreiste eine Biene. Anstatt wie sonst, wenn eines der Insekten um ihn schwirrte, es wegzuscheuchen, ließ er den dunklen Punkt herumsurren. Wieso hatte er keine Furcht, weshalb war er so gleichgültig? Diese Biene war ihm einfach egal, Allergie hin oder her.
Der Boden vibrierte, oder war es die Luft, sein Wecker? Irritiert fasste er in das nahe Bächlein und rieb sich Wasser ins Gesicht. Die Biene über ihn wurde klarer, sie verwandelte sich! Das Ding, welches nahe über ihm zu schweben schien, wurde zu etwas großem, mechanischem, das weit entfernt war. Es dauerte eine geraume Zeit, bis er die kreisenden Rotorenblätter sah. Ein Helikopter! Was suchte ein Hubschrauber in seinen Träumen?
Alles um ihn herum war wabbelig, friedfertig und so reagierte Hänsel mit lockerer Teilnahmslosigkeit, als sich der Mann in der orangen Jacke über ihn beugte, auf ihn einredete und die Flugzeuge seines Pyjamas unter einer Decke begrub.