Sarahs Tag findet ihr hier.
„Okay, klar“, höre ich mich sagen, ohne so richtig aufgepasst zu haben. Mein Arbeitstag hat früh angefangen und lange gedauert und sogar wenn ich mich bemühen würde – was ich nicht tue – fiele es mir schwer, mich auf das zu konzentrieren, was Sarah mir mitteilen will. Meine Synapsen verlangen Ruhe, Entspannung und etwas Ablenkung vom ewigen Starren auf Bildschirme. Das einzige, was mich jetzt noch dazu anhalten könnte, diese beinahe dreistündige Skype-Konversation weiterzuführen, wäre die verlockende Aussicht auf einen meiner „Rants“ über dies und das gewesen. Egal wie ausgelaugt ich bin, mich in kindlicher Faszination über Dinge aufzuregen und sie gleichzeitig toll zu finden, hat mich schon oft über das Verfallsdatum meiner täglichen Wachheit hinaus gebracht. Aber nicht heute.
„Mein Kumpel kommt in ein paar Minuten“, erkläre ich dann mit der typischen Mischung aus Müdigkeit und Hyperaktivität in meiner Stimme und vernehme einmal mehr leises, digitales Quietschen. Sarah stellt ihre letzte Frage für den Tag, lässt Grüße ausrichten und wir tauschen einige englische Unsinnigkeiten aus, bevor wir uns lachend verabschieden. Ich schließe alle Fenster meines treuen Geräts und öffne das physische Fenster, durch welches wegen unvorteilhafter Lage eh kaum Sonne scheint. Da klopft es auch schon an der Tür. Woher die Energie kommt, die mich die Wendeltreppe hinunterrasen lässt, weiß ich nicht, doch ich freue mich auf einen Abend voller Polygon-Zombies und trashiger Horrorfilme – ihr wisst schon, weil ich noch nicht genug auf Bildschirme gestarrt habe.
Der Wecker gibt sein bestes, wirklich. Er schellt und singt so kraftvoll wie die Handy-Lautsprecher es zulassen, aber mein Gehirn bleibt stur in der REM-Phase und ärgert mich zur Abwechslung mal nicht mit Alpträumen, sondern lässt mich auf einem längst verstorbenen Wallach durch den Wald reiten.
„Rahel. Raaahel. Rahel!“, feixt mein Kumpel und will mir die Decke klauen. Im Hintergrund läuft noch das Hörbuch, zu dem ich eingeschlafen bin. Will Wheaton rechnet gerade durch, was passieren würde, wenn die Erdrotation plötzlich stoppt – kurz zusammenfasst lässt sich sagen, dass in diesem unwahrscheinlichen Szenario viel verschüttet und permanent zu Bruch gehen würde.
„Ich bin wach!“, erwidere ich im Halbschlaf und klinge ganz klar und lebhaft, während ich nur langsam zu mir komme. Es ist Samstag und anstelle von den üblichen vier bis fünf, hat mein Körper knappe sieben Stunden auf der Matratze verbracht. Kein Grund, sich zu beschweren, denke ich mir und nutze den Gedanken als flüchtige Motivation, meine in Wollsocken gehüllten Füße auf den Teppich zu stellen. Es ist Sommer, aber frieren kann ich nun wirklich immer.
Das elektronische Bürstchen kitzelt ekelhaft in der Nase und als ich so zähneputzend auf und ab marschiere – wer will dabei schon den Spiegel sehen? – passiere ich den faulen Doktor Hund, der regungslos wie ein Donut auf seinem Kissen liegt. Erst als ich sehe, dass sich sein Brustkorb minimal hebt und senkt, kehre ich beruhigt ins Bad zurück, spucke aus und strecke mir die Zunge raus. Aus dem Wohnzimmer säuselt der Fernseher und BBC erzählt mir etwas von Idioten, die für bedenkliche Bücher explodieren. Wieder einmal denke ich mir, wie viel angenehmer die Welt unter meiner Herrschaft wäre – zumindest für mich und der Rest der Erdenpopulation interessieret mich so kurz nach dem Aufstehen noch nicht.
Das lieblich-grauenvolle Geräusch der Kaffeemaschine stimmt mich heiter und die wütenden Buchfanatiker sind schlagartig vergessen. Schnell ist das braune Gold mit Milch und einem Strohhalm bestückt und bereit, in meinem frisch geputzten Mund zu verschwinden.
„Soll ich Croissants holen?“ Ich überlege kurz, ob ich meine oder seine Wünsche höher werten will und meine dann: „Nein, ich mache Suppe.“ Aber immerhin schnipple ich um seinetwillen Rindfleisch und nicht Lauch hinein, weil ich eben doch kein Sadist bin.
Das Frühstück zu Mittag ist verschlungen, das Geschirr in der Spüle und sogar der Doktor Hund hatte sich dazu überreden lassen, sich mit mir vor die Tür zu wagen. Ich mag kein Morgenmensch sein, aber der werte Herr Köter treibt das mit dem Verschlafen echt auf die Spitze. Dafür ist der Professor Vogel putzmunter, wirft fröhlich Nüsse durch die Gegend und wartet voller Übermut darauf, mit mir ins Büro zu gehen.
„Du hast ja recht“, murre ich das grüne Tier an und schalte den Fernseher ab. Es kann auch ohne mich gemordet, betrogen und generell genervt werden, also schnappe ich mir den gefiederten Freund und singe ihm auf dem Weg in mein Heimbüro schief grinsend ein spontanes Lied vor. „I’m a little birdy, dumb and green, I like nuts and berries and really love to screeeeeam.“
Erster Punkt auf der Tagesordnung: Youtube-Feed auf Prokrastinations-Möglichkeiten überprüfen. Und siehe da, Bill Nye will mir etwas über Sonnensegel erzählen und egal wie oft ich schon darüber gelesen habe, seiner Fliege kann ich einfach nicht wiederstehen. Danach muss ich selbstverständlich auch erfahren, über was Yahtzee heute ohne Punkt spricht und wenn ich schon dabei bin, könnte ich auch gleich noch nachsehen, ob vielleicht eine neue Folge einer meiner Lieblingsserien … Mist, Sarah ist wach und begrüßt mich auch noch so stinkfreundlich! Ich sollte unbedingt das Auto-Boot von Skype ausschalten, werde es aber trotzdem nicht machen.
„Kurze Frage“, schreibt sie und mir dämmert sofort, dass meine Clue Writing To-Do-Liste um einen Posten verlängert werden wird. Versteht mich nicht falsch, ich bastle gerne an unserem Projekt, gleich nachdem ich mich innerlich dafür verfluche, dass ich meine Freizeit freiwillig mit Arbeit verbringe. Aber wem mache ich etwas vor, mit der berühmt berüchtigten „Down-Time“ bin ich meist sowieso überfordert. Während die Gute so fragt und erläutert, beginne ich damit, pflichtbewusst alle Dateien für meinen ersten Auftrag zu suchen. Und weil mir der Sinn gerade nicht nach E-Mail-Wortsuchereien steht, entscheide ich mich für Audiobearbeitung.
„Super, danke dir“, tippe ich und füge zweihundertzweiundneunzig „Nerdy“-Smileys an – mehr passen nicht in mein Chatfenster.
„Kein Problem, danke dir“, kommt prompt die Antwort und ich bemerke nur nebenbei, wie oft wir uns gegenseitig dafür bedanken, dass wir Aufgaben erledigen, die wir ohnehin tun müssen. Aus Höflichkeit kann eben auch Gewohnheit werden, vermutlich sogar eine Unart, aber immerhin bleiben wir dabei stets, nun, höflich. Diese Erkenntnis sollte ich wohl irgendwann einmal schriftlich festhalten – nur damit ich sie gegen Sarah verwenden kann, versteht sich.
„Allons-Y“, schreie ich mir zur Aufmunterung gedanklich zu, mache mich an mein Tageswerk und vergesse einmal mehr, dass man am Wochenende eigentlich Faulenzen könnte.
Ich kann nicht die einzige Person auf diesem Planeten sein, die sich bei Audiobearbeitungen sporadisch so vorkommt wie ein achtzigjähriger Spanner hinter dem Lattenzaun. Da sitze ich auf meinem Bürostuhl, die Brille so unter die großen Kopfhörer geklemmt, dass sie meine Nase nicht berührt – nur so nebenbei, wer eine Brille erfindet, welche die blasse Haut über meinem Nasenbein nicht malträtiert, hat einen Orden verdient – und höre anderen beim Atmen zu. Kompression, Normalisierung und das ganze Entrausch-Prozedere habe ich hinter mir, und bald schon könnte man unsere Sprecher mit Apnoe-Taucher verwechseln. Danach gibt es dann eine weitere Praxislektion im Mastern und ich hoffe inständig, dass meine legendäre Sturheit sich irgendwann bezahlt machen wird – man will ja niemanden enttäuschen, vor allem nicht den eigenen Perfektionismus.
Da fällt mir plötzlich ein, dass ich das Intro Skript zwar schon vor Tagen geschrieben, aber nicht aufgenommen habe und der Professor Vogel zuckt erschrocken zusammen, als meine flache Hand klangvoll auf der Stirn landet. Die Audio-Software verrät mir, dass meine fertig editierte Datei derzeit gerade nicht gespeichert werden kann – weshalb bleibt Auditions Geheimnis –, also schiebe ich Vogel und Bürostuhl beiseite und mache mich daran, mein improvisiertes Aufnahmestudio aufzubauen. Der Klapptisch wird mit Kissen bestückt, das Mikrofon zwischen Decken hindurchgeschoben und das Zeichen-Tablet fungiert derweil als praktischer Bildschirm-Spiegel, der mir den Weg zum Pult erspart. Jetzt muss eigentlich bloß noch der Vorhang zugemacht werden, damit die Lästereien der Wandertouristen später nicht unfreiwillig veröffentlicht werden. Ich stehe vor dem noch offenen Fenster und zögere, ehe ich dem Professoren zuzwinkere, den Kopf ins Wochenendgrau strecke und hinunterrufe: „Nur langweilige Leute unterhalten sich darüber, dass er sagte, dass sie meinte, dass dieser dachte.“ Ich winke den beiden Damen lachend zu und mir ist meine winzige Frechheit nur ein bisschen peinlich – wer lästert, hat in meinen Augen nur marginale Rücksichtnahme verdient. Aber wahrscheinlich bin ich mal wieder diejenige, die etwas Grundsätzliches nicht verstanden hat, die das mit den menschlichen Verhaltensmustern lediglich auf einer Sachbuchebene nachvollziehen kann. Logisch, als soziales Tier will man sich zugehörig fühlen und das tut man wohl am besten, indem man andere kleinmacht und ausgrenzt. Trotzdem, ich unterhalte mich weiter lieber über die neusten Bilder des Mars Rovers oder die Charaktere der viel zu früh von uns gegangenen Fernsehserie „Firefly“, statt vorzugeben, mich für Anekdoten aus dem Leben anderer zu interessieren, die mich sowieso nichts angehen.
„Kannst du die Klappe halten?“ Der Professor krächzt verneinend und wird dann unter noch lauterem Protest zurück in die Voliere verfrachtet, damit ich endlich das Intro für nächste Woche einsprechen kann.
Ich habe meine Aufnahmen dermaßen rasch eingesprochen und bearbeitet, dass ich unsicher geworden bin, ob ich irgendeinen offensichtlichen Fehler übersehen, respektive überhört habe. Obwohl das nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich ist, klopfe ich mir mit einer theatralischen Geste auf die eigene Schulter und hake den Clue Cast für heute von meiner Aufgabenliste. „You did well, young Padawan“, flöte ich in einer viel zu hohen, verzerrten Stimmlage vor mich hin, aktualisiere unser Projektprotokoll – nicht zu verwechseln mit dem Story- oder Podcastprotokoll – und schiebe dann alles Erledigte weg. Als nächstes beantworte ich einige Mails und Forenbeiträge, die in mein Ressort fallen und während mein Mail-Client lädt, bemitleide Sarah eine Weile dafür, dass sie sich oft um unsere Korrespondenz kümmern muss. Natürlich mag ich den Kontakt mit unseren Lesern und all denjenigen, die sich mit phänomenalem Einsatz für unser Projekt engagieren, aber wie so oft ist es nicht ganz so simpel, wie es auf den ersten Blick scheint. Zum einen bin ich nämlich ein fürchterlicher Tippmuffel und zum anderen nicht sonderlich begabt, wenn es um zwischenmenschliche Interaktion geht – insbesondere dann nicht, wenn ich ständig fürchten muss, dass mein Sarkasmus irgendwo unter Bits und Bytes verloren geht.
„Hey, wie geht’s?“ Ausnahmsweise habe ich Skype sogar gehört, weil mein Handy irgendwo in der Nähe – wo genau eigentlich? – vibriert hat.
„Okay. Mühe mich gerade mit dem Typen ab, der uns acht Mails für einen Literaturwettbewerbsbeitrag gesendet hat“, gebe ich zurück und nehme mir vor, Sarah diese E-Mail-Odyssee irgendwann einmal vorzutragen, so als wäre sie ein Schauermärchen.
„Ha! Und, hat er es dieses Mal geschafft?“, wollte sie wissen.
„Joa, Format und Titel stimmen jetzt. Nur habe ich jetzt mehrere Geschichten von ihm und keine erfüllt die Längenvorgabe.“ Sage bloß nie etwas Schlechtes über Leute, die dir einen Gefallen tun und sich an deinem Unsinn beteiligen, das ist die erste Regel, die ich in meinem Beruf gelernt habe. Also verkneife ich mir den Kommentar über Rentner am Keyboard und füge versöhnlich an: „Ich habe gedacht, wir geben ihm noch eine Chance, er scheint sich ja wirklich zu bemühen.“
„Sicher, viel Spaß.“ Das Zwinkersmiley lässt keinen Zweifel daran, dass Sarah meinen unausgeschriebenen Seitenhieb auf überforderte Computerbenutzer verstanden hat.
„Ja, ja“, beginne ich vielsagend. „Nicht das der uns wegen einer Disqualifikation noch amokläuft“, spiele ich anschließend auf einen schweizerischen Pensionär an, der wochenlang die Polizei auf Trab gehalten hatte – habe ich im Übrigen schon erwähnt, dass ich mich nicht immer an meine eigenen Prinzipien und Grundregeln halte?
„Wieso? Wär doch gute Werbung für uns.“ Wo sie recht hat …
Der Tag war einfach zu verregnet, als dass ich ihn nicht dazu hätte nutzen können, mit meinem alten Doktoren einen Berg hochzulaufen. Im Gegensatz zu so ziemlich jedem, der seine mentalen Kräfte noch nicht am Check-In hatte abgeben müssen, gehe ich außerordentlich gerne wandern wenn es so richtig schön gewittert. Die marginale Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden – und in der Konsequenz Superkräfte zu erhalten – interessiert mich nicht halb so sehr, wie die Tatsache, dass die Geräuschkulisse imposant und der Regen beruhigend ist. Einmal abgetrocknet und in ein ausgeleiertes Yoga-Shirt gehüllt, stilecht mit kurzen Hosen und Großmutters Socken, gieße ich eine absurde Menge Kaffee in meine mindestens genauso absurd große Tasse und mache mich wieder auf den Weg in mein Heimbüro. Vielleicht hätte ich mir meine pitschnassen Haare kämmen sollen, denke ich mir, als ich an einem Spiegel vorbeischlendere. Kurzentschlossen mache ich das, was ich immer tue und wickle den Meter aus multifarbigen, toten Hornschuppen irgendwie auf meinem Kopf zusammen und stecke eine Klammer hinein. Entwirren kann ich das Resultat meiner Verweigerung zum Coiffeur zu gehen auch später noch.
Der Rechner erwacht mit einem Tatendrang zum Leben, den ich mir gerade aus den Fingern zu saugen versuche und bellt mir aus den Boxen entgegen: „Don’t blink, don’t even blink. Blink and you’re dead!“ Da verschwindet man kurz im Wald und schon ist die Inbox wieder voller Spam.
Ich begrüße Sarah, obschon mich diese vor einer guten halben Stunde darüber informiert hat, dass sie vorläufig nicht online sein wird, fasle etwas über tropfende Touristen und hinterlasse ihr einen Link, zu dem Song, der mir seit Tagen im Schädel steckt – selber schuld, wenn ich anstelle davon, zu schlummern, Cowboy Bebop zum gefühlt tausendsten Mal durchschaue. Danach drehe ich mich samt Bürostuhl einmal um die eigene Achse, weil ich meine Demotivation in einem Post-It-Daumenkino festhalten will und da erspähe ich sie!
„Was machst du denn hier?!“, verlange ich entgeistert zu wissen, doch meine Ukulele spielt die Unschuldige und erklärt ihren widerrechtlichen Aufenthalt im Büro nicht. „Ich habe dir doch gesagt, dass du mich hier nicht stören darfst“, probiere ich meinem Miniatur-Kumpel abermals klarzumachen und erhalte bloß ein dumpfes „Klonk“ zur Antwort, als ich ihren Bauch anstoße. „Also gut, aber nur ganz kurz!“
„Wie wäre es mit einer RL KVP um halb acht?“ Ich überlege etwas länger als notwendig und stimme der vorgeschlagenen Kaffeepause dann zu. Selbstverständlich hat mein Aufenthalt in Schweden, ja, Schweden, dazu geführt, dass ich zwei finnische Worte gelernt und gleich in meinem ganzen Freundeskreis verbreitet habe. Seither heißt die „Kaffeepause“ neu „Kavipause“ und wird zwecks Zeitersparnis mit „KVP“ abgekürzt – für die, welche es interessiert, das zweite Wort war „Postimärki“, dessen Übersetzung zu offensichtlich ist, als dass ich euch damit langweilen würde.
„Passt eigentlich ganz gut, vielleicht kann ich mit besser peitschen, wenn ich eine Deadline habe“, überlege ich laut tippend. Wenn Sarah mich um halb acht anruft, dann bleiben mir noch genau zwei Stunden, um die Story des neuen Gastautoren zu lektorieren und meine eigene für nächste Woche zu schreiben. Und kaum habe ich das gedacht, formt sich schon der altbekannte Kloß im oberen Teil meiner Speiseröhre, genau dort, wo vorhin ein Kaugummi steckengeblieben ist. Ich kann nun nicht behaupten, dass Korrigieren zu den absoluten Top-Five meiner Lieblingsaktivitäten zählen würde, aber es macht mir in der Regel nichts aus und im Prinzip grüble ich gerne hier und da über Möglichkeiten, wie man Sätze noch verschachtelter und unübersichtlicher machen kann, damit der geneigte Leser am Ende vollkommen irritiert nach dem lang ersehnten Punkt sucht, weil ich mich gerne an dem alten Sprichwort orientiere, das die Korrelation zwischen Überzeugungsfähigkeit und Verwirrungsstrategien verdeutlicht. Bei Gastautoren ist das jedoch ein klein wenig anders, die sind sich meine zuweilen pingeligen Korrekturanmerkungen nämlich noch nicht gewöhnt und bei weitem nicht so abgehärtet wie die gute Sarah. Immer wenn ich eine lektorierte Gaststory an den Autoren zur Überarbeitung sende, fühle ich mich in die Grundschule zurückversetzt und sehe die beleidigten Kindergesichter vor mir, die mein Interesse für dieses und jenes mit reiner Wichtigtuerei missverstanden haben. Okay, gut, ein Bisschen Prahlerei war dabei, als ich meinen Kammeraden in der dritten Klasse etwas über Bärtierchen habe berichten wollen, aber nur ein Bisschen – der eindeutige Beweis für die quasi-Reinheit meiner Intention ist, dass Bärtierchen einfach super sind.
Da ich mich gerade nicht mit der Nervosität des Gastlektorats beschäftigen will und ich am Wochenende sowieso viel zu faul bin, mich kirre machen zu lassen, schiebe ich diese Aufgabe auf den allseits beliebten Montagmorgen und öffne die Formatvorlage, um meine eigene Kurzgeschichte zu verfassen.
„Was soll ich nochmal machen?“ Ich habe es schon immer witzig gefunden, dass ich mit einem organisierten Menschen verwechselt werde, der in jeder Lage den Überblick behält, wobei doch gerade mein chaotisches und mitunter verpeiltes Wesen der Grund dafür ist, dass ich meine Arbeit bis ins Kleinste organisieren muss.
„Ach ja“, murmle ich in meinen Bart aus Schal und Pferdeschwanz und seufze tief. Ich soll zu unserem dreihundertsten Story-Geburtstag eine Geschichte über meine Schaffen als Clue Writing Autor schreiben und das am besten lustig, vielseitig und so, dass die Leser einen Eindruck davon bekommen, wie verdammt viel Arbeit wir in unser Projekt stecken. Ich seufze abermals, erhebe mich, marschiere zum Stehpult, wieder zurück und gehe dann erst mal pinkeln. Man sagt ja, Entscheidungen sollte man immer dann treffen, wenn man starken Harndrang hat, aber ich persönlich verzichte gerne auf etwas Effizienz, wenn ich dafür nicht unnötig Urin in meiner Blase spazierentragen muss – zudem bin ich der fixen Überzeugung, dass Toilettenpapier-Origami sich vorteilhaft auf meinen Einfallsreichtum auswirkt.
Nach dem Ausflug ins Bad habe ich so ziemlich alle Register gezogen, um meinen Gang zurück an den PC hinauszuzögern, schlussendlich habe ich dann jedoch einsehen müssen, dass alles Händewaschen und Professor einfangen nicht helfen wird und ich die Kurzgeschichte eh würde schreiben müssen. Das Problem mit dieser Geschichte ist nicht so sehr die Tatsache, dass ich im Grunde nur sehr ungern über mein Privatleben berichte – das lässt sich wunderbar mit vagen Aussagen über meine Abneigung gegen selbstentzündende Fanatiker und meine fehlende Empathie für deren moderate Unterstützer vermeiden, da die Leser sich dann so über meine vermeintliche Intoleranz entrüsten, dass sie die subtilen Hinweise zu meinem Leben einfach so verpassen. Der eigentliche Crux bei der ganzen Geschichte ist eher, dass sich mein Geist sinnlose Strategien zusammenreimt, ohne dass er mich um Erlaubnis gefragt hat. „Strategien“, sage ich, doch die Beschreibung ist halbherzig, denn wer an Selbstvermarktung denkt, kann sich selten den mitschwindenden Implikationen zu seinem Charakter entziehen.
„Welche meiner unzähligen Verhaltens- und Persönlichkeitsmuster wirken auf den Leser einladend und was kann ich über meine Gedanken erzählen, dass ihn zu einem Kommentar oder Like bewegt und wenn wir schon dabei sind, wie kann ich die Eigenschaften, auf die ich besonders stolz bin, am besten inszenieren? Welche sind das überhaupt? Soll ich über Teleksope, Ukulelen und Comics berichten oder doch besser ein linguistisches Bild von meinen Bücherregalen malen und wie kann ich den Leuten da draußen überhaupt klarmachen, wie viel Zeit ich jeden Tag dafür opfere, Anatomie, Perspektive und Farbenlehre zu meistern, damit meine Illustrationen immer besser werden? Was ist mit meiner Gewohnheit, während meinen elend langen Zeichensessionen obsessiv eine Naturwissenschafts-Vorlesung nach der anderen auf Youtube zu hören oder meiner nicht wirklich heimlichen Liebe für britische Fernsehserien und der etwas heimlicheren Angewohnheit, gehörig mit den Augen zu rollen, wenn eine glaubt, sie hätte aufgrund ihrer Genitalien eine Spezialbehandlung verdient? Wahrscheinlich sollte ich alle Facetten meines Lebens komplett zensieren, die auf naheliegende sowie vollkommen an den Haaren herbeigezogene Art provokativ, kindisch, prätentiös oder sonst wie negativ wirken könnten. Dazu gehört vermutlich auch die Gedankenstimme, die mich ständig ermahnt, mich zumindest einigermaßen konform zu verhalten, wenn ich mich in Gesellschaft befinde – ihr wisst schon, die Stimme, die jeder von uns hat und der Grund dafür ist, weshalb wir uns alle für etwas ganz Sonderbares halten.“
„Stopp!“ Der Professor schaut mich perplex an, schüttelt den Kopf und macht sich dann wieder daran, meinen Schreibtisch nach imaginären Nüssen zu inspizieren, während der Doktor Hund, taub wie eh und je, weiterschnarcht. Ich seufze schon wieder, dieses Mal noch etwas tiefer, sodass ich mich beinahe am Pathos verschlucke, stehe nochmals auf und hüpfe sinnlos durchs Büro, während ich Laute von mir gebe, von denen ich glaube, dass ein Känguru sie machen könnte, obwohl ich noch nie ein Känguru gehört habe.
„Oh, you bloody fucking fucktard, just fucking do it, for fucks sake!“ Nein, die Selbstbeschimpfung hilft natürlich nicht, aber ich mag das F-Wort, eigentlich alle Worte, die man aus politischer Korrektheit abkürzen sollte – als könnte man die Bedeutung damit magisch vernebeln. Da es jedoch absolut lächerlich wäre, würde ich mich mit dem N-Wort betiteln, zumal ich selbst im Sommer so aussehe, als könnte ich in Flammen aufgehen, wenn die Sonne meine Haut berührt, bleibe ich beim guten alten F-Wort. Ich setze mich wieder hin und mache mir eine mentale Notiz dazu, dass ich unter gar keinen Umständen etwas darüber schreiben darf, dass ich nur wenig davon halte, kontextlose Worte statt Handeln zu dämonisieren. Weil mir gerade nichts anderes einfällt, schreibe ich derweil den Titel inklusive Archiv-Code in die oberste Zeile meines leeren Dokuments – das Cursorblinken treibt mich sonst endgültig in den Wahnsinn – und entdecke mit geweiteten Augen, dass dies meine einhunderstzweiundvierzigste Kurzgeschichte für Clue Writing sein wird. Mein Verstand, welcher eindeutig zu oft von Kakapos und Roboter phantasiert, ignoriert die Eins und mein Mund verzieht sich zu einem dämlichen Grinsen, ehe ich freudig ausrufe: „Zweiundvierzig!“ Zum Glück gibt sich mein um sich selbst drehender Intellekt mit dieser Antwort zufrieden und konzentriert sich dann auf das Wesentliche. Eine der schönen Seiten daran, ein ewig schwafelnder Klugscheißer zu sein, der eigentlich immer gefangen ist zwischen nagenden Selbstzweifeln und Grössenwahn, ist, dass ich im Notfall immer darauf zurückgreifen kann, mich mit etwas Faszinierendem abzulenken. Das Dumme dabei ist aber, dass ich mir das nicht immer erlauben kann und ich dann meist eine Taktik anwende, deren Einsatz nicht immer strategischen Vorteil bietet. Trotzdem kann ich einfach nicht anders, klopfe dem Hund auf den Brustkorb, sodass er abrupt aufwacht und sich ans Essen erinnert und tippe munter drauflos.
„Screw it“, denkt das von englischen Medien verdorbene neuronale Netzwerk und hofft darauf, dass unsere Leser, genauso wie ich selbst, sich mehr für die Geschichten als für die Autoren interessieren. Mal ehrlich Leute, wen kümmert es schon, wer der Kopf hinter etwas Genialem oder Abscheulichen war – „Was uns Rose heißt, wie es auch hieße …“ würde genauso duften, hätte ein anderer Gärtner sie gepflanzt. Gut, es gibt Ausnahmen, im Spanischen existiert Jesus nämlich tatsächlich.
Hier kommt der wahre Kern des caniden Lockenkopfes: Jeder Versuch zur Selbstbeschreibung ist ultimativ zum Scheitern verurteilt. Sogar wenn ich es schaffen würde, mich, meinen Tag und mein Leben zu meiner eigenen Zufriedenheit zu erläutern – was ich außerhalb von Listen, Nahrungs- und Sportdokumentationen für kaum machbar halte – gibt es sicher einen, der neben mir steht und meint, dass etwas nicht ganz authentisch oder realitätsgetreu ist. Schlussendlich sind wir innerhalb unserer eigenen Wahrnehmung und Relationen isoliert, so ist für mich etwas zu wenig und für den anderen schon zu viel – wer harte Fakten sucht, sollte sich daher besser auf Mathematik verlassen.
Der Text ist noch lange nicht fertig und als ich das Dokument schließe, befürchte ich ganz still und heimlich, dass dieses Werk entweder mein Untergang als ernstzunehmender Autor – aufgrund nichtssagender Langweile – oder aber mein Untergang als ernstzunehmender Autor – aufgrund vielsagender Zensurprobleme – sein wird. Aber wenn nichts anderes, nehme ich mir immerhin fest vor, daraus eine richtige Geschichte und nicht etwa ein egozentrisches Gelaber zu machen, dass früher oder später in eine zusammenhangslose Introspektive abdriftet – nein, das werde ich tunlichst vermeiden! Es ist nun etwas nach sieben Uhr, zu wenig Zeit, um mit der Recherche für mein Interview zu beginnen und an den Grafikspecials kann ich auch arbeiten, während ich mit Sarah telefoniere, also bin ich so mutig und öffne meinen Browser. Google lockt mit einer neuen Animation und will mich dazu verleiten auf mein geliebtes Adobe Flash Icon in der Taskbar zu klicken. Nein, jetzt werden keine Bärte entflammt und keine Käfer in Glühbirnen verwandelt, jetzt wird getwittert was das Zeug hält.
„Erotik, Erotik, Jammern, Erotik, Selfies, Essen, Erotik …“, krächze ich in meiner Rabenstimme vor mich hin, während ich die aktuellen Tweets querlese. Nahrung, Sex und Selbstmitleid scheinen nach wie vor die drei treibenden Kräfte hinter beinahe allem zu sein, denke ich mir und freue mich, als ich einen lustigen Spruch entdecke, der mit etwas anderem als einem sarkastischen Nicken erwidert werden kann. Ich mag die Twittermenschen, sind sie doch stets für alles, aber auch wirklich alles gut – sie heitern auf, unterhalten, zeigen Neues und geben Grund sich über nichts aufzuregen, wenn man sich von echten Ärgernissen ablenken will.
„Heute in der Kategorie ‚Dinge, die man besser für sich behält‘: …“ Kaum habe ich den Tweet in den Äther geschickt, scheint er mir nicht mehr annähernd so clever, wie er hätte sein sollen. „Heute war gestern noch morgen und morgen wird heute gestern sein“, versage ich erneut, meine eingebildete Cleverness zu demonstrieren. Egal, auch dieser Tweet wird vergehen, bloß dass er im Gegensatz zu Frühlingsblumen ewig lange im Netz herumlungern wird und gegen mich verwendet werden kann. Als wollte er mich aus der flüchtigen Paranoia wecken, schmeisst der Wind vor meinem Fenster ein Schild um und bringt mich dazu, auf die Uhr zu sehen. Es ist drei Minuten vor halb acht, also höchste Eisenbahn, pardon, Re 425 – wie mir Sarah mühselig beigebracht hat, sei das die Lok aller Loks, die Überlok sozusagen – mein Kavi nachzufüllen und die andere Clue Writerin anzurufen.
Die Kaffeemaschinengötter waren gnädig mit mir und haben das Getränk herausgerückt, ohne mich vorher um ein weiteres Bohnenopfer zu bitten, also bin ich eine Minute zu früh wieder auf meinem alten Bürostuhl – nach vier Ausflügen in diverse Möbelhäuser habe ich aufgegeben, einen passenden Stuhl für meinen flachen Allerwertesten zu finden und einfach den alten neu bezogen. Die Pixel springen und um punkt Acht klicke ich auf den grünen Hörer, da läutet es auch schon an der Tür.
„Fuck!“, natürlich, was auch sonst?
„Sorry, irgendein Depp klingelt an der Tür. Bbl“, schreibe ich meiner langjährigen Freundin ins Chatfenster, ehe ich aus dem Büro renne und die Wendeltreppe hinunterrutsche, um nachzusehen, wer der besagte Depp ist.