Mark spielte gedankenverloren mit dem weißen Bällchen auf dem Kickertisch, wartete darauf, dass sein Kumpel endlich wieder zurückkommen würde. Viktor war vor beinahe fünfundvierzig Minuten verschwunden, kurz nachdem seine Freundin sie beide scheinbar gut gelaunt begrüßt hatte, und war seitdem nicht mehr aufgetaucht. Mittlerweile mehr genervt als gelangweilt, stöberte Mark mit einem flüchtigen Blick durch die zum Hobbyraum umgebauten Garage, in der Hoffnung er würde irgendetwas finden, das ihm die Wartezeit verkürzen könnte und setzte sich schlussendlich mit einem Rubiks Cube auf die marode Junggesellencouch seines Freundes.
Gerade als er die erste Ebene des verflixten Würfels im Schweiße seines Angesichts geschafft hatte, schlurfte Viktor etwas geknickt durch die Verbindungstür und ließ sich kommentarlos neben ihn in die viel zu weichen Kissen fallen. „Alles okay?“, fragte Mark, obwohl er die Antwort eigentlich gar nicht hören wollte, weil er allmählich die Nase voll hatte von Sams Theater und der Art und Weise, wie sein Freund auf diese lächerlichen Spielereien einging. „Ach, ihr geht es gerade nicht so gut“, seufzte Viktor und schob sich eine der Mandeln, die in einer unförmigen Schale auf dem Beistelltisch lagen, in den Mund. „Natürlich geht es ihr nicht gut!“, dachte sich Mark und kratzte sich ratlos über seine rauen Bartstoppeln. „Würde es ihr ausnahmsweise gut gehen, dann bekäme sie womöglich zu wenig Aufmerksamkeit und das wäre ja eine Tragödie“, hätte er am liebsten gesagt, doch anstelle dessen klopfte er Viktor mitfühlend auf die Schulter und fragte, was denn passiert sei. „Ich weiß es auch nicht so genau“, entgegnete dieser etwas frustriert und erzählte, dass Samantha mit ihrer neuen Arbeitsstelle wohl nicht zufrieden war; Mark schockierte das nicht im Geringsten, bisher hatte sie immer etwas auszusetzen gehabt, wenn es darum ging zu arbeiten. „Wahrscheinlich hat sie sich einfach noch nicht richtig eingelebt“, schlug Mark mit erzwungenem Optimismus vor und lächelte seinen besten Kumpel aufmunternd an. „Ja, sie hat manchmal etwas Schwierigkeiten damit, sich an eine Umstellung zu gewöhnen“, erklärte Viktor etwas heiterer, um nur wenige Sekunden danach hastig hinzuzufügen: „Das ist kein Vorwurf, sie kann ja nichts dafür!“ So war es immer, wenn es wieder einmal Probleme mit Sam gab, Viktor präsentierte immer sofort eine Entschuldigung für ihr Verhalten, egal wie unsinnig es sein mochte.
Auf Außenstehende wirkt eine frische Liebesbeziehung wohl immer etwas seltsam und als Viktor vor einigen Jahren angefangen hatte, schon nach wenigen Treffen von Liebe zu sprechen, hatte sich Mark vorgenommen seine übliche Skepsis zurückzustellen und sich für seinen Kumpel zu freuen. Er hatte gewusst, wie wichtig es ihm gewesen war jemanden zu finden, mit dem er sein Leben teilen konnte und so wie es den Anschein machte, ging es Samantha ähnlich. Obwohl diese gemeinsame Sehnsucht nach Nähe für Mark niemals ausreichend gewesen wäre, um sich ganz auf einen anderen Menschen einzulassen, so akzeptierte er, dass Sam seinem Freund glücklich machte. Schlussendlich konnte zu diesem Zeitpunkt niemand wissen, ob aus dieser Zweckbeziehung vielleicht doch noch so etwas wie aufrichtige Liebe entstehen konnte und Mark hoffte inständig, dass sein Misstrauen unbegründet bleiben würde. Doch da Mark ein aufmerksamer junger Mann war, hatte es nicht lange gedauert, bis er in all den süßlichen Erzählungen seines verliebten Freundes erkannte, wie unsicher und manipulativ sich Sam ihm gegenüber verhielt und so versank er zusehends tiefer in einem Dilemma: Sollte er sich ehrlich verhalten und Viktor sagen, was er von Samantha Reichenbach hielt, oder aber sollte er einfach loyal an der Seite seines Freundes stehen und seine Entscheidung nicht weiter hinterfragen? Mark entschied sich für letzteres und ertrug schweigend und zustimmend nicht nur die kitschigen, sondern auch die äußerst fragwürdigen Geschichten, Himmel, er ertrug sogar Sam! Er wusste nicht so genau, ob ihn das nun zu einem guten Freund, oder aber zu einem feigen Prokrastinator machte.
„Halli Hallo.“ Sams verstellte, helle Stimme schlug beinahe schmerzhaft auf Marks Trommelfell, als sie durch die Verbindungstür strauchelte, um ihre Arme sogleich besitzergreifend um ihren Freund zu schlingen. Peinlich berührt blickte er durch das Garagentor nach draußen und studierte die satte Farbe vom Gras, das neben der Auffahrt wuchs, als Sam mit ihrer Babysprache versuchte, Viktor davon zu überzeugen, in die Küche zu gehen und ihnen etwas Schmackhaftes zuzubereiten. Natürlich willigte er ein und Mark fand sich in der unangenehmen Situation wieder, alleine mit ihr auf der Couch zu sitzen. „Und, Mark, wie geht es dir denn so?“, begann sie und der Angesprochene suchte angestrengt nach einer Ausrede, die es ihm erlauben würde, sich dem Gespräch höflich zu entziehen. „Ach“, entgegnete er, genervt weil ihm keine Lösung für sein vorübergehendes Luxusproblem einfallen wollte, währendem er erfolglos versuchte den hohen, nasalen Tonfall seines Gegenübers zu ignorieren. „Arbeitest du immer noch für den Senat?“, fragte Samantha, nur wenig darum bemüht ihre Abneigung gegen seinen Beruf und sein Engagement für die homosexuelle Gemeinde zu verheimlichen.
Vielleicht lag es daran, dass man irgendwann beginnt seine Freunde zu idealisieren, nicht nur weil man sie mag, sondern auch weil man sich besser fühlt, wenn man tolle Freunde hat, aber er konnte einfach nicht verstehen, was Viktor, ein selbstständiger, intelligenter Mann, in dieser Person sah. Sie war unsicher und egozentrisch, obwohl ihr manipulatives, nach Anerkennung strebendes Verhalten für Mark offensichtlich war, schaffte sie es trotzdem immer wieder, mit ihrer Opferhaltung den Beschützerinstinkt in Viktor wachzukitzeln. „Wie ist die Zusammenarbeit mit Homos?“, fragte sie unverblümt und kicherte dann sofort verlegen, als sie die Zornesfalte auf seiner Stirn entdeckte. „Oh, ihr nennt das sicher nicht so. Frauenliebe, ist das so richtig?“, fügte sie mit fehlgeschlagenem Sarkasmus an und plötzlich, aus dem Nichts, fiel Mark ein wie er sein Dilemma endlich würde lösen können.
Aufgeregt setzte er sich aufrecht hin, rückte das Kissen hinter seinem Rücken etwas nach oben und sagte grinsend: „Die erste REM-Phase setzt in der Regel erst neunzig Minuten nach dem Einschlafen ein.“ Sam wirkte irritiert und wartete darauf, dass er ihr irgendeinen sinnlosen Fakt erklären würde. „Viktor sagt, dass du oft direkt nach dem Einschlafen Albträume hast, doch wir beide wissen, dass das nicht stimmt, dass du nur so tust. Erklär mir doch bitte, was du damit bezwecken willst?“ Mark bemerkte, wie seine Handflächen feucht wurden und die bevorstehende Konfrontation machte ihn so nervös, dass ihm ein Kloß im Hals stecken blieb. „Was willst du damit sagen?“, antwortete sie und er hätte am liebsten laut loslachen wollen, als er bemerkte, dass er sie anscheinend aus dem Konzept gebracht hatte; sie vergaß sogar ihre Stimme zu verstellen. „Ich will damit sagen, dass du Viktor etwas vormachst und das nicht nur, wenn du angeblich schläfst.“ Amüsiert beobachtet er wie ihre Gesichtszüge entglitten und sie ihn erst schockiert, dann wütend anstarrte. „Na gut, Sherlock, dann erkläre mir doch bitte, was du dagegen tun willst!“ Nun war er es, der verwirrt war, denn er hatte eigentlich damit gerechnet, dass sie alles leugnen würde. Trotzdem freute es ihn, dass sie wenigstens jetzt ehrlich war und er endlich das aussprechen konnte, was ihn die letzten Jahre so zermürbt hatte:
„Es mag sein, dass du Viktor etwas vorspielen kannst, aber ich sehe dich und ich war mir nicht sicher, ob ich mit ihm darüber sprechen soll, aber weißt du was? Irgendwann wird er es leid sein sich ständig Entschuldigungen für dich auszudenken, irgendwann wird er erkennen, dass es besser ist alleine zu sein, als sich ständig selbst einzureden man wäre glücklich mit jemandem, der im Grunde nur auf sich selbst achtet. Deine Scharade wird fallen, du wirst fallen und wenn der Tag kommt, werde ich an seiner Seite stehen und ihm dabei helfen, eine Frau zu finden die es nicht nötig hat, ihn mit plumpen Manipulationsversuchen an sich zu binden.“ Samantha saß noch immer schweigend vor ihm und brauchte einige Augenblicke, um die Angst aus ihrem Gesicht zu verscheuchen und einen herablassenden Ausdruck herbeizuzaubern. „Du spinnst doch!“, donnerte sie laut, bevor sie aufgebracht aus der Garage stampfte und zu ihrem Freund in die Küche ging.
Mark wusste, dass sie ihm alles erzählen würde und er wusste auch, dass er Viktor in eine unmögliche Lage gebracht hatte; nun war er es, der den armen Kerl in ein Dilemma gestoßen hatte. Mark wusste nicht, wie sich Viktor entscheiden würde, ob er so sehr an Sams Scharade hing, dass er sich erneut eine Ausrede für sie ausdenken würde, aber Mark wusste, dass sein Kumpel ihr Verhalten in der letzten Zeit immer öfter hinterfragt hatte, dass seine Entschuldigungen ihn selbst immer weniger überzeugten. Und sogar wenn er Sam weiterhin würde ertragen müssen, er würde seinen Freund nicht verlieren – aber er würde heute wohl kein Abendessen bekommen.